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sleepwalker

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Insgesamt 492 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2024
Gebt mir etwas Zeit
Kerkeling, Hape

Gebt mir etwas Zeit


ausgezeichnet

Als das soziale Leben in Deutschland wegen Corona etwas heruntergefahren wurde, fingen die einen an zu stricken, andere backten Bananenbrot wie die Weltmeister und Hape Kerkeling stürzte sich in die Ahnenforschung. Seine Ergebnisse hat er in seinem Buch „Gebt mir etwas Zeit“ zusammengetragen, welches ich als von ihm selbst eingelesenes Hörbuch hören durfte. Es ist ein informatives, vor allem aber auch bewegendes und berührendes Buch geworden, das ich ganz sicher noch einmal hören werde.
Aber von vorn.
Hape Kerkelings Wurzeln liegen in den Niederlanden und lassen sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. Das hat ihn selbst wohl am wenigsten überrascht, hat er doch seit früher Kindheit eine enorme Affinität zu den westlichen Nachbarn. Aber das ist nicht alles, was er bei seiner Ahnenforschung herausfindet. Basierend auf einer DNA-Analyse bekommt er sowohl Kontakt zu noch lebenden Verwandten (die ebenfalls einen DNA-Test gemacht haben und daher in der Datenbank sind), als auch einen Einblick in die Vergangenheit und seine Herkunft. Die große Herzensangelegenheit Kerkelings ist aber, etwas über seine Oma Bertha herauszufinden, zu der er immer ein sehr enges Verhältnis hatte. Auch das, was er in dieser Richtung erfährt, ist interessant und (vermutlich) überraschend. Neben der Stammbaum-Beschau bis ins 12. Jahrhundert erzählt Hape Kerkeling aber auch einiges aus seinem eigenen Leben, vom Suizid seiner Mutter bis hin zu seinen ersten Schritten im Showbusiness und seiner ersten großen Liebe, die jung infolge einer HIV-Infektion verstarb.
Eines ist ganz klar: mich hat das Hörbuch begeistert. Hape Kerkelings Stimme fand ich angenehm, den Text, den er liest, informativ, bewegend und manchmal sogar spannend. Ab und zu habe ich während der fast elf Stunden etwas den Überblick verloren, und bei einem Hörbuch kann man ja nicht mal so einfach zurückblättern wie bei einem Buch oder E-Book. Aber wirklich störend fand ich das nicht, für mich ist es ja eigentlich auch egal, ob er von seinem elften oder zwölften Großvater schreibt und wie der nun genau hieß. Daher habe ich es wirklich genossen, mir das Buch „vorlesen“ zu lassen, an einigen Stellen habe ich herzlich gelacht, an anderen eine Träne verdrückt. Gelangweilt habe ich mich keine Sekunde und durch die Überschriften der Kapitel wusste ich auch immer, in welcher Zeitebene es spielt.
Das Buch ist nahbar, fassbar und bringt einem die Person Hape Kerkeling abseits seiner Kunstfiguren näher. Er erzählt lebhaft und anschaulich von den Problemen der Kerkelings im Laufe der Zeit. Auch seine eigenen Probleme spart er nicht aus und schont sich selbst nicht. Manchmal kann man bei allem Humor auch die Traurigkeit in seiner Stimme hören. Die Histörchen, die er um seine Vorfahren webt, sind überwiegend fiktiv, aber meist ebenso amüsant wie informativ. Abseits der Geschichten, die er sich ausgedacht hat, wartet das Buch mit einer Vielzahl an Fakten auf, die ich sehr interessant fand. Das Leben im „vergoldeten Zeitalter“, wie er es nennt, war mir bislang unbekannt, vor allem der religiöse Aspekt, den er mit geflüsterten Gottesdiensten und der versteckten Kirche „De Papegaai“ (der Papagei) beschreibt.
Mich hat Hape Kerkeling ein bisschen neugierig auf mein eigenes „Familienpuzzle“ gemacht. So wie er mit dem britischen Königshaus verwandt ist, gibt es in meiner Familiengeschichte laut meiner eigenen Großmutter eine Menge verarmten Adel, eine Unzahl unehelicher Kinder und irgendwo eine Linie zur Königin von Saba. Für seine herzerwärmende Reise in die Vergangenheit auf der Suche nach den Wurzeln und der Herkunft und die liebevolle Hingabe, mit der er die Geschichte seiner Großmutter erkundet, gibt es von mir fünf Sterne.

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Bewertung vom 28.10.2024
Harter Schnitt / Georgia Bd.5
Slaughter, Karin

Harter Schnitt / Georgia Bd.5


sehr gut

„Harter Schnitt“ ist der fünfte Teil von Karin Slaughters „Georgia“-Reihe um Special Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation. Ursprünglich erschien das Buch 2013, jetzt liegt die Neu-Auflage vor. Für mich ganz klar nicht das beste Werk von Karin Slaughter, aber es bringt der Leserschaft die tragenden Personen der Serie etwas näher, denn Will Trent, Dr. Sara Linton, Faith Mitchell und natürlich auch Amanda Wagner sind „alte Bekannte“.
Aber von vorn.
Vier Monate nach der Geburt ihrer Tochter Emma ist Faith Mitchell wieder zurück im Dienst des GBI. Während sie arbeitet, kümmert sich ihre 63jährige Mutter Evelyn um das Baby. Als Faith die pensionierte Polizistin telefonisch nicht erreichen kann, schrillen bei ihr die Alarmglocken. Und tatsächlich wartet zu Hause der blanke Horror auf sie: Blutflecken überall, eine Leiche in der Küche und zwei bewaffnete Männer im Haus – von Emma und Evelyn ist aber nichts zu sehen. Ein Mann wird vor Faiths Augen erschossen, der Schütze flieht durch den Garten, wo er zwei Nachbarskinder bedroht. Faith erschießt ihn. In Gartenlaube findet sie Emma, gut versteckt unter einem Bündel Decken, von Evelyn fehlt allerdings jede Spur. „»Du weißt, weswegen wir hier sind. Gib es uns, und wir lassen sie gehen.«“ – das hatte einer der Verbrecher zu Faith gesagt, als sie ihn im Haus stellte. Aber Faith weiß nichts. Gegen ihre Mutter war vor vier Jahren intern ermittelt worden, ausgerechnet von Faiths Partner, Agent Will Trent. Sechs ihrer Kollegen waren wegen Bestechlichkeit und Unterschlagung (sie hatten bei Verhaftungen bei Drogendelikten Geld abgezweigt) ins Gefängnis gekommen. Captain Mitchell war ungestraft davongekommen. Ist sie doch korrupt und hat sie dadurch etwas aus der Vergangenheit eingeholt? Hat sie doch Geld beiseitegeschafft? Fest steht: Faith und Will müssten sie finden, bevor es zu spät ist.
Bei „Harter Schnitt“ geht Karin Slaughter, wie gewohnt, in die Vollen. Die übliche Gewalt und Brutalität, einige Tote, Verletzte und Verstümmelte, werden verknüpft mit einem bisschen Drama und dem persönlichem Schicksal eines der Protagonisten (dieses Mal ist es Faith Mitchell). Allerdings schöpft sie auch bei den Charakteren aus den Vollen und manchmal fühlte ich mich von der Vielzahl der auftauchenden (und sehr oft auch wieder abtretenden) Personen etwas überfordert. Wer gehörte jetzt zu welchem Clan? Eigentlich ist es aber auch egal, denn meistens spielt es für den Verlauf des Buchs und die Lösung des Falls ohnehin keine Rolle. Die Geschichte fand ich ohnehin ein bisschen sehr konstruiert, aber durchaus gut erzählt und der Schluss ist stimmig. Gekonnt bringt die Autorin ihrer Leserschaft Faith und ihre Familie näher, man versteht, wie nah sich Faith und Evelyn stehen, was Amanda Wagner mit alldem zu tun hat und wieso Faiths Verhältnis zu ihrem Bruder Zeke so verfahren ist. Und natürlich findet auch die aufkeimende Liebschaft zwischen dem immer noch mit Angie verheirateten Agent Will Trent und der verwitweten Dr. Sara Linton wieder ihren Platz.
Sprachlich ist das Buch so, wie ich es von Karin Slaughter nicht anders erwartet habe: blutig und brutal, auch bei der Wortwahl ist die Autorin nicht zimperlich. Es wird geflucht und wüst beschimpft. Die Spannungskurve war eine Berg- und Talfahrt mit ein paar Längen. Lang fand ich auch die Kapitel, selbst als Kenner von Karin Slaughters Werken hat mich der Umfang manchmal ein bisschen erschlagen. Weniger erschlagen, sondern viel eher geärgert, haben mich einige Rechtschreibfehler. Da hätten Buch und Autorin mehr Sorgfalt verdient. Ich empfehle allen „Slaughter-Neulingen“, vor „Harter Schnitt“ die anderen Bücher der Serie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Natürlich kann man das Buch auch ohne Vorkenntnisse verstehen, sie machen aber vieles leichter.
Ich empfehle das Buch gerne weiter, ziehe in meiner Bewertung aber wegen der Längen und der handwerklichen Fehler in der Übersetzung einen Stern ab. Von mir vier Sterne.

Bewertung vom 28.10.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

„Es ist kompliziert“, ist mein Fazit zu „Kleine Monster“ von Jessica Lind. Zwar passt das Buch nicht so hundertprozentig zum Klappentext, aber mich hat es gepackt und berührt. Toxische, dysfunktionale Familien mit dunklen Geheimnissen – da fühle ich mich doch gleich zu Hause und abgeholt. Für mich war es ein Buch, das noch lange nachhallen wird.
Aber von vorn.
Pia und Jakob werden zum Elterngespräch in die Schule gebeten. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll eine Klassenkameradin belästigt haben. Luca selbst äußert sich nicht zu dem Vorfall. Pia ist zuerst überzeugt, dass das Mädchen den Vorfall erfunden hat. Dann schwindet ihre Überzeugung. Sie beginnt, ihren Sohn mit anderen Augen zu sehen und wird im gegenüber zunehmend misstrauischer. Schnell gibt es Gerede, Pia und Jakob werden aus der Eltern-WhatsApp-Gruppe entfernt. Und Luca schweigt. Pia fühlt sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Damals passierte ein Unglück, das ihre Familie bis heute prägt. Auch da wurde geschwiegen. Bis heute. Pia gerät in einen Strudel aus Gefühlen und Gedanken, der sich immer schneller zu drehen scheint. Im Mittelpunkt steht aber nicht Luca, sondern sie selbst, die Vorfälle in ihrer Vergangenheit und den Umgang ihrer Familie damit.
Wie gesagt, laut Klappentext dreht sich das Buch um einen „Vorfall“ zwischen Luca und einer Klassenkameradin. Das Ereignis gerät nach kurzer Zeit komplett aus dem Focus und Pia rückt in den Mittelpunkt. SIE kann plötzlich ihrem Sohn nicht mehr trauen, SIE sieht ihn mit anderen Augen. Aus der Familienangelegenheit wird schnell ein Psychogramm und eine one-woman-Show mit sehr viel Trauma, Erinnerungen und innerem Monolog. Und immer wieder geistern dazwischen Phantome namens Linda und Pia, deren Bedeutung man sich lange selbst erklären muss.
Das gibt der Leserschaft aber auch sehr viel Raum für ein eigenes Gedankenkarussell, zumindest war das bei mir so. Wie Pia und Luca wuchs ich in einer scheinbar glücklichen Familie auf, bei der man nicht unter die Teppiche schauen sollte, weil so viel darunter gekehrt wurde. Die Familie voller Schweigen und unausgesprochenen Vorwürfen kommt mir bekannt vor, dazu unkontrollierte Gefühlsausbrüche der Mutter, die ihrem Kind misstraut und immer das Schlechteste von ihm annimmt. Die Autorin verarbeitet hervorragend Pias verlorengegangener Mutterinstinkt und ihre Probleme mit der Tatsache, dass Luca und sie sich entfremden, er ihr sogar nicht mehr ähnlichsieht. Aus ihrer Sprache springt einem die entstehende Distanz aller Charaktere zueinander praktisch ins Gesicht, sie ist schlicht, modern und, ja, distanziert.
Distanziert blieb ich auch zu allen Charakteren. Ich konnte zu niemandem Nähe oder Sympathie aufbauen, allerhöchstens ein Funke Verständnis kam ab und zu durch. Aber als Stilmittel fand ich dieses Abstandhalten angemessen. Die Stimmung ist bedrückend, ich habe das Buch zwar in einem Rutsch durchgelesen, das ungute Gefühl im Magen hat mich aber nie verlassen. Der Zwiespalt, in dem sich Pia befindet und der Druck, ihre glückliche Familie nach außen darzustellen, ist in jeder Zeile spürbar, ihre Fassade bröckelt nur ab und zu, dann aber gewaltig. Mit der Tatsache, dass Pia ihrer Schwester Romi auf Instagram folgt, zeigt eines der großen Themen unserer Zeit: jeder, der auf Sozialen Medien einen Account bespielt, wird zur öffentlichen Person. Ihr zu folgen, oder sie zu verfolgen, ist leicht. Aber auch das Gegenteil ist möglich, geächtet und ignoriert wird nicht nur im realen Leben, sondern auch virtuell.
Der Schluss passt zum Buch, ob er befriedigend ist oder nicht, sei dahingestellt. Mit der Tatsache, dass eigentlich weder etwas gelöst noch geklärt wird, kann ich gut leben, es kommt mir aus der eigenen Historie bekannt vor. Und eines ist klar: Kinder sind auch nur Menschen, Eltern aber auch, mit allen Fehlern und Problemen. Für mich hat das Buch so wie es ist hervorragend funktioniert, aber ich bin nicht das Maß der Dinge. Daher spreche ich keine Empfehlung aus, vergebe aber fünf Sterne.

Bewertung vom 02.10.2024
Schwarze Wut / Georgia Bd.7
Slaughter, Karin

Schwarze Wut / Georgia Bd.7


sehr gut

Als Fan der ersten Stunde habe ich „Schwarze Wut“, den fünften Teil von Karin Slaughters „Georgia-Serie“ schon bei seinem ersten Erscheinen 2013 im Original gelesen. Für mich war es wie eine Art Familientreffen, denn man begegnet nicht nur Will Trent und Sara Linton wieder, sondern auch Amanda Wagner, Faith Mitchell und (leider) auch Lena Adams. Es ist ganz sicher nicht Karin Slaughters bestes Buch, dafür fand ich es stellenweise zu komplex und verworren, aber ich habe es mit Begeisterung jetzt in der Neu-Auflage noch ein weiteres Mal gelesen.
Aber von vorn.
Will Trent, Special Agent beim Georgia Bureau of Investigations ermittelt undercover als Bill Black in Macon, Georgia. Dort treibt seit einiger Zeit ein neuer Drogenboss sein Unwesen. Der nennt sich „Big Whitey“ und niemand weiß, wer er eigentlich ist. Tatsächlich glauben einige sogar, es gäbe ihn gar nicht und er sei eine urbane Legende. Will arbeitet als Handwerker im Krankenhaus und ist nebenher als Mitglied in eine Biker Gang eingeschleust. Als er bei einem Einbruch Schmiere stehen soll, wird er Zeuge eines Überfalls. Ausgerechnet Lena Adams, die ehemalige Partnerin von Saras Lintons verstorbenem Mann Jeffrey Tolliver, wird in ihrem eigenen Haus überfallen. Ihr Ehemann Jared wird lebensgefährlich verletzt, Lena tötet einen der Angreifer und verletzt einen zweiten schwer. Im Krankenhaus trifft Will auf Sara, denn Jared ist ihr Stiefsohn (Jeffrey war Jareds Vater). „»Da sind Sie ja in einen ziemlichen Schlamassel hineingeraten, Wilbur.« - dieser Satz von Wills Chefin Amanda Wagner beschreibt nicht einmal annähernd, in was er da tatsächlich hineingeraten ist. Beruflich befindet er sich in großen Schwierigkeiten, denn er muss seine Tarnung aufrechterhalten und in alle möglichen Richtungen ermitteln. Als wäre das nicht kompliziert genug, befindet er sich privat in einem noch größeren Dilemma, denn er hat Sara nicht erzählt, dass er in Lenas Umfeld ermittelt. Sara nimmt ihm diesen Verrat übel. Sie hasst Lena, denn sie macht sie für Jeffreys Tod verantwortlich. Drogenkrieg trifft auf Zickenkrieg.
Wie gesagt, es ist nicht Karin Slaughters bestes Buch. Aber die Komplexität, mit der die Geschichte aufwartet, ist beeindruckend. Ich empfehle niemandem, das Buch ohne Vorkenntnisse aus anderen Teilen der Reihe zu lesen, dafür wird zu vieles angesprochen, was in den Vorgängerbänden passiert ist. Sprachlich ist das Buch hingegen genauso, wie ich es von der Autorin gewöhnt bin – brutal, voller Kraftausdrücke und blutig, es wird geschossen, gestochen und gefoltert. Gefoltert wurde leider auch die englische Originalfassung. Als „Mensch vom Fach“ fielen mir ein paar grundlegende handwerkliche und sehr ärgerliche Fehler in der Übersetzung auf.
Die Geschichte besteht aus drei Erzählsträngen, die nach und nach miteinander verflochten werden. Sie werden aus Sicht von Will, Sarah und Lena erzählt. Und die Autorin springt nicht nur bei den Erzählperspektiven ein bisschen hin und her, sondern auch bei den Zeitebenen. Kapitelüberschriften dienen aber oft als Zeitangabe, sodass die Leserschaft immer weiß, wo man sich in der Geschichte befindet. Die Charaktere sind Kennern der Reihe bekannt, sie werden daher eher aus- als aufgebaut und manchmal habe ich das Gefühl, die Autorin setzt gewisse Kenntnisse einfach voraus. In diesem Band fand ich ihre Beschreibungen der weiblich gelesenen Charaktere wie üblich etwas schwierig, sie sind entweder arrogant und überlegen (Amanda Wagner und Denise Branson) oder agieren unlogisch und stutenbissig/zickig wie Lena und Sara. Will steht wie ein Prellbock dazwischen und manchmal tat er mir wirklich leid. Die anderen männlich gelesenen Charaktere sind samt und sonders üble Machos.
Trotz der vorhandenen Spannung weist das Buch ein paar Längen auf, die ich flott überblättert habe. Ich habe es dennoch gern gelesen und empfehle es jedem Fan der Reihe weiter. Von mir vier Sterne.

Bewertung vom 02.10.2024
Der Weihnachtsmordclub
Tomasson, Ben Kryst

Der Weihnachtsmordclub


gut

Zwar ist es noch ein bisschen früh für Weihnachtsstimmung und Vanillekipferl, aber ich habe mich dennoch an Ben Kryst Tomassons „Der Weihnachtsmordclub“ gewagt. So wirklich in Vorweihnachtsstimmung kam ich mit dem Buch aber auch nicht, es hat mich schlicht nicht vom Hocker gerissen. Zwar ermitteln die „Häkeldamen“, die man aus den „Sylt“-Krimis kennt, wieder einmal in einem Mordfall, die Geschichte weist aber so viele Verdächtige und Motive auf, dass ich sie hoffnungslos überladen und übertrieben fand. Da ich schon einige Bücher des Autors gelesen habe, hatte ich mehr erwartet.
Aber von vorn.
Vorweihnachtszeit auf Sylt und die vier Häkeldamen haben Langeweile. Ihre Kinder haben beschlossen, sie über die Feiertage nicht zu besuchen und Kari Blohm und ihr Mann Jonas Voss verbringen das Fest mit Töchterchen Lotta in Kiel. Bevor ihnen vollends die Decke auf den Kopf fällt, beschließen Marijke, Witta, Alma und Grethe, den Weihnachtsbasar und das Krippenspiel in Archsum zu unterstützen. Schließlich plant die Kirchengemeinde zudem noch einen Back- und Handarbeitswettbewerb, bei dem es Eintrittskarten für ein Musical zu gewinnen gibt. Aber, wie im Umfeld der Damen nicht anders zu erwarten, überschlagen sich die Ereignisse schnell: zuerst verschwindet die Kollekte der Gemeinde, dann ein Strickmuster, danach das Rezept für Vanillekipferl. Dann, als wäre das noch nicht genug Trubel für die kleine Gemeinde, wird die Jugendleiterin vom Stern von Bethlehem erschlagen. Natürlich nehmen die Häkeldamen Ermittlungen auf, wobei sie sich selbst in höchste Gefahr begeben.
Marijke, Witta, Alma und Grethe sind als das lustige Witwenquartett aus den „Sylt“-Krimis bekannt, in denen sie (mehr oder weniger) gemeinsam mit der Undercover Ermittlerin Kari Blohm Kriminalfälle lösen. Jetzt haben sie ihr erstes eigenes Buch bekommen, ich muss aber sagen, dass es dem Autor bei weitem nicht so gut gelungen ist, wie die anderen. Ich fand die Geschichte reichlich übertrieben und überladen. Mich hat die Fülle an Verdächtigen mit schlüssigen Motiven nicht zum Miträtseln animiert, sondern eher dazu, die eine oder andere Seite zu überblättern. Sprachlich fand ich den Roman gelungen, grundsätzlich war er auch unterhaltsam, mehr aber auch nicht. Neben den vier Protagonistinnen sind die anderen Charaktere ein bisschen blass beschrieben, aber jede und jeder hat speziellen Merkmale, allerdings finden sich auch viele Stereotype. Den Häkeldamen muss man jedoch zugutehalten, dass sie im Verlauf der Geschichte einiges dazugelernt haben, wie beispielsweise, dass auch Männer Lidschatten tragen dürfen und dass Hausfrau durchaus ein Beruf ist, sogar eine Vollzeitbeschäftigung.
Lokalkolorit kann bei diesem Buch nicht aufkommen, es spielt überwiegend rund um die Archsumer Kirche. Der Spannungsbogen hielt sich für mich in Grenzen, der Schluss ist stimmig und der Weg zur Auflösung steinig und verworren. Begeistert hat mich das Buch nicht, aber unterhalten. Ich nehme für mich die Erkenntnis daraus mit, dass ich für Cosy Crimes nicht geschaffen bin, was vermutlich als schrullig und charmant gedacht war, fand ich zum Teil einfach nur übertrieben. Das ständige Herumreiten auf den Berufen der verstorbenen Ehemänner („Mein verstorbener Mann Wilhelm war Landarzt in Kampen“ und die häufige Erwähnung der „Bäckerwitwe“) fand ich mit der Zeit ebenso anstrengend wie die Tatsache, dass in jedem Buch die Automarke bis ins Detail genannt wird, dieses Mal ist es ein schneeweißer Toyota Corolla Cross Hybrid. Ein nettes Extra ist aber das Rezept für Vanillekipferl am Schluss. Von mir gibt es drei Sterne.

Bewertung vom 02.10.2024
Dunkler Abgrund
Lillegraven, Ruth

Dunkler Abgrund


weniger gut

Kaltblütige Karrieristin geht über Leichen. So könnte man „Dunkler Abgrund“ von Ruth Lillegraven ganz kurz zusammenfassen. Wer „Tiefer Fjord“ kennt, dem ist Clara Lofthus vermutlich noch im Gedächtnis. Während der erste Teil der Reihe mich begeistert hat, konnte dieses Buch bei mir nur mäßig punkten. Die Geschichte fand ich völlig abstrus, die Spannung fehlte für mich gänzlich und die Charaktere waren samt und sonders unsympathisch und undurchsichtig. Schade, ich hatte mich auf das Buch sehr gefreut.
Aber von vorn.
Die ehemalige Sachbearbeiterin im Justizministerium war im ersten Teil der Serie zur Staatssekretärin ernannt worden, jetzt ist sie Justizministerin von Norwegen. Außerdem ist sie seit dem mysteriösen Tod ihres Mannes Haavard (er ertrank, seine Leiche wurde nie gefunden) verwitwet und alleinerziehende Mutter von achtjährigen Zwillingen. Sie erhält Drohbriefe von jemandem, der scheinbar weiß, was sie getan hat. Diese ignoriert sie, was sich als ein Fehler herausstellt. Eines Abends der Schock: Andreas und Nikolai sind verschwunden, ein Zettel auf dem Küchentisch macht klar, dass die beiden Jungen entführt wurden. Schlagartig holt Clara ihre Vergangenheit ein, zudem führt die Spur zu ihren Kindern in das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Sie hat, wie im ersten Teil der Serie beschrieben, mehrere Menschen getötet. Hat Sabiya Rana, die Kollegin und Affäre ihres Mannes, die sie im ersten Teil ins Gefängnis gebracht hat, beschlossen, sich an Clara zu rächen? Sie hat durch Claras Intrigen alles, nicht zuletzt ihre Familie mit den drei Kindern, verloren, wurde wegen mangelnder Beweise aber inzwischen aus der Haft entlassen. Aber die Liste derer, die sich an ihr rächen könnten, ist noch länger. Schafft Clara es zusammen mit ihrem Leibwächter Stian, ihre Söhne zu finden?
„Mit dem Cliffhanger legt die Autorin die Latte für den nächsten Band sehr hoch“ – das habe ich in der Rezension zu „Tiefer Fjord“ geschrieben. Leider konnte Ruth Lillegraven meine Erwartungen nicht einmal annäherungsweise erfüllen. Die Geschichte in „Dunkler Abgrund“ ist sehr stark konstruiert, die Charaktere für mich zu zahlreich und auch die Sprache konnte bei mir auch nicht punkten. Vor allem die Wortwahl bei den Gedankengängen der achtjährigen Zwillinge lag die Autorin für mich meilenweit daneben. Keine Ahnung, ob es an der Übersetzung liegt (die hat auch sonst noch ein paar handwerkliche Fehler), oder ob sie den Jungen wirklich solche erwachsenen und weisen Worte in den Mund legen wollte, vor allem Andreas ist so altklug, dass es wirklich unrealistisch ist. Was mich an dem Buch allerdings wieder beeindruckte, waren die Charaktere. Zwar waren es für mich zu viele und nicht alle etwas zur Geschichte beitragen, aber sie sind in all ihrer Bösartigkeit liebevoll ausgearbeitet. Auch in diesem Buch hat jeder irgendein dunkles Geheimnis, vor allem natürlich Clara, die nicht nur dunkle Geheimnisse, sondern echte Leichen im Keller hat.
Konzeptionell fand ich die vielen Erzählstränge gut gelungen, man bekommt als Leser:in Einblicke in alle möglichen Aspekte der Geschichte und erfährt eine Menge Hintergrundinformationen. Die Handlung selbst fand ich sehr konstruiert und oft nicht nachvollziehbar oder gar logisch. Spannung fehlte mir völlig, das bisschen, das sich zwischendurch aufbaut, wird durch die ausufernden Gedankengänge von Andreas zerredet, der seinen Vater sehr vermisst. Die Zwillinge sind auch die einzigen, die mir in dem ganzen Buch wirklich ans Herz gewachsen sind. Der Schluss hat mich nicht überrascht, der war für mich schon sehr früh absehbar.
Trotz der Enttäuschung bin ich auf den letzten Teil der Trilogie gespannt. Möglicherweise brachte dieses Buch hier wichtige Einblicke in Claras Vergangenheit und ihre Familienstruktur, falls nicht, hätte man es vermutlich auch ersatzlos weglassen können. Von mir für das bisschen Spannung und die Tatsache, dass ich mit Nikolai und Andreas etwas mitfiebern konnte, zwei Sterne.

Bewertung vom 02.10.2024
Die tote Wassernixe
Edvinsson, Anki

Die tote Wassernixe


ausgezeichnet

„Die tote Wassernixe“ ist der zweite Teil der „von Klint und Berg“-Serie von Anki Edvinsson und das erste Buch der schwedischen Autorin, das ich gelesen habe. Und, was soll ich sagen: es hat mich begeistert. Schande über mich, dass ich den ersten Teil „Der tote Schnee-Engel“ noch nicht kenne. Die Geschichte ist unglaublich spannend erzählt, vielseitig und vielschichtig konstruiert und wartet am Schluss mit einem überraschenden Paukenschlag auf. Was will man von einem Krimi mehr?
Aber von vorn.
Im nordschwedischen Umeå kommt es innerhalb von vier Wochen zu vier Raubüberfällen. Eine Jugendbande treibt ihr Unwesen, mutmaßlich handelt es sich dabei um drei Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Bevölkerung fordert Ermittlungsergebnisse, vor allem der Vater eines der Opfer schwört Rache. Während die Polizei mit Hochdruck arbeitet, passiert ein grausamer Mord, der die ganze Aufmerksamkeit von Charlotte von Klint und Per Berg fordert. Eine Frau in den Fünfzigern wird ermordet unter am Kai unter der Tegsbrücke gefunden. Die Leiche weist Verletzungen auf, die möglicherweise durch Folter entstanden sind, dazu wurden der Frau alle Zähne gezogen. Kurz darauf erschüttert ein Selbstmordattentat die Stadt. Ausgerechnet einer der Jugendlichen, die bezüglich der Raubüberfälle im Fokus der Ermittler stehen, sprengt sich auf dem Rathausplatz in die Luft. Aber irgendetwas kommt Charlotte von Klint an der ganzen Sache seltsam vor. War es überhaupt ein Selbstmord? Während die Polizei noch in aller möglichen Richtungen ermittelt, überschlagen sich die Ereignisse und die Zeit wird knapp.
„Die tote Wassernixe“ bietet für mich alles, was ich von einem Krimi erwarte. Einen sich konstant aufbauenden Spannungsbogen, eine gut konstruierte, vielseitige und vielschichtige Geschichte und ein bisschen Privatleben der Ermittler. Deshalb kann das Buch bei mir auf ganzer Linie punkten. Sprachlich fand ich es sehr ansprechend, auch die Übersetzung ist handwerklich gut gelungen. Die Charaktere, egal, ob Protagonisten oder „Nebenrollen“ sind mit Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen sehr detailreich ausgearbeitet und die Exkurse in ihr Privatleben boten ein gutes Gegengewicht zu den Ermittlungen in den grausigen Fällen. Der Kampf von Pers Frau Mia gegen Krebs und Charlottes noch frisches Liebesglück mit ihrem Kollegen Ola machen die Ermittler nahbar und sympathisch. Obwohl ich den ersten Teil der Reihe noch nicht kenne, konnte ich der Handlung problemlos folgen, etwaige Lücken füllt die Autorin durchweg auf, sodass man auch ohne Vorkenntnisse Spaß an dem Buch haben kann. Die Geschichte erstreckt sich über einen Zeitraum von rund zwei Wochen und wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, was dem Spannungsbogen sehr zuträglich ist. Konzeptionell ist der Prolog hervorragend gewählt. Ein Teil der Geschichte spielt in den acht Tagen davor, der Rest etwa in der Woche danach.
Mit ihrem Krimi greift Anki Edvinsson gleich mehrere hochaktuelle und brisante Themen auf, vor allem natürlich (illegale) Migration und Ausländerfeindlichkeit. Sie beschreibt in diesem Zusammenhang (rassistisch geprägte) Vorurteile, aber auch die rosarote Brille Verliebter. Insgesamt war das Buch für mich ein absoluter Pageturner, der Schluss ist stimmig und hat mich tatsächlich vollkommen überrascht. Einzig die Assoziation der ersten Toten mit einer Wassernixe aufgrund des Designs ihrer Hose und der Auffindesituation der Leiche (Design der Hose, die auf der Wasseroberfläche treibenden Haare), fand ich sehr konstruiert. Aber damit passt der Titel zumindest im Deutschen zum Vorgänger-Band „Der tote Schnee-Engel“ und zeigt deutlich, dass es sich hier um eine Serie handelt. Ich bin gespannt, wie der nächste Teil heißt, ich freue mich auf jeden Fall darauf. Dieses Buch hier macht ganz sicher Lust auf mehr, zumal es mit einem fulminanten Cliffhanger endet. Ich gebe dafür gerne eine Lese-Empfehlung ab und vergebe fünf Sterne.

Bewertung vom 16.09.2024
Waiseninsel / Jessica Niemi Bd.4 (eBook, ePUB)
Seeck, Max

Waiseninsel / Jessica Niemi Bd.4 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Keine Ahnung, wie mir das passieren konnte, aber bislang kannte ich den finnischen Autor Max Seeck noch nicht. „Waiseninsel“ heißt der vierte Band seiner Serie um die Kriminalbeamtin Jessica Niemi, die in Helsinki ihren Dienst tut. Das Buch hatte auf mich eine starke Sogwirkung, einmal damit angefangen, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Keine Ahnung, wie gut oder schlecht die anderen Teile der Reihe sind, „Waiseninsel“ hat mich gepackt und begeistert.
Aber von vorn.
Jessica Niemi kämpft. Psychologisch gegen ihre Dämonen (man erfährt etwas über die Schizophrenie ihrer Mutter, ihre eigenen Halluzinationen und andere psychische Probleme weswegen sie in Therapie ist) aber auch physisch gegen den Hausmeister eines Mehrfamilienhauses, der sie bedrängt. Da dies gefilmt und im Internet veröffentlicht wird, schickt ihre Chefin sie in Zwangsurlaub. Dass die Reise sie ausgerechnet auf die zwischen Finnland und Schweden gelegenen Åland-Inseln führt, ist Zufall. Aber statt dort Ruhe und Erholung in einem kleinen Hotel zu finden, trifft sie auf die „Zugvögel“, eine kleine Gruppe Menschen über 80, die sich dort jährlich trifft. Als Kinder waren sie nach dem Zweiten Weltkrieg (genauer gesagt, nach dem Winter- und dem Fortsetzungskrieg) 1946 auf der Insel Smörregård im Kinderheim untergebracht. Ursprünglich sollten sie auf der Insel ihre Eltern treffen, nachdem sie im Krieg in die anderen skandinavischen Ländern in Sicherheit gebracht worden waren. Deren Schiff sank allerdings und die neun Kinder waren Waisen. Auch damals existierte Mobbing unter den Kindern, vor allem Maija litt unter der älteren Beth und ihren Freundinnen. Eines Nachts verschwand sie spurlos. Seither kursiert die Legende vom „Mädchen im blauen Mantel“. Das Mädchen wird immer wieder auf der Insel gesehen, meistens am Bootssteg, so auch 1982, als der Nachtwächter des Kinderheims zu Tode kommt, der auch schon 1946 dort war. Und jetzt, 2020, stirbt kurz nach der Ankunft ein Mitglied der „Zugvögel“ und die Zeichen stehen auf Mord. Jessica ermittelt heimlich, ausgebremst vom örtlichen Polizisten Johan Karlsson. Jessica fürchtet, dass auch die übrigen „Zugvögel“ in Gefahr sind, und möchte dem Mörder zuvorkommen.
Der Krimi war für mich ein überraschend wilder Ritt. Eine überaus düstere und mysteriöse Atmosphäre trifft auf einen historischen Hintergrund. Die Geschichte spielt in drei Zeitebenen: 1946 begleiten wir Maija in ihrem trostlosen Leben im Kinderheim. 1982 den Nachtwächter Martin bis zu seinem Tod am Bootssteg. Der umfangreichste Erzählstrang ist die Gegenwart, in der die Leserschaft von einem neutralen Erzähler das erfährt, was Jessica erlebt und was sie umtreibt. Für mich als Neuling in der Serie waren das fürs Verständnis wichtige Einblicke in ihr Leben und ihre Vergangenheit.
Die Spannungskurve des Buchs fand ich hervorragend, gegen Ende wurde es für mich fast unerträglich spannend, vor allem, da es einige Wendungen gibt. Die Atmosphäre wird vom Autor sehr gut ausgearbeitet. Die abgeschottete Insel, die wenigen Menschen, das ehemalige Waisenhaus, das eher an eine Kaserne erinnert als an eine Umgebung, in der Kinder aufwachsen sollen – das alles bietet Potenzial für Unbehagen und Gänsehaut. Dazu kam für mich ab und zu ein Gefühl der Surrealität. Ist das Mädchen im blauen Mantel nun eine Legende oder gibt es einen realen Aspekt. Jessicas Halluzinationen, Klarträume und „Gespräche“ mit nichtexistenten Personen machten das Ganze für mich nicht einfacher zu verstehen, aber umso gruseliger. Und dazu kommen dann die Morde und zahlreiche Verdächtige. Natürlich kann man das Setting als altbekannt und unoriginell sehen, natürlich hat man Krimis dieser Art schon hunderte Male gelesen, das fällt sogar dem Ermittler Johan Karlsson im Gespräch mit Jessica auf: „»Das ist ja wie eine Mischung aus Agatha Christies besten Werken«“. Mich hat das Buch trotzdem auf ganzer Linie überzeugt und begeistert. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 16.09.2024
Der letzte Atemzug / Kommissar Johan Rokka Bd.6
Ullberg Westin, Gabriella

Der letzte Atemzug / Kommissar Johan Rokka Bd.6


ausgezeichnet

Seit meiner ersten „Begegnung“ mit Johan Rokka in „Der Schmetterling“ bin ich ein Fan der schwedischen Krimi-Serie von Gabriella Ullberg Westin, deren Protagonist er ist. Mit „Der letzte Atemzug“ hat die Autorin bereits den sechsten Teil der Reihe vorgelegt und das Buch hat mich, wie erwartet, in seinen Bann gezogen. Stilistisch ist es genauso das, was ich mag. Am Inhalt hatte ich zugegebenermaßen etwas zu knabbern. Schweden droht der Ausbruch einer Pandemie und da wir uns ja immer noch mitten in der Corona-Pandemie befinden, musste ich an vielen Stellen heftig schlucken. Dennoch: für mich war es ein spannender und bedrückend aktueller Krimi mit einigem aus dem Privatleben (auch aus der Vergangenheit) der Ermittler Johan Rokka und Janna Weissmann.
Aber von vorn.
Eine junge Frau kommt verletzt in die Notaufnahme des Krankenhauses von Hudiksvall. Sie verweigert jegliche Auskunft, sowohl zu ihrer Identität als auch zur Herkunft ihrer Verletzungen. Parallel dazu ist die Beziehung zwischen Kriminalinspektor Johan Rokka und der Kriminaltechnikerin Janna Weismann kompliziert. Die beiden, die sich zwischenzeitlich nähergekommen waren, gehen getrennte Wege. Rokka hat mit der ehemaligen Krankenschwester und jetzigen Yoga-Lehrerin Elina eine Partnerin gefunden. In letzter Zeit wurden einige Frauen in der Abenddämmerung überfallen, eines Abends trifft es auch Janna. Ihre Hündin Jazz kann Schlimmeres verhindern, wird aber kurze Zeit später vergiftet. Sind es dieselben Täter wie bei den anderen Frauen oder stecken bei dem Überfall auf Janna andere Motive dahinter? Die Unbekannte im Krankenhaus wird zunehmend kränker und nach und nach wird allen klar: sie könnte Patient 0 einer neuen Pandemie sein, denn ihre Symptome weisen auf eine Art Pockeninfektion hin. Mit wem war die Patientin in Kontakt? Wie groß ist die Gefahr der Pandemie tatsächlich? Bei den Ermittlungen läuft Rokka und seinen Kollegen die Zeit davon.
„Der letzte Atemzug“ erschien im Original im März 2020, ganz zu Anfang der Corona-Pandemie. Auch deswegen fand ich das Buch zum Teil schwere Kost. Der Umgang mit (drohenden) Pandemien, die Naivität, gut vorbereitet zu sein – das alles war für mich schwer zu ertragen, vor allem mit Hinblick auf den schwedischen „Sonderweg“ bei der Corona-Pandemie, der unzählige Menschen das Leben gekostet hat. Das hat aber direkt nichts mit dem Buch zu tun. Das fand ich sehr spannend und gut und stimmig ausgearbeitet, der Spannungsbogen war für mich fast konstant sehr hoch. Sprachlich fand ich es sehr ansprechend, die Beschreibungen sind bildhaft und bei den medizinischen und biologischen Details konnte ich keine Fehler finden. Die Protagonisten sind wie gute alte Bekannte, die seit dem ersten Teil der Serie weiterentwickelt werden. So waren für mich die Exkurse ins Privatleben von Rokka und Janna angenehme Pausen von der nach und nach immer stärker werdenden Spannung. Pelle Almén kam für mich ein bisschen zu kurz, er fällt hauptsächlich durch seine Germophobie auf und ist immer auf der Suche nach Desinfektionsmittel. Ihn wollte ich anbrüllen: „Handdesinfektion hilft nicht bei luftübertragenenen Viren!“
Der Schluss nach einigen interessanten Plot Twists war schlüssig und natürlich darf ein Cliffhanger nicht fehlen. Erzählt ist die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven von einem neutralen Erzähler, so ist die Leserschaft beispielsweise einerseits der Polizei bei den Plänen des Täters einen Schritt voraus, tappt aber hinsichtlich seiner Identität und Motive genauso im Dunklen wie die Ermittler. Zwar hatte ich früh eine Ahnung, worauf alles hinauslaufen würde, manche Zusammenhänge haben mich aber trotzdem überrascht. Es ist der sechste Teil der Reihe, man kann ihn problemlos ohne Vorkenntnisse lesen, die anderen Bücher sind aber ebenso lesenswert und die Beziehung zwischen Rokka und Janna kann man sicher besser verstehen, wenn man Hintergründe kennt. Ich fand „Der letzte Atemzug“ spannend und bedrückend realistisch. Von mir gibt es fünf Sterne.

Bewertung vom 16.09.2024
Die Vermisste von Holnis
Johannsen, Anna

Die Vermisste von Holnis


sehr gut

Mit „Die Vermisste von Holnis“ geht Anna Johannsens „Inselkommissarin“ Lena Lorenzen schon in die elfte Runde. Für mich war es erst das zweite Buch aus der Reihe, allerdings bin ich ein „altdgedienter“ Fan der Enna-Andersen-Serie der Autorin. Und auch dieser Krimi hat mich nicht enttäuscht, er war zwar nur leidlich spannend, aber durchaus unterhaltsam und eine angenehme Lektüre mit viel norddeutschem und dänischen Lokalkolorit. Auch Einblicke in das Privatleben der Ermittler kommen nicht zu kurz. Für mich ein lesenswertes Buch.
Aber von vorn.
Als in der Nähe der dänischen Stadt Odense die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, finden die dänischen Polizisten zu ihrer Überraschung bei ihr einen sehr gut gefälschten Ausweis. Als sich herausstellt, dass es sich in Wirklichkeit bei der Toten um die vor vier Jahren in Deutschland verschwundene Sophia Jepsen handelt, beginnt eine deutsch-dänische Zusammenarbeit zwischen Der Inselkommissarin Lena Lorenzen und ihrer Kollegin Naya Olsen. Aus dem alten Cold Case wird ein neuer Fall, aus dem spurlosen Verschwinden ein Tötungsdelikt. Die beiden Polizistinnen ermitteln akribisch im Umfeld von Sophia, befragen ihre Familie und alte Freundinnen und stoßen immer auf dasselbe: Sophia hatte sich vor ihrem Verschwinden sowohl optisch als auch charakterlich sehr verändert. Sie habe die Haare wachsen lassen und sich nicht mehr geschminkt, insgesamt sei sie erwachsener gewesen und, wie die ehemaligen Freundinnen erzählen, verliebt in einen Mann, aus dem sie ein großes Geheimnis gemacht hat. Waren es „übliche Teenagerwirren“ und ist sie damals mit einem Mann weggelaufen? Als die Gerichtsmedizin dann feststellt, dass Sophia längere Zeit vor ihrem Tod ein Kind geboren hat, läuft den Ermittlerinnen die Zeit davon. Lebt das Kind noch? Und wenn ja, wo ist es?
„Die Vermisste von Holnis“ war für mich eine angenehme Lektüre für Zwischendurch. Der Krimi besticht zwar nicht durch einen übermäßig hohen Spannungsfaktor, aber die Vielschichtigkeit der Geschichte sorgte dafür, dass ich das Buch nur schwer aus der Hand legen konnte. Die psychologische Komponente fand ich gut herausgearbeitet, wobei der eine oder andere Aspekt für mich ein bisschen zu oberflächlich behandelt wird. Da es aber sehr viele verschiedene Aspekte sind, die die Ermittler auf dem Weg zur Auflösung beleuchten müssen, würde eine tiefere Ausarbeitung vermutlich den Rahmen eines Romans sprengen. Gut beschrieben fand ich die charakterlichen Veränderungen der bei ihrem Verschwinden 16jährigen Sophia. Da konnte man als Leser:in so richtig schön miträtseln, was die Ursache dafür war. Die unterschiedlichen Möglichkeiten sind logisch und stimmig, mehr möchte ich dazu nicht sagen, ich möchte nicht spoilern. Die Charaktere sind für Kenner der Serie sicher einfacher zu verstehen, ich als quasi Neuling musste mich da ein bisschen einfinden, da mit Zusammenhänge zwischen Lena, Naya, Erck, Ole und wie sie alle heißen, fehlten. Aber Anna Johannsen tut ihr Bestes, auch hier keine Lücken entstehen zu lassen.
Keine Lücken gibt es auch bei der Auflösung des Falls, die gut und stimmig ist. Der Weg zur Lösung ist verworren, es gibt einige potenzielle Täter, einige mögliche Motive und dazwischen einiges an Privatleben, vor allem bei Naya Olsen. Die dänische Ermittlerin hat grönländische Wurzeln und kämpft mit ihrer Identität und ihrer Herkunft. Durch sie erfährt man einiges über grönländische Traditionen und die Probleme der indigenen Völker dort. Hier streift Anna Johannsen ein wenig die Gesellschaftskritik. Sie spricht sowohl die Folgen der Kolonialisierung Grönlands durch die Dänen an als auch das Robbenjagdverbot. Der Schreibstil von Anna Johannsen ist wie immer angenehm, die Geschichte an sich weitgehend unblutig und (bis auf den eigentlichen Mord) gewaltarm.
Für mich war das Buch auf jeden Fall eine runde Sache und macht mir Lust auf mehr. Von mir daher wegen der zögerlichen Spannung solide vier Sterne.