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Eternal-Hope
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Österreich

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 30.10.2024
Die Nacht der Bärin
Mohn, Kira

Die Nacht der Bärin


ausgezeichnet

Vor kurzem habe ich das Buch "Die Nacht der Bärin" von Kira Mohn fertig gelesen und es schwingt noch immer stark bei mir emotional nach. Es regt zu Gedanken an über Familien, Gewalt, Traumata und die transgenerationale Weitergabe davon. Darüber, ob und in welchem Ausmaß Eltern es ihren Kindern schulden, offen über die eigene Familiengeschichte mit all ihren Problemen zu reden, auch deshalb, damit sich destruktive Muster vielleicht nicht so leicht völlig unerkannt weitergeben und fortsetzen können.

"Die Nacht der Bärin" spielt auf zwei Zeitebenen. Auf der einen erleben wir die 26-jährige Jule in der heutigen Zeit. Jule ist in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen, Vater und Mutter führen eine harmonische Beziehung und auch sie hat als Kind bei ihnen Geborgenheit erlebt und kann auch als Erwachsene bei Schwierigkeiten jederzeit ins Elternhaus zurückkehren und dort Schutz und Unterstützung bekommen. Über ihre eigene Kindheit und Vergangenheit hat die Mutter aber nie viel erzählt, auch hat Jule weder Großeltern mütterlicherseits noch sonstige Verwandte von der Seite ihrer Mutter jemals kennen gelernt. Von der Oma mütterlicherseits weiß sie nur durch deren Briefe und Postkarten, sie hat sie nie getroffen.

Jule ist seit drei Jahren in einer Beziehung mit Jasper und dachte bis kurzem, selbst ebenfalls in einer guten Beziehung zu sein. Bis letztlich ein Streit zwischen Jasper und ihr völlig eskalierte und Jasper körperliche Gewalt gegen sie anwandte, in einem Ausmaß, dass Jule noch Tage danach Schmerzen verspürt. Danach ist Jule zu ihren Eltern geflüchtet und seitdem bombardiert Jasper sie mit Kurznachrichten und Anrufen und versucht, sie zu überzeugen, ihm noch eine Chance zu geben, da es ja nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen sei und ihm so leid tue. Jule weiß nicht, was sie tun soll... auf der einen Seite sind da die Erinnerungen an drei Jahre weitgehend schöne Beziehung, soll sie die wegwerfen? Auf der anderen Seite völlig überraschende heftige körperliche Gewalt gegen sie.

Jule befindet sich also bei ihren Eltern, als die Mutter, Anna, auf einmal einen Anruf erhält, dass ihre eigene Mutter, Jules Oma, die diese nie kennen gelernt hat, verstorben sei. Anna wirkt völlig verstört und Jule wird klar, dass es hier so einiges an Familiengeschichte zu geben scheint, von der sie nichts weiß. Sie überredet die Mutter, mit ihr gemeinsam zum Haus der verstorbenen Oma zu fahren und hofft auf Antworten.

Das ist der Beginn des ersten Erzählstranges. Im zweiten Erzählstrang, vor über 30 Jahren, erleben wir die Kindheit von Jules Mutter Anna und deren Schwester Maja mit. Diese Kindheit ist von heftiger familiärer Gewalt geprägt, der Vater verprügelt regelmäßig sowohl seine Frau als auch die beiden Töchter, jedes kleinste Vergehen wird mit drakonischen Maßnahmen vergolten. Besonders Anna, die ältere der beiden Mädchen, eine starke Persönlichkeit, die sich nicht brechen lassen will, trifft es besonders heftig. Und die Mutter sitzt daneben und schaut zu, nie schützt sie ihre Töchter. Nur die Verbindung zur Natur, zum Wald und zum See, und ihre innige Schwesternbeziehung mit einer gemeinsamen Fantasiewelt geben den Mädchen ein bisschen Halt, erstmal zumindest.

Ich habe dieses Buch atemlos gelesen. Es ist unglaublich gut geschrieben, man merkt, dass die Autorin ihr Handwerk versteht, sowohl, was den literarischen Aspekt und die Handlungs- und Figurenentwicklung angeht, als auch so authentisch, wie sie das Thema psychologisch angeht. Hier schreibt eine, die weiß und nachfühlen kann, wie es sich anfühlt, Opfer, Täter oder Zeuge familiärer Gewalt zu sein. Eine, die genau weiß, wie sich diese Dynamik schrittweise verstärkt und die Opfer immer mehr entmächtigt, sodass sie sich am Ende in einer sehr hilflos erscheinenden Situation befinden. Wie perfide die Täter dabei nicht nur die körperliche Integrität, sondern auch auf der psychischen Ebene den Selbstwert der Opfer völlig zerstören - bezeichnenderweise beginnen die Kapitel oft mit Aussagen des Täters wie "Deine bescheuerten Freundinnen haben in diesem Haus nichts zu suchen" oder "Wenn du mich lieben würdest, müsste ich dir nicht ständig alles sagen".

Es ist kein "schönes" Buch, dafür ist das Thema zu heftig, aber es ist ein sehr gutes Buch.

Absolute Leseempfehlung für alle, die nicht nur ein spannendes Buch lesen möchten, sondern vor allem auch bereit sind, sich tiefgehend und authentisch mit dem Thema familiäre Gewalt, Traumatisierung und transgenerationale Weitergabe von familiären Mustern zu beschäftigen.

Bewertung vom 30.10.2024
Die große Sehnsucht
Sydow, René

Die große Sehnsucht


ausgezeichnet

"Die große Sehnsucht" von René Sydow ist ein humorvoll-nachdenklich machender Coming-of-Age-Roman, in dem wir drei junge Männer kurz vor dem Abitur und deren Umfeld durch die letzte Zeit in der Schule begleiten.

Es handelt sich um Raphael, genannt Rabe, der immer in schwarz gekleidet ist und von einer Karriere als Drehbuchautor träumt. Weiters Thomas, genannt Fete, von allen als sehr cool eingeschätzt, ein Mädchenschwarm und bei jeder Party dabei. Und dann schließlich der etwas schüchterne, zurückhaltende Michael, der bei seiner alleinerziehenden Mutter lebt und seinen Vater nicht kennt. Wir befinden uns in den 1990er-Jahren, in einer Zeit noch ohne Smartphones und in den Anfängen des Internets, aber dafür mit großen Träumen und Visionen einer wunderbaren Zukunft.

Die drei träumen von der Zukunft, verlieben sich in Mädchen, beginnen erste zaghafte Beziehungsversuche, legen sich mit Lehrkräften an, gehen auf Partys und vieles mehr. Es ist ein authentisches Bild dieser Lebensphase, das hier mit sehr viel Leichtigkeit und Humor gezeichnet wird, und gleichzeitig bleibt auch die Ernsthaftigkeit nicht aus und es kommen auch diverse herausforderndere Themen der Jugendzeit vor, etwa Mobbing.

Die drei jungen Männer selbst sind sehr sympathisch und es verbindet sie eine wunderschöne Freundschaft. Das Buch lädt dazu ein, sie beim Erwachsenen-Werden zu begleiten und mit ihnen über die Träume nachzudenken, die man selbst als Jugendliche/r hatte und was aus ihnen geworden ist. Einen kleinen Teil im Buch nehmen auch die Eltern der Jugendlichen und deren Perspektive auf das Leben ein, dieser Teil steht aber keineswegs im Vordergrund, zu 90 % geht es klar um die Jugendlichen selbst und deren Erfahrungswelt.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Ich war selbst in den 1990ern Kind und dann Jugendliche und es hat mich beim Lesen ein bisschen in diese Zeit zurückversetzt. Auch mochte ich die sehr sympathischen Hauptcharaktere und ihre Freundschaft sowie den humorvollen Schreibstil sehr.

Bewertung vom 28.10.2024
Die Wunder des Kosmos
Weber, Phi

Die Wunder des Kosmos


ausgezeichnet

Frischer neuer Blick auf die Archetypen hinter den Sternzeichen:

"Die Wunder des Kosmos" von Phi Weber ist ein sehr hochwertig gestaltetes Buch mit dickem Einband, robusten Seiten, übersichtlicher Gliederung und ansprechenden Farbbildern. Es ist also schon von der äußeren Gestaltung her ein Buch, das man gerne in die Hand nimmt und mit dem man sich gerne beschäftigt.

Astrologie ist ein Thema, das so einige fasziniert, aber von anderen wiederum sehr skeptisch gesehen wird und zu dem es viele Vorurteile gibt. Egal, welche persönliche Haltung jemand nun zum Thema Astrologie mitbringt - ich empfehle, diese kurz zur Seite zu stellen, wenn man bereit ist, sich dieses Buch näher anzuschauen. Es geht hier nicht darum, die Zukunft vorherzusagen oder Menschen aufgrund ihres Horoskops festzulegen, es geht um Archetypen.

Und es ist ein in vielerlei Hinsicht tolles Buch, das ich auch Menschen empfehle, die sich gar nicht für Astrologie interessieren und dieser sehr skeptisch gegenüberstehen. Gleichzeitig empfehle ich auch allen, die Astrologie lernen möchten, sich genau anzuschauen, worum es sich hier handelt, um nichts Falsches zu erwarten.

"Die Wunder des Kosmos" ist nämlich hauptsächlich ein Buch über psychologische Archetypen, die anhand der 12 Sternzeichen sehr klar herausgearbeitet werden.

Wer sich darauf einlässt, kann darin viel Weisheit und Wissen über Psychologie und Persönlichkeitseigenschaften finden, genauso wie wertvolle Hinweise zur Ausbalancierung und Entwicklung einzelner als schwierig empfundener Eigenschaften.

Ich empfehle es also auch allen, die noch nicht viel über Astrologie wissen, aber dem Thema gegenüber offen sind, die psychologisch interessiert sind und sich für das uralte und vielfältig (z.B. von C.G. Jung) bearbeitete Thema der Archetypen interessieren.

Das Buch beginnt nach einer kurzen Einführung mit dem Widder-Archetypen.
Das Kapitel beginnt mit einer Übersicht der grundlegenden Eigenschaften dieses Archetypen, im Positiven etwa Idealismus, Ideenreichtum und Begeisterungsfähigkeit, im Herausfordernden das Potential zu Ungeduld, Impulsivität und Rücksichtslosigkeit. Auch Berufsfelder, die diese Eigenschaften stark verkörpern, werden genannt: etwa Extremsportler:in, Reisejournalist:in, Gründer:in eines Start-Ups oder Motivationscoach:in.

Danach geht es, nach einer weiteren kurzen Einführung in die Prinzipien des Archetypen, um den unbewussten Widder auf der unteren Bewusstseinsstufe, der blitzartig losstürmt, ohne viel zu reflektieren und damit durchaus Schaden für sich und andere anrichten kann. Auch seine größte Angst - der Schwächere zu sein - wird beschrieben. Darauf folgt ein Kapitel zur nächsten Bewusstseinsstufe, dem reflektierten Widder, der Selbstbeherrschung und Nachgeben lernt.

Und dann gibt es schließlich noch ein Unterkapitel zur Bewusstseinsentwicklung mittels des kardinalen Kreuzes: hier geht es darum, sich von den Eigenschaften anderer Zeichen (in diesem Fall denen, die auch, wie der Widder, zum kardinalen Kreuz gehören, das sind Krebs, Waage und Steinbock) inspirieren zu lassen, um die Eigenschaften des Widders auszubalancieren. Beispielsweise inspiriert der Krebs zu Mitgefühl und der Steinbock zu Selbstdisziplin. Dazu gibt es jeweils Anleitungen zu praktischen Übungen zur Reflexion und Umsetzung.

Nach diesem Muster sind auch die weiteren elf Kapitel der anderen Sternzeichen aufgebaut. Es lässt sich also auf psychologischer Ebene viel über die Archetypen lernen und reflektieren, ohne notwendigerweise dafür an Astrologie "glauben" zu müssen.

Für jene, die sich für Astrologie interessieren, noch ein paar abschließende Worte: dieses Buch ist, wie gesagt, mehr Einführung in die grundlegenden Archetypen der Sternzeichen als komplette Einführung in die Astrologie. Wenngleich das Verständnis dieser Archetypen extrem wichtig ist, um in diesem Bereich kompetent zu werden, stellt es doch nur die Grundlage dar. Man lernt in diesem Buch nicht, Horoskope zu interpretieren, darum geht es überhaupt nicht. Und es geht auch nicht um die Bedeutungen der einzelnen Planeten, Aspekte oder sonstiges.

Wer über all das etwas lernen möchte, ist mit anderen Einführungswerken besser bedient. Hier geht es wirklich ausschließlich um die Archetypen der zwölf Zeichen, das aber sehr ansprechend, fundiert und zum Nachdenken anregend, gleichzeitig praxisorientiert und mit Übungen fürs tägliche Leben.

Insgesamt ist es ein schönes und inspirierendes Buch, das auf vielen Ebenen zum Nachdenken anregt und von dem sich viel lernen lässt. Es wird einen Stammplatz in meinem Bücherregal bekommen und sicher immer wieder mal rausgeholt werden, um mich mit einem der Archetypen näher zu beschäftigen, neue Aspekte davon zu erkennen und mich inspirieren zu lassen.

Ich kann das Buch also allen, die sich für Psychologie und Archetypen interessieren, eine offene Einstellung gegenüber unkonventionellen Ansätzen haben und/oder einen neuen frischen Zugang zu den Basics der Astrologie interessieren, sehr empfehlen!

Bewertung vom 26.10.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


ausgezeichnet

Anspruchsvoller historischer Roman für rechtsgeschichtlich interessierte Menschen:

"Die Lungenschwimmprobe" bewegt sich an den Grenzen zwischen guter Literatur, historischem Roman und Sachbuch. Das Buch basiert in vielen Teilen auf realen historischen Tatsachen, die der Autor in jahrelanger akribischer Arbeit in Archiven zusammengetragen, durch viele Details zu den einzelnen Personen ausgeschmückt und zu einem spannend zu lesenden historischen Roman entwickelt hat. Ich habe mich beim Lesen des Buches sehr gut unterhalten gefühlt und gleichzeitig viel über das Leipzig an der Schwelle zwischen Mittelalter und Aufklärung sowie über die Grundlagen der frühen wissenschaftlichen Medizin und Rechtsgeschichte gelernt.

Die jugendliche Anna, Tochter eines Gutsbesitzers, wurde vom Knecht geschwängert und hat ein Kind zur Welt gebracht und dieses gemeinsam mit ihrer Mutter in der Erde vergraben. Die Leiche des Kindes wurde vom Dienstpersonal gefunden und Anna als Kindsmörderin angezeigt. Anna bestreitet dies vehement, beteuert ihre Unschuld und gibt an, dass das Kind schon tot zur Welt gekommen sei.

Wir befinden uns zeitlich in den letzten Ausläufern des Mittelalters, in einer zutiefst religiös geprägten Gesellschaft, Ende des 17. Jahrhunderts, eineinhalb Jahrhunderte nach Martin Luther und in protestantischem Gebiet, und einige Jahrzehnte nach dem 30-jährigen Krieg, der in der Erinnerung der Menschen immer noch sehr präsent ist. So ist auch das Rechtssystem noch sehr stark durch den Einfluss der Kirche geprägt, Folter, Kerker, letzte Hexenprozesse und die Todesstrafe sind weit verbreitet und werden als vereinbar mit der Religion, ja, sogar als von Gott gewollt angesehen und durch Bibelpassagen gerechtfertigt. Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist verboten, ein uneheliches Kind wird als große Schande für die betroffenen Frauen angesehen, und mit den meisten Frauen, die des Kindesmordes bezichtigt werden, wird kurzer Prozess gemacht, sie werden - ob unschuldig oder nicht - unter Folter zu einem Geständnis gezwungen und danach enthauptet.

Wird es Anna auch so ergehen? Zwei Faktoren sind auf ihrer Seite: einerseits ist sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen mit ähnlichem Schicksal, als Tochter eines Gutsbesitzers aus einer reichen Familie und hat einen liebenden Vater, der sich mit aller Kraft für sie einsetzt und einen Anwalt für sie engagiert, um sie zu verteidigen. Und andererseits zeigen sich neben den letzten Ausläufern des Mittelalters auch schon die ersten Vorboten der Aufklärung und einer rationalen, wissenschaftlichen Herangehensweise, die allerdings erst noch dafür kämpfen muss, sich zu behaupten.

Der Anwalt ist ein junger Mann namens Christian Thomasius, eine reale historische Persönlichkeit, der sich später im Sinne der Aufklärung und der Rechtsgeschichte einen Namen machen wird. Dieser holt unter anderem medizinische Gutachten ein, unter anderem eines des angesehenen Arztes Dr. Schreyer, der bei dem verstorbenen Säugling eine sogenannte "Lungenschwimmprobe" durchgeführt hatte.

Die Lungenschwimmprobe von Annas Baby geht - das erfahren wir schon ziemlich zu Anfang des Buches - zu Annas Gunsten aus: die kleine Lunge sinkt im Wasser, was auf ein totgeborenes Baby hindeutet. Wird das reichen, um sie zu retten?

Wir erleben die Gesellschaft in Leipzig und Umgebung Ende des 17. Jahrhunderts aus vielen Perspektiven mit und begleiten nicht nur das Leben von Anna und ihrer Familie, sondern blicken auch durch die Augen von Annas Strafverteidiger und seiner Familie, lernen den Arzt Dr. Schreyer etwas näher kennen, ebenso wie den Scharfrichter, seine Familie und Lebensumstände, diverse Priester und noch so einige andere Personen. Dadurch entsteht insgesamt ein lebendiges und facettenreiches Gesellschaftsporträt einer spannenden Zeit, das so viel mehr ist als nur die Abhandlung eines Gerichtsfalls.

Mir persönlich hat das Buch außerordentlich gut gefallen, weil es mich eben nicht nur unterhalten, sondern auch gebildet hat und ich das Gefühl habe, dank der umfangreichen Recherche des Autors und des in vielen Bereichen auf historischen Tatsachen beruhenden historischen Romans auch meine Geschichtskenntnisse deutlich erweitert zu haben.

Empfehlen kann ich das Buch allen, die an Geschichte interessiert sind, die generell anspruchsvolle Bücher mögen und die sich von Literatur weit mehr erwarten, als nur unterhalten zu werden. Nur mit Vorbehalt empfehle ich es Menschen, die ansonsten fast nur historische Romane, Krimis und ähnliches lesen und bei denen der reine Unterhaltungsaspekt im Vordergrund steht - diese könnten das Buch durchaus an manchen Stellen als langatmig empfinden. Es ist eben deutlich mehr Gesellschaftsporträt als Krimi, und das behandelte Thema und die Epoche werden ausführlich und von vielen Perspektiven umkreist. Für mich macht das jedoch eine der herausragenden Qualitäten des Buches aus.

Bewertung vom 21.10.2024
Sisters in Blood - Der Schwur
Gornichec, Genevieve

Sisters in Blood - Der Schwur


ausgezeichnet

Wie habe ich dieses Buch geliebt und mich jedes Mal schon so unendlich aufs Weiterlesen gefreut! Schon lange habe ich kein so spannendes Buch mehr gelesen, das Elemente aus historischem Roman mit Mythologie, Fantasy und aktuellen Themen auf authentische Weise verwebt, authentische Charaktere und eine spannende Geschichte hat und dabei stets so interessant zu lesen ist!

"Sisters in Blood - Der Schwur" von Genevieve Gornichec ist eine moderne Interpretation nordischer Mythologie, angelehnt insbesondere an die isländische Saga von Gunnhild und Erik (die Geschichte selbst spielt allerdings nicht in Island, sondern überwiegend in Norwegen).

Es geht um drei Mädchen, die sich als Teenager durch einen Blutsschwur aneinander binden und dabei versprechen, sich immer gegenseitig zu unterstützen und füreinander einzustehen: die beiden Schwestern Signy und Oddny, und ihre Freundin Gunnhild. Und damit verbunden um eine Weissagung, dass eine der dreien das Schicksal der anderen beiden überschatten und verdunkeln würde und deren Wege untrennbar miteinander verbunden seien.

Signy wird schließlich als junge Frau von Räubern verschleppt, während Oddny sich retten kann und gemeinsam mit Gunnhild alles daran setzt, ihre Schwester frei zu bekommen.

Im englischsprachigen Original heißt das Buch "The weaver and the witch queen". Das zeigt schon an, dass entgegen der deutschsprachigen Beschreibung nicht alle drei Schicksale gleich viel Raum im Buch bekommen: hauptsächlich erleben wir das Buch aus der Perspektive von Oddny und Gunnhild sowie weiterer Personen in ihrer Umgebung. Diese erleben auf der Suche nach der verschleppten Signy viele spannende Abenteuer, schließen Freundschaften, müssen entscheiden, wem sie vertrauen können und wem nicht usw.

Spannend habe ich auch gefunden, dass die Frauenrollen in dem Buch eine Mischung aus Tradition und modernen Ansätzen sind: es gibt Mädchen, die von ihren Eltern in arrangierte Ehen gedrängt werden, aber gleichzeitig auch Frauen, die als Hexen oder Wahrsagerinnen unabhängig leben und hoch respektiert werden, und sogar eine Anführerin einer Räuberbande und Kämpferinnen. Und Gunnhild heiratet aus freien Stücken (und um mehr Mittel zu haben, um Signy zu retten) den Königssohn Erik und handelt dafür knallhart diverse Bedingungen aus.

Derzeit gesellschaftlich aktuelle Themen wie Konsens in der Sexualität und generell vielfältige Formen der Geschlechteridentität finden ebenfalls Platz im Buch. So gibt es auch queere Charaktere und die Autorin schreibt im Nachwort, dass sie sich selbst dieser Community zuordne und es diese Menschen immer schon gegeben habe.

Für mich persönlich waren diese modernen Themen durchaus gut und authentisch ins Buch eingebaut und eine Bereicherung - unabhängig davon, wie die historischen Wikinger, über die ich viel zu wenig weiß, nun tatsächlich damit umgegangen wären. Für jemanden, der darüber gar nichts lesen will, ist es aber vielleicht kein Buch, dazu ist der Stellenwert dieses Themas zu prominent.

Insgesamt habe ich die verschiedenen Charaktere als liebevoll durchdacht erlebt, mit einer authentischen Reifung und Persönlichkeitsentwicklung im Buch. Das Buch hatte für mich insgesamt deutlich mehr Tiefe und hat mehr zum Nachdenken angeregt als viele andere Bücher aus der Kategorie "Historischer Roman". Besonders mochte ich auch die Bezüge zum nordischen Glaubens- und Mythologiesystem sowie die Praktiken der Frauen im Bereich Heilung, Zauberei und Wahrsagerei, das hat dem Buch einen ganz besonderen mystischen Touch gegeben.

Von der Autorin gibt es ein weiteres Buch, das bisher meines Wissens nur auf Englisch erschienen ist: "The witch's heart". Ich habe mir dieses schon besorgt und werde es auf jeden Fall auch lesen, wie auch zukünftige Bücher der Autorin, denn ich bin begeistert!

Bewertung vom 20.10.2024
Zwischen den Welten
Vlahos, Hadley

Zwischen den Welten


ausgezeichnet

Berührende wahre Geschichten aus dem Berufsalltag einer Hospizschwester:
"Zwischen den Welten" von Hadley Vlahos ist ein ganz besonderes Buch einer mutigen und einfühlsamen jungen Frau, das in mir sicher noch lange emotional nachwirken hat und transformiert hat, wie ich über den Prozess des Sterbens und damit das Ende des Erfahrungsprozesses im menschlichen Körper und den Übergang in ein unbekanntes Danach denke.

Sterben und der Tod - das sind Themen, mit denen sich viele Menschen lieber nicht so genau befassen, solange sie es nicht müssen. Und die uns doch immer wieder im Leben einholen, in Form geliebter Menschen, die wir durch den Tod verlieren, bis wir schließlich selbst an der Reihe sind. Hadley Vlahos wurde schon jung mit heftigen Themen konfrontiert: als Jugendliche hat sie den plötzlichen Tod eines guten Freundes miterleben müssen, dann wurde sie im Alter von 20 Jahren ungeplant alleinerziehende Mutter, hatte mit sozialer Ausgrenzung durch ihre sehr religiöse Familie und mit Armut zu kämpfen, und musste ihr Studium abbrechen, um ganz alleine für ihren Sohn zu sorgen.

Das ursprünglich von ihr geplante Studium und ihre ursprünglichen Berufswünsche (einer davon Schriftstellerin - wie schön, dass sie sich dem mit diesem Buch doch noch annähern konnte) ließen sich erst einmal nicht mehr realisieren... aber was möglich war, war die Ausbildung zur Krankenschwester und schließlich zur Hospizschwester. Im jungen Alter von 22 begann Hadley also, als Hospizschwester sterbenden Menschen zur Seite zu stehen, ihre Schmerzen zu lindern, für sie da zu sein und für einen möglichst angenehmen, sanften und selbstbestimmten Übergang aus diesem Leben zu sorgen.

Sehr persönlich und berührend erzählt Hadley in dem Buch sowohl aus ihrem eigenen Leben als auch aus ihrem Berufsalltag. Dazu schildert sie insgesamt etwa zwölf Fälle von sterbenden Menschen, die sie als Hospizschwester begleitet hat, meistens zu Hause bei den jeweiligen Menschen, gelegentlich auch im Spital. Wir erleben die Begleitung dieser Menschen hautnah mit, ab dem ersten Kontakt, den Hadley als Hospizpflegerin mit ihnen hatte, über die laufenden Kontakte bis zu ihrem Tod.

Dabei wird deutlich, wie einfühlsam, menschlich und mutig Hadley ist, wie sie mit all diesen Menschen eine nahe Beziehung eingeht und sich berühren lässt, aber gleichzeitig auch sich selbst reflektiert und daran arbeitet - zeitweise auch mit therapeutischer Unterstützung - an diesem fordernden Beruf, den die meisten nach kurzer Zeit wieder verlassen, zu wachsen statt auszubrennen.

Wir erleben mit, wie Hadley aus jeder Begegnung etwas für sich persönlich mitnimmt, daran wächst und reifer wird und wie sie es am Ende auch schafft, gegen Ungerechtigkeiten und unnötige Formalismen und Hierarchien aufzubegehren und sich bedingungslos für das Wohl ihrer Schützlinge einzusetzen.

Auf der einen Seite kann das Buch also auch als Memoir über Hadley und ihren persönlichen Entwicklungs- und beruflichen Emanzipationsprozess gesehen werden.

Auf der anderen Seite vermittelt es aber auch über die Fallgeschichten viel Wissen über den Sterbeprozess und über die teilweise unerklärlichen Phänomene, die dabei immer wieder auftreten, unabhängig von vorigen religiösen Überzeugungen der Sterbenden: so gibt es zum Beispiel bei sehr vielen Sterbenden aller möglichen religiösen Hintergründe und auch bei Atheisten und Atheistinnen das Phänomen, dass diese am Ende ihres Lebens den Eindruck haben, von wohlmeinenden schon verstorbenen Angehörigen begleitet, getröstet und abgeholt zu werden, und zwar in einer Form, die sich von sonstigen Halluzinationen oder Wahnvorstellungen deutlich abgrenzt.

Und wir erfahren auch, dass der Tod, wenn er auf natürlichem Weg eintritt, oft ein gradueller Prozess ist, ein Immer-Weniger-im-Leben-sein, ein schrittweiser Abbau von Körperfunktionen und Bewusstsein, bis schließlich der tatsächliche Tod eintritt. Und dass dieser Prozess oft zeitlich relativ genau eingrenzbar ist: für mit dem Thema Erfahrene gibt es oft eindeutige Zeichen, dass der Sterbeprozess begonnen hat und der Tod sehr wahrscheinlich innerhalb der nächsten ca. 72 Stunden eintreten wird.

Es ist also ein in vielerlei Hinsicht lehrreiches und berührendes Buch, das wertvolle Informationen für alle bietet, die bereit sind, sich nicht nur intellektuell, sondern auch emotional (ich habe beim Lesen der Geschichten immer wieder weinen müssen) auf ein zwar dunkles und tiefgehendes, aber doch auch transformatives Thema einzulassen, das uns früher oder später alle betrifft. Absolute Leseempfehlung für alle, die mutig genug für diese Konfrontation sind!

Bewertung vom 10.10.2024
Blue Sisters
Mellors, Coco

Blue Sisters


sehr gut

Beziehungen zwischen Schwestern überschattet von Trauer und Sucht:

Schon das Titelbild der "Blue Sisters" gibt einen guten ersten Eindruck, worum es im Buch geht: wir sehen eine Frau, die sehr traurig, verzweifelt und verschlossen wirkt. Die Blue Sisters sind die vier Mädchen der Familie Blue, die sich eigentlich einen Sohn gewünscht hatte, aber damit nie erfolgreich war.
Avery, die älteste, eine erfolgreiche Anwältin und mit einer Frau verheiratet, auf der die Verantwortung der Miterziehung ihrer drei jüngeren Schwestern schwer gelastet hat. Hochbegabt, sehr diszipliniert und mit einer kurzen, aber heftigen Suchtvergangenheit Anfang ihres Erwachsenenlebens. Bonnie, die psychisch noch am gesündesten wirkt, Halt in ihrem Glauben findet und eine erfolgreiche Karriere im Box-Hochleistungssport verfolgt. Nicky, die nicht mehr lebt, weil sie an zu vielen Tabletten gestorben ist. Die Endometriose hatte und chronische Schmerzen, die sie mit Tabletten bekämpfen wollte, die aber auch eine beliebte Lehrerin war, sozial, liebenswürdig und offen, und sich so sehr eine eigene Familie mit Partner und Kindern gewünscht hat, wozu es aber nicht mehr kam. Die jüngste, Lucky, die als Teenager die High School abgebrochen hat, um eine erfolgreiche, aber problematische Karriere als Model zu starten, und die ebenfalls ein Suchtproblem hat.
In der Zeit ein Jahr nach Nickys Tod, aus der die meisten Szenen geschrieben sind, ist Avery 33 Jahre alt, Bonnie Anfang 30, und die beiden jüngsten in den 20ern. Die drei verbliebenen Schwestern trauern um Nicky, und das bringt manche Probleme, die sie auch davor schon in ihren Leben hatten, noch stärker zum Vorschein, bietet aber auch Gelegenheiten, wieder mehr miteinander in Kontakt zu kommen.
Wir erleben das Buch - nach einer kurzen Vorstellung der vier Schwestern und deren Charakteristika aus der Erzählerperspektive am Anfang - beim Lesen abwechselnd aus den Perspektiven der drei überlebenden Schwestern Avery, Bonnie und Lucky, während die verstorbene Nicky nur aus der Außenperspektive geschildert wird.
Wie schon im vorigen Absatz beschrieben, ist es den Schwestern überwiegend gelungen, jeweils extrem erfolgreichen Karrieren in ihrem Feld zu erreichen, trotz aller Probleme und Schwierigkeiten. Leistungsorientierung, Disziplin und Leidensfähigkeit sind wohl leitende Prinzipien in dieser Familie, und es scheint sich um extrem talentierte junge Frauen zu haben, die auch noch so viel Glück und passende Umstände haben, dass es mit den Karrieren klappt. Den "normalsten" Job, den als Lehrerin, hatte noch die verstorbene Nicky.
Gleichzeitig ist die Familie überschattet vom Thema Sucht, sowohl nach Alkohol als auch nach diversen Drogen und Tabletten sowie problematischem Sexualverhalten, und fast alle Schwestern kämpfen immer wieder mit einem großen Suchtproblem. Dieses Thema nimmt auch insgesamt im Buch einen sehr großen Raum ein, einen größeren, als mir persönlich beim Lesen gut gefallen hat.
Es gab viele Szenen im Buch, die ich sehr mochte: insbesondere die, bei denen ich die Schwestern mit ihren individuellen Eigenschaften und in Beziehungen mit anderen Menschen oder miteinander näher kennen lernen konnte. Diese Teile hatten für mich Authentizität und Tiefe, die verschiedenen Persönlichkeiten kamen klar hervor, und sie waren spannend zu lesen. Es gab aber auch Stellen, die mich gelangweilt bis verärgert haben, in denen seitenweise Suchtverhalten in diversen Lokalen geschildert wurde, und die ich dann nur noch überflogen habe, um hoffentlich bald wieder zu einer interessanteren Stelle zu kommen.
Insgesamt ist es ein Buch, das mir sehr gut gefallen hat und das auch emotional noch lange nachwirken wird. Ich finde es schön, wie differenziert die Beziehungen zwischen den Schwestern dargestellt werden und wie klar herauskommt, wie ambivalent und vielschichtig diese sein können und welche Elemente dazu beitragen, dass diese Beziehungen nochmal wesentlich anders sind als einfach Freundschaften zwischen Frauen.
Wenn also das Suchtthema nicht dermaßen ausgebreitet worden wäre, wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch. So gibt es 1 Punkt Abzug dafür, insbesondere für die Wiederholung der immer ähnlichen Suchtszenen, die dann oft gar nicht mehr gerne gelesen habe und die auch nicht unbedingt dermaßen viel Raum einnehmen hätten müssen, um die Botschaft des Buches, wie diese Familie davon überschattet ist, rüberzubringen. Stattdessen hätte es mir gefallen, wenn die Beziehung zu den Eltern mehr Raum im Buch gekommen hätte - eine kurze Szene zwischen Avery und der Mutter ziemlich am Ende zeigt, dass dafür durchaus Potential gewesen wäre und das Buch und auch der Blick auf die vier Schwestern davon noch mehr bereichert werden hätte können.
Ich empfehle das Buch allen, die sich für Geschwisterbeziehungen, insbesondere solche zwischen Schwestern, interessieren, und die kein Problem damit haben, dass es trotz aller auch humorvollen Szenen und gelegentlicher schöner Momente über weite Teile auch ein sehr trauriges Buch ist.

Bewertung vom 07.10.2024
Das Verhalten ziemlich normaler Menschen
Reilly, K. J.

Das Verhalten ziemlich normaler Menschen


sehr gut

Ein Roadtrip voll Trauer und Freundschaft:

Der Jugendliche Asher Hunter ist traurig, verzweifelt, voll Wut. Er hat seine Mutter vor einem Jahr in einem tragischen Verkehrsunfall verloren, als sie zu einem Einkaufszentrum fahren wollte, um für ihn neue Fußballschuhe zu kaufen. Der betrunkene Fahrer eines Lastwagens, der diesen verursacht hat, wurde wegen schlampiger Polizeiarbeit und daraus resultierend aus Mangel an Beweisen frei gesprochen.

Nun besucht er diverse therapeutische Selbsthilfegruppen für Menschen, die jemanden verloren haben, sowohl solche für Jugendliche als auch welche für ältere Menschen, in denen er der einzige Jugendliche ist. Dort lernt er die beiden Jugendlichen Sloane und Will kennen, sowie den alten Henry, der um seine verstorbene Frau, seine große Liebe, trauert. Asher überzeugt die drei, ihn auf einen Roadtrip quer durchs Land zu begleiten, ohne ihnen zu sagen, dass er vorhat, dort den Mann zu töten, der den Unfalltod seiner Mutter verschuldet hat.

Das Buch ist ein Jugendbuch und so liest es sich sehr leicht, mit authentischer, frischer Jugendsprache und kurzen Kapiteln. Wir begleiten Asher durch seine Trauer und all die vielfältigen Gefühle, die damit verbunden sind, genauso wie seine fehlenden Erinnerungen an den Unfalltag sowie seine panische Angst, er könnte auch noch seinen Vater oder seine kleine Schwester verlieren, und seine Versuche, alles abzusichern und das Leben unter Kontrolle zu bekommen. Dabei bahnen sich zarte freundschaftliche Bande zwischen ihm und den anderen drei Trauernden an, sowie eine beginnende Romanze mit Sloane.

Es ist ein emotional tiefgehendes Buch, das dazu beitragen kann, sich verstanden und begleitet zu fühlen, wenn man selbst jemanden tragisch verloren hat - oder auch, mit anderen mitfühlen zu können, denen so etwas passiert ist, wenn man es selbst noch nicht erlebt hat. Insofern ist es ein wichtiges Buch. Die menschlichen Verbindungen darin sind sehr berührend und zugleich humorvoll geschildert und trotz aller Schwere und Tiefe des dahinterliegenden Themas macht das Buch doch auch Hoffnung auf die Stärke der Resilienz durch menschliche Beziehungen.

Bewertung vom 05.10.2024
Suche liebevollen Menschen
Borger, Julian

Suche liebevollen Menschen


ausgezeichnet

Berührend, authentisch und gut recherchiert:

In "Suche liebevollen Menschen" erzählt Julian Borger die wahre Geschichte seines Vaters Robert "Bobby" Borger und einiger weiterer jüdischer Kinder aus Wien, die 1938/1939 etwa zwischen 8 und 14 Jahre alt waren und vor dem Holocaust gerettet werden konnten.

Nach der NS-Machtübernahme 1938 in Wien wurden bekanntlich die Bedingungen für die dort lebenden Juden immer schlimmer und viele suchten nach einer Möglichkeit, zu fliehen. Leider war das sehr schwierig, weil kaum andere Länder bereit waren, die Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Visas auszustellen.

So suchten einige Eltern verzweifelt nach einer Möglichkeit, zumindest ihre Kinder erst einmal in Sicherheit bringen zu können, und später hoffentlich nachzureisen, auch wenn das bedeutete, sich von ihnen trennen zu müssen und sie alleine mit dem Zug von dem Wiener Westbahnhof aus ins Ausland zu schicken, in ein ungewisses Schicksal, zu Pflegefamilien in Großbritannien, die sie nur aus ein paar Briefen kannten. In Großbritannien versuchten die Kinder dann, mit bescheidenen Sprachkenntnissen und meist ohne relevante Kontakte, ihr Möglichstes, um ihre Eltern auch nachkommen lassen zu können. Manche schafften es, andere nicht. Manche konnte später wieder mit ihrer Familie vereinigt werden, andere mussten später erfahren, dass ihre Angehörigen im Holocaust ermordet worden waren und nur sie überlebt hatten.

Die Großeltern von Julian Borger gaben also, so wie einige andere Eltern, im Manchester Guardian in Großbritannien eine Anzeige auf, in der sie ihre Kinder und deren Qualitäten anpriesen, in der Hoffnung, liebevolle Pflegeeltern für sie zu finden. So etwa die Kurzanzeige der Familie Borger im Original: "I seek a kind person who will educate my intelligent boy, aged 11, Viennese of good family. Borger, 5/12 Hintzerstrasse, Vienna 3."

Auf diese Anzeigen konnten sich nun Menschen aus Großbritannien melden, die bereit waren, eine gute Tat zu vollbringen und ein jüdisches Kind aus Wien bei sich als Pflegekind aufzunehmen und damit zu retten (und leider auch manche, die einfach nur eine billige Arbeitskraft suchten, die sie ausbeuten konnten). Robert Borger hatte Glück und landete tatsächlich bei liebevollen Menschen, und auch seine Eltern konnten später nach Großbritannien nachkommen. Er wurde erwachsen, heiratete, wurde selbst Vater von vier Kindern (eines davon der Autor) und Psychologe. Und doch nahm er sich später das Leben (ein spätes Opfer Hitlers, wie seine alte Pflegemutter bestürzt kommentierte), was seinen Sohn, neben all der Trauer, veranlasste, die Geschichte seines Vaters genauer zu erkunden und ihn erst die Details dieser erfahren ließ.

Julian Borger, der Sohn, hat keine Mühen gescheut, um neben der Geschichte seines Vaters und seiner eigenen Herkunftsfamilie auch möglichst viele Geschichten der anderen Kinder aus den Anzeigen im Guardian zu recherchieren und deren Lebenswege im Buch zu dokumentieren. Tatsächlich konnte er sieben weitere Kinder bzw. deren Nachkommen aufspüren und viele Informationen über deren Geschichten recherchieren: vereinzelt lebten diese selbst noch, ansonsten hatten sie ihren eigenen Kindern viel davon erzählt und manche sogar Interviews dazu gegeben, Tagebücher geführt oder Memoirs geschrieben.

So ist es ein sehr spannendes, berührendes und gut lesbares Buch geworden, in dem die Geschichten der insgesamt acht Kinder und ihrer Familien beim Lesen vor dem inneren Auge lebendig und nachfühlbar werden. Von den meisten Kindern und ihren Familien gibt es sogar Fotos im Buch, das schafft noch eine stärkere Verbindung zu ihnen.

Es ist ein Buch, das zu Tränen rührt, traurig und wütend macht, aber gleichzeitig auch Hoffnung gibt durch die Geschichten des Gerettet-Werdens, der Überlebens und der guten Menschen, die es auch in noch so dunklen Zeiten ebenfalls gibt, und die zur Rettung dieser Kinder beigetragen haben. Und es ist ein sehr aktuelles Buch, das nachdenklich macht nicht nur über diese dunkle Zeit vor vielen Jahrzehnten, sondern auch über die heutige Zeit und unseren Umgang mit Menschen, die flüchten müssen, über Abweisung, Unterstützung, Resilienz und transgenerationale Weitergabe von Traumata. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 01.10.2024
Texel - ReiseGenuss
Daalen, Felicitas van;Neumann, Tanja

Texel - ReiseGenuss


ausgezeichnet

Das Büchlein "Texel - Kulinarik, Menschen, Geschichten" ist einfach wunderschön gestaltet. Schon das Titelbild mit dem charakteristischen Leuchtturm, den Dünen und dem Meer lädt ein, die Insel zu besuchen. Schlägt man das Buch auf, so findet man ein sehr persönlich geschriebenes Begrüßungswort, aus dem die Begeisterung der Autorinnen für die Insel schon spürbar wird, zusammen mit einer Karte der Insel. Darauf folgen fünf Kapitel zu den verschiedenen Regionen der Insel (Süden, Westen, Norden, Osten und Mitte) sowie Spezialkapitel zu Themen wie "Aktive Kulinarik", Strandpavillons, zum Texelschaf und zu Museen. Abgerundet wird das Buch mit einigen allgemeinen Informationen über die Insel, spezielle Feiertage, interessante Daten und Fakten und Empfehlungen zu An- und Abreise am Schluss.

Wer sich für einen bestimmten Teil Texels interessiert, kann das jeweilige Kapitel aufschlagen und findet dort Informationen zu touristischen Highlights, Restauranttipps, besonders schönen Orten, Möglichkeiten für kulturelle und sportliche Aktivitäten, kulinarische Verkostungen und vieles mehr. Und sogar einige Rezepte für typische Spezialitäten der Insel finden sich in dem Buch.

Es wird deutlich, dass der Genuss und die Vermittlung der Liebe zu dieser wunderschönen Insel im Vordergrund steht: das Buch ist optisch mit vielen farbigen Bildern in hoher Druckqualität angereichert, es liest sich angenehm mit kurzen Texten, Zitaten und persönlichen Geschichten über die Menschen der Insel. Wir lernen Menschen mit Visionen kennen, die ihre beruflichen Visionen auf Texel verwirklichen, denen die Schönheit der Natur und der Genuss am Herzen liegen und die das auch gerne allen Besuchern vermitteln. Nachhaltigkeit, Bio und ein fairer Umgang mit Mensch und Natur ist auch ein Thema, das sich durch das Buch zieht.

Ich kann dieses Buch allen, die sich für Texel interessieren, nur wärmstens empfehlen. Ebenfalls empfiehlt es sich als Geschenk für Menschen, die man gerne für eine Texelreise begeistern möchte - die Chancen, dass diese nach der Lektüre dorthin fahren wollen, sind bei diesem wunderschönen, inspirierenden Buch sehr hoch!