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Lesereien

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Insgesamt 63 Bewertungen
Bewertung vom 18.02.2024
Climate Action
Linker, Christian

Climate Action


sehr gut

In der Bahn wird man als Lesender auf ein Mädchen aufmerksam. Ihr Blick ist intensiv. Als Kontrolleure einsteigen, scheint sie in Panik zu geraten, rempelt einen an und steig aus. Dann merkt man, dass man plötzlich ihm Besitz von Paulines Notizbuch ist. Sie hat es einem zugesteckt.
Zuhause fängt man an zu lesen und taucht in Paulines Geschichte ein. Vor allem in all das, was ihr in den letzten Wochen passiert ist. Denn Pauline ist zur Klimaaktivistin geworden, zusammen mit ihren Freunden Sadiq und Vic. Zunächst zerstechen sie Reifen von SUVs, dann verstecken sie Zettel in billigen T-shirts, auf denen auf die Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen auf die Umwelt aufmerksam gemacht wird. Und schließlich widmen sie sich ganz der Firma von Vics Eltern, die ihr Geld durch Fast Fashion verdienen.

Plötzlich ist man als Lesender selbst Teil der Geschichte und muss Entscheidungen treffen: Will man Pauline und ihre Freunde in ihren Vorhaben unterstützen oder möchte man sie doch lieber an die Polizei verraten? Der zweite Teil des Buches entwickelt sich ganz individuell auf Grundlage der Entscheidungen das Lesenden.

Eine spannende Geschichte wird also mit dem eigenem Aktivwerden verbunden. Die Lesenden müssen sich damit auseinandersetzen, wie weit sie für den Klimaschutz gehen würden. Es wird ihnen kein Weg vorgegeben, alles ist möglich, aber jede Entscheidung hat natürlich auch ihre ganz eigenen Konsequenzen und führt zu einem anderen Romanende.

Kleine Abzüge gibt es dafür, dass ich “mein Ende” etwas abrupt fand.

Aber insgesamt verbindet “Climate Action” eine ernstes Thema mit einem abwechslungsreichem, interaktivem Leseerlebnis und ist deshalb für Jugendliche empfehlenswert.

Bewertung vom 24.01.2024
Thieves' Gambit Bd.1
Lewis, Kayvion

Thieves' Gambit Bd.1


sehr gut

Ross Quests Familie ist eine legendäre Diebesfamilie. Kein Wunder also, dass auch sie schon in jungen Jahren an den großen Diebstählen teilnimmt. Doch bei einem Auftrag auf einer Yacht läuft zum ersten Mal etwas schief und Ross wird von ihrer Mutter getrennt. Jetzt muss sie ihre Mutter freikaufen und um die hohe Summe aufbringen zu können, gibt es nur einen Weg: Ross muss am Thieves’ Gambit teilnehmen. Einem Spiel, bei dem am Ende nur der beste Dieb gewinnen kann.

Die Beschreibung des Buches hält, was sie verspricht: Eine temporeiche Geschichte mit einer originellen Idee und einer Protagonistin, die einem ans Herz wächst. Der Plot erinnert an Filme wie Ocean’s Eleven oder auch an die Tribute von Panem-Reihe (auch, wenn das Buch an Letzteres nicht ganz heranreichen kann). Auf jeden Fall ist es ein kurzweiliges Lesevergnügen und zur Unterhaltung bestens geeignet.

Bewertung vom 04.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


sehr gut

Eine Zugstation. Malma. Dahin führen die Wege von Harriet, Oskar und Yana. Sie führen zum Unausgesprochenen, zu dem, was zwischen den einzelnen Familienmitgliedern steht und Distanz zwischen ihnen schafft.

Alex Schulman erzählt in "Endstation Malma" von Familie und von Eltern-Kind-Beziehungen, die sich fernab von Klischees und Idealen bewegen. Vielmehr stehen das Dysfunktionale und Schmerzhafte im Vordergrund. Schulman zeigt, was Familie aus uns machen kann, wie sich Lieblosigkeit und fehlende Wärme und Nähe in uns festsetzen und unser gesamtes Leben mitbestimmen können.

"Wann weiß man, dass man ein Kind verloren hat? Wahrscheinlich gibt es keinen festen Zeitpunkt, so etwas geschieht schrittweise, kaum spürbare, merkwürdige kleine Verschiebungen."

Eigentlich mag ich Geschichten nicht, in denen es um Familiengeheimnisse geht. Aber Alex Schulmans "Die Überlebenden" hatte mich so begeistert, dass meine Neugier groß war.

Und Schulman kann erzählen! Das zeigt sich auch in diesem Roman. Seine Figuren sind vielschichtig, die Konstellationen zwischen ihnen bestehen aus zahlreichen Graustufen. Trotzdem hat der Roman teilweise etwas konstruiert auf mich gewirkt. Besonders die Verbindungen und Übergänge zwischen den Zeitebenen fand ich zu romanhaft. Dafür nimmt die Geschichte am Ende aber Fahrt auf und das Zusammenfügen der Puzzleteile ist für mich wieder sehr stimmig gewesen.

Eine tiefsinnige und nachdenklich stimmende Lektüre also, die sprachlich überzeugt. Schulmans "bisher bestes Buch", wie auf der Rückseite abgedruckt, ist der Roman jedoch für mich nicht.

Bewertung vom 21.09.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


sehr gut

Wie wäre es, wenn man alle seine Social Media-Profile löschen würde? Oder noch radikaler: Sich vom Internet abwenden würde? Genau das tut die Protagonistin in Jennifer Beckers Roman "Zeiten der Langeweile". Aus der Angst davor, dass sie gecancellt werden könnte oder dass man sie aufgrund alter Artikel und Beiträge bloßstellen könnte, löscht sie allmählich alles über sich aus dem Internet.

Was sich zunächst als spektakulär anhört, entpuppt sich in der Realität eher als unaufregend und langwierig. Auf ihre Abschiedsnachricht reagiert kaum jemand, ihre Einladung, Signal runterzuladen, nimmt nur eine Freundin an und der Prozess, einen alten Blogeintrag aus der Google Suchergebnisliste zu löschen, dauert viel länger als gedacht.

Was als impulsive Aktion beginnt, nimmt plötzlich immer größere Ausmaße an. Während die Protagonistin zu Beginn noch die Streamingdienste nutzt, sich Youtube-Videos ansieht, auf Signal chattet und Wikipedia-Artikel liest, wird sie mit der Zeit immer radikaler in ihrer Abkehr von der digitalen Welt.

Und plötzlich ist da Zeit für die Dinge, die sie seit Jahren nicht mehr gemacht hat: Bücher in einem richtigen Buchladen kaufen zum Beispiel, Zeitungen lesen und jeden Tag Sport machen.

Gleichzeitig leidet ihr Sozialleben, ihre Integration ins Alltagsleben. Immer öfter fällt ihr auf, dass sie ausgegrenzt wird, von Personen ebenso wie von Strukturen. Sie versteht Witze nicht mehr, ist nicht mehr up to date, ist in mancherlei Hinsicht nicht mehr Teil der Welt.

Der Roman hat mir als Leserin vor Augen geführt, wie abhängig wir vom Internet sind. Und das in jeder Hinsicht, sei es Fernsehen, Musik, Banking, Wissen, Dating, Kommunikation, usw. Sich davon vereinnahmen zu lassen ist mehr als leicht, sich davon loszulösen überhaupt nicht. Becker stellt das mit ihrem Roman auf anschauliche Weise dar.

Gleichzeitig habe ich den Roman nicht als ein Plädoyer für eine komplette Abwendung vom Internet verstanden. Er verherrlicht keine Extreme. Stattdessen zeigt er, wie schnell auch der digital Detox krankhafte Formen annehmen kann.

Für mich ein gelungenes Debüt und ich bin gespannt auf mehr von Jenifer Becker!

Bewertung vom 14.09.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


ausgezeichnet

Die amerikanische Wildnis zu Zeiten der ersten Siedler. Ein Mädchen flieht. Vor was, das weiß man zunächst nicht. Sie ist alleine im Wald, hat Angst vor Männern, die man sicher auf sie gehetzt hat, friert und hungert. Und doch schlägt sie sich in dieser unwirtlichen und feindseligen Wildnis durch. Immer mit der Hoffnung, dorthin zu kommen, wo die Franzosen ihre Siedlungen haben. In der Hoffnung also auf ein besseres Leben.

Es scheint ja ein bisschen so, als wäre das ein literarischer Trend: Mädchen in der Wildnis, die sich alleine durchschlagen. Aber mit diesem Roman setzt sich Lauren Groff von der Masse ab. Denn sie hat eine Geschichte geschrieben, die zwar ein Mädchen auf ihrer Flucht durch die Wildnis begleitet und die doch so viel mehr ist als nur das.

Zunächst bricht der Roman mit jeglicher Romanitisierung des Lebens der ersten Siedler. Der amerikanische Traum, der hier seine Anfänge nahm, das Leben in Freiheit und Reichtum und die "City upon a Hill" wird als elendes, von Krankheiten, Siechtum, Armut und Hunger geplagtes Leben entlarvt.

Die Ankunft in der neuen Welt liest sich beispielsweise so: "...und trafen schließlich mit letzter Kraft am Ort ihrer Bestimmung ein, der Siedlung am James River, benannt nach ihrem König. Dort jedoch lag ein dichter, widerliche Rauch über dem Fort, und die Männer, die herauskamen und sie anstarrten, standen wie bleiche Skelette am Ufer. Aus ihren Mündern stieg noch mehr Rauch auf, Tabakrauch, der den beißenden Hunger lindern sollte, denn es herrschte bereits Mangel, wohin man blickte."

Der Fokus liegt dabei auf dem Leben der Frauen, die es besonders schlimm trifft, die keinerlei Freiheiten haben und die nicht selten ein Leben als Sklavinnen unter den Natives einem Leben unter den Siedlern vorziehen. Gleichzeitig ist die Angst vor den Männern ein roter Faden. Vor Vergewaltigung, vor Schmerz. "Die weite Wildnis" ist auch ein Buch darüber, was es hieß und was es heißt, in patriarchalen Strukturen als Frau zu (über-)leben.

Und schließlich lässt sich der Roman als ein Kommentar über unseren Umgang mit der Natur lesen. Dafür bricht trennt er zunächst Natur von Religion und mit Dogmen, die die Siedler in die neue Welt getragen haben und die fundamentaler Bestandteil der Besiedlung waren. ("Macht euch die Erde untertan" usw.).

"Keine Erlösung, denn Gott, den Erlöser, gab es nicht"

Der Roman ist für mich eine Absage an Gott, aber nicht an den religionsfreien Glauben. Er ist eine Ode an das Leben, an den Respekt vor der Natur und gleichzeitig keine Verherrlichung an das Leben des Menschen in der Natur.

Unbedingt hervorgehoben werden muss auch die Sprache, die so gewandt ist und in die man mit Freude eintaucht. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst der Übersetzerin Stefanie Jacobs.

Ein unglaubliches Buch. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 14.09.2023
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


gut

Ein Dorf schrumpft. Pina und Lobo, die beiden Dorfkinder, sind die einzige Hoffnung der Bewohner. Doch auch sie wachsen beide nicht weiter. Und dann sind da noch die anderen Probleme: Die leere Dorfkasse zum Beispiel oder die Schule, die schließen musste. Jetzt gibt es nur noch die Hecke, das Herzstück des Dorfes, die von allen gepflegt wird und sogar Touristen anlockt.

Während die Dorfbewohner gegen das Verschwinden ihres Dorfes kämpfen, ist Dora in der Arktis und beschäftigt sich dort mit dem Schmelzen der Eisberge.

Leider konnte mich der Roman nicht vollständig überzeugen. Das Erzählte kam mir zu lose aneinandergereiht vor. Auch der Erzählstil war für mich etwas zu langatmig, hat sich zu sehr im Kreis gedreht. Mir hat Handlung und Substanz gefehlt.

Das war deshalb so schade, weil der Roman Themen behandelt, die eigentlich viel Potenzial haben und die von der Literatur unbedingt aufgegriffen werden sollten. Hier ist dieses Potenzial jedoch leider nicht vollständig ausgeschöpft worden.

Bewertung vom 15.08.2023
Weil da war etwas im Wasser
Kieser, Luca

Weil da war etwas im Wasser


gut

Irgendwo in den Tiefen des atlantischen Ozeans berührt ein Riesenkalmar ein Unterwasserkabel. Und plötzlich fangen seine Arme an zu reden. Sie erzählen vom Leben in der Tiefsee, davon, was es bedeutet, ein Kalmar zu sein. Sie erzählen aber auch von menschlichen Schicksalen, widmen sich Jules Verne ebenso wie einer Praktikantin auf einem Frosttrawler. Was dabei entsteht ist ein Mosaik an Lebensformen und an Verknüpfungen zwischen Lebewesen.

Eins zunächst mal vornweg: Erzählende Tentakel, das kann auch schnell schief gehen. Nicht selten liest man Bücher aus der Perspektive von Tieren, die einfach nicht gelungen sind. Bei Luca Kieser ist das glücklicherweise nicht der Fall. Der Anfang des Romans hat mich in seinen Bann gezogen und ich fand die Reise in die Tiefen des Meeres und in das Bewusstseins eines Lebewesens, über dessen Denken und Fühlen wir so wenig wissen, faszinierend.

Aber im Mittelteil leidet der Roman dann unter einem Zuviel an Figuren und Perspektiven. Er ist überfrachtet mit Erzählsträngen, Zeitensprüngen und Informationen. Es entsteht ein Gewirr, in dem sich vieles verliert. Vor allem leider das Potential dieses eigentlich so vielversprechenden Debüts.

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Bewertung vom 15.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Die erste Reise in den Iran, zur unbekannten Familie. Nilufar Karkhiran Khozani ist als Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters in Deutschland aufgewachsen. Der Vater verließ die Familie als sie noch ein Kind war und kehrte in den Iran zurück. Nun drängt er zu einer Reise. Sie soll ihn besuchen, die neue Ehefrau und die Verwandten kennenlernen. Eine gleichzeitig Einblicke in ein Land der Gegensätze erhalten.

Die Autorin verbindet in diesem autobiographischen Romane unterschiedliche Elemente und Erfahrungen miteinander. Ausgehend von der Reise in den Iran dringt sie zu ihren eigenen Erinnerungen die Kindheit und Jugend in Deutschland, aber auch an die Erlebnisse des Vaters vor.

Darüber hinaus ist der Roman die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung. Die Frage nach Schuld und nach Verantwortung steht im Raum, das Unausgesprochene: „Warum bist du gegangen?“.

Am eindringlichsten waren für mich jedoch die Erfahrungen von Ausgrenzung, die sowohl der Vater als auch Nilufar Jahrzehnte später erleben und die sich wie ein leuchtend roter Faden durch den Roman ziehen. Es fängt mit dem Namen an: Den Vater nennen sie im hessischen Dorf einfach Karl anstatt Khosrow. Und in den Behörden weiß man nicht recht, wie man seinen Nachnamen ins lateinische Alphabet übertragen soll. Er und sein Bruder müssen so später ihre Nachnamen unterschiedlich schreiben. In der Hochschule will man ihn um seinen Abschluss bringen und er muss dafür kämpfen, dass er ihn überhaupt bekommt.

"Warum nicht bei Siemens bleibe. Arbeiten, etwas Wohlstand vielleicht, ein guter zuverlässiger Angestellter sein. Rentenversicherung. Erfolg haben, gerade so viel wie vorgesehen. Geliehenes Glück, gegönnt von Menschen, die den Hörer auflegen, wenn sie einen Akzent am Telefon hörten."

All das setzt sich fort, wenn Nilufars Lateinlehrein fragt, woher sie so gut Deutsch könne, wenn Vermieter auflegen, wenn sie den ausländischen Namen hören und wenn sie in Behördenbriefen mit „Herr“ angesprochen wird.

Von all dem erzählt Khozani in klaren, einprägsamen Bildern. Der Roman ist Zeugnis ihrer Beobachtungsgabe und ihres Talent, Zeiten, Menschen und ihre Erlebnisse so miteinander zu verbinden, dass sie ein eindrucksvolles Gesamtbild ergeben. Für mich ein lesenswertes Buch!

Bewertung vom 08.08.2023
Nincshof
Sebauer, Johanna

Nincshof


ausgezeichnet

Ein Dorf im Burgenland: Nincshof. Ein Dorf "mit einer Handvoll Häuser, zusammengerottet am Ende von Österreich". Jeder kennt jeden. Und jeder weiß alles vom anderen. Kaum ein Fremder verirrt sich je nach Nincshof.

Doch einigen Anwohnern ist selbst das nicht genug. Sie wollen, dass ihr Dorf vergessen wird. Dass Nincshof regelrecht von der Landkarte verschwindet. Um das zu erreichen, gründen sie den Oblivismus.

"Wir wollen, dass man Nincshof vergisst. [...] Komplett vergisst. Keiner soll sich mehr erinnern an unser Dorf."

Und die Oblivisten tun alles, um die Freiheit ihres Dorfes zurückzuerlangen: Sie löschen Wikipedia-Einträge, vernichten Lexika-Seiten in der Bibliothek, beseitigen Ortsschilder und entführen nicht zuletzt sogar eine schwangere Ziege.

Doch die Feinde der Dorffreiheit lauern überall und schließlich müssen die Oblivisten sich die Frage stellen, wie weit sie gehen können, gehen wollen, um für das zu kämpfen, was ihnen so am Herzen liegt.

Johanna Sebauers Roman ist eine unterhaltsame Lektüre, die an all diesen verregneten Sommertagen besonders viel Spaß gemacht hat. Schnell wachsen die urigen Dorfcharaktere einem ans Herz. Da ist zum Beispiel die Erna, die nachts alleine Poolparties im Garten ihrer Nachbarin feiert, mit der sie zerstritten ist. Oder Silvano, der eigentlich Städter ist, aber sich gleich als Nincshofer fühlt und seine Irrziegen (noch so ein grandioser Einfall Sebauers) mehr liebt als alles andere.

Diese Komposition aus schrägen Figuren, geistreichen Wendungen und Einfällen und einer Geschichte, die die Grenzen zwischen Legende und Wahrheit verwischt, ist absolut gelungen.

Ein kluger, geistreicher und origineller Dorfroman!

Bewertung vom 08.08.2023
Mattanza
Fabiano, Germana

Mattanza


ausgezeichnet

Er ist ausgeblieben. Der Enkelsohn, der Erbe, der Raìs. Der, auf den alle gewartet hatten. Der, der den traditionellen Thunfischfang auf der Insel anführen muss. Stattdessen: Ein Mädchen. Nora. Doch kann ein Mädchen die Aufgaben eines Raìs übernehmen?

Aus Mangel an einer Alternative und weil der Raìs immer aus der selben Familie stammen muss, wird entschieden, ja. Und so wächst Nora in einer Welt auf, in der Traditionen, Regeln, Rituale, Aberglaube, aber gleichzeitig auch die Beziehung zur Natur und zum Meer ihr Leben bestimmen.

Es ist ein Leben, dass sie an die Insel bindet. Als Raìs ist sie eine Art Oberhaupt, trifft Entscheidungen und trägt Verantwortung. Ihr Schicksal ist in vielerlei Hinsicht fremdbestimmt. Außerdem muss sie sich behaupten, muss ihrer Rolle gerecht werden, muss all die Männer, die an ihr gezweifelt hatten, eines Besseren belehren. Germana Fabianos Protagonistin ist eine faszinierende Figur, weil sie sich zwischen Stärke, Anderssein, Einsamkeit und Sehnsüchten bewegt, weil sie nicht in grellen Tönen gezeichnet ist und trotzdem hervorsticht.

Und dann ist da noch die andere Protagonistin, nämlich die Insel, auf der die Geschichte spielt, Katria. Irgendwo bei Sizilien. Es ist ein Ort, an dem noch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Traditionen und Zusammenhalt das Leben aller prägen. Doch Veränderungen lassen nicht lange auf sich warten. Tourismus, Überfischung, Globalisierung und die ersten Flüchtlingsboote sind Anzeichen dafür, dass nichts so bleiben wird, wie es war.

"Mattanza" ist ein von Anfang bis zum Ende stimmiger Roman. Und das sowohl in inhaltlicher als auch in stilistischer und ganz besonders in sprachlicher Hinsicht. Germana Fabiano schafft etwas, was nicht vielen Autor*innen gelingt: Alles harmoniert miteinander, jedes Wort ist an seinem Platz, nichts ist zu viel, nichts zu wenig. Für mich ist dieser Roman eine wahre Entdeckung.

Last but not least: Eine grandiose Übersetzung von Barbara Neeb und Katharina Schmidt!