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Volker Jentsch

Bewertungen

Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 23.12.2018
Herkunft
Strauß, Botho

Herkunft


sehr gut

Ein Buch für ungestörte Stunden
Über Herkunft und Leben von bekannten und weniger bekannten Leuten gibt es vermutlich allein im deutschen Sprachraum fast unendlich viele Bücher. Dieses Buch, von Botho Strauß verfaßt, halte ich für ein besonderes. Es handelt sich um die aneinandergereihten Szenen aus dem Leben seiner Familie, die fünfzig, sechzig und mehr Jahre zurückliegen: sie erzählen über den kriegsversehrten, Form und Charakter haltenden, strengen gleichwohl liebevollen, kultivierten Vater, die von Frohsinn geprägte (schöne) Mutter, eine gütige Großmutter, inspirierende Lehrer und immer wieder über die kleine Stadt am trägen Fluß. Vorgetragen in behutsamer, jedes Wort wägende, erfindende, hochgradig empfindliche Sprache. Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn nachzeichnend, Eigenschaften nachsinnend, die der Vater dem Sohn, durch sein Verhalten, seine bloße Existenz, aufgeprägt hat. Eine schmerzliche Stimmung geht durch das Buch, unvermeidbar wohl, wie aus ähnlichen Büchern bekannt, wenn der Autor dem Unwiederbringlichen nachtrauert, die Arglosigkeit und Beherztheit des Heranwachsenden, für Augenblicke zumindest, zurückwünscht.
Besonders stark die Passage über die Mutter (S.79-81), die erst gegen Ende des Buches größere Beachtung findet, die ich in Form und Inhalt gerne auch über meine Mutter hätte schreiben wollen...
Natürlich sehe ich mich auch in diesem Buch mit dem für Strauss charakteristischen Dickicht seiner Tiefenreflexionen konfrontiert, die mir im Sinn verschlossen, in ihrem Pathos übermäßig erscheinen. Seite 48 bietet ein beredtes Beispiel. Was ist ein atmosphärischer Gewinn? Was die Weißung des Wissens? Oder Seite 62: „Akute Erinnerung kennt nur Damals-Unmittelbarkeit, Damals-Überwältigung“. Ich wäre auch neugierig auf sein neues Haus in Berlin (oder der Uckermark?), „das keine weiblichen Höhlungen besitzt.“ Vieles mehr ließe sich anführen, was besser unterbleibt, würde es doch allein dadurch unverständlicher, weil aus dem Kontext genommen.
Ein Buch für ungestörte Stunden, in der einsamen Berghütte vor dem Schlafengehen, zum Beispiel.

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Bewertung vom 23.12.2018
Sieben Nächte
Strauß, Simon

Sieben Nächte


gut

Sieben Nächte Schaum vorm Mund

Dieses Buch ist die trotzige Antwort auf die Verhaltensweisen des wohlmeinenden deutschen Durchschnittsmenschen: der Autor möchte anders sein, mutig sein, männlich sein, die Gefahr nicht scheuen, Gefühle kultivieren. Das ist nichts Neues, erinnert an die romantische Sturm und Drang Attitüde, ins 21.Jahrhundert transponiert. Allerdings mit einem modernen Sound, der aggressiv-pointiert-boshaft die Lächerlichkeiten aufspießt, denen nicht nur der Autor, sondern wir alle auf der Straße, in den Geschäften, in den Netzen und den Bars, sofern wir letztere aufsuchen, Tag für Tag begegnen. Ja, das Buch hat mich immer wieder zum Lachen gebracht. Der Ton ist das Beste daran.
Alles andere halte ich für wenig geglückt. Allem voran die ungeschickte Dramaturgie um die sieben Totsünden, den Pakt mit dem Teufel (?), der nicht aufgeht – eine blasse Konstruktion, die dem Buch eher schadet als nützt.
Im Übrigen: hier schreibt ein Privilegierter über seinen Traum, ein Ungebändigter zu werden, der stark genug ist, um sein eigenes, von Vorschriften freies Leben zu führen. Würde es Realität, würde dieser schon jetzt Gebändigte davor flüchten. Das gibt er freimütig zu. Also alles nur geschrieben, um Aufsehen zu erwirken? Ja und nein. Immerhin habe ich, ein eher alter Mann, das Buch des eher jungen Mannes mit Vergnügen gelesen.
Anders sein, mutig werden, die Gefahr nicht scheuend, wem daran wirklich gelegen ist, wird sich Ernsthafterem zuwenden, wie etwa dem „Empört Euch“ von Stephane Hessel.

Bewertung vom 23.12.2018
Die Hauptstadt
Menasse, Robert

Die Hauptstadt


gut

Brüsseler Allerlei
Würde ich das Buch kommentieren, wenn es landauf, landab mit weniger Lorbeer behängt worden wäre? Ich würde nicht. Schon gar nicht, wenn dessen Kapitel mit Untersprüchen beschwert werden („Wenn wir in die Zukunft reisen könnten, hätten wir noch mehr Distanz“, u.a.), deren Sinn und Zusammenhang mit dem Folgenden mir regelmäßig verschlossen blieben. Und dennoch tu ich es. Korrumpiert vom vielen Lorbeer?
Ich konzentriere mich auf eine Gestalt in Menasses Werk, eine von den vielen, die durch Brüssels Straßen, Kneipen, Gebäude laufen, vielleicht doch eher irren, essen, schlürfen, schwitzen, intrigieren, von ihren körperlichen und psychischen Schmerzen und der unaufhörlichen Hitze gepeinigt werden. Auf eine aus dem umfangreichen „Personal“ (Bezeichnung von S. Prokopp, einer Amazon-Kommentatorin): den Herrn Professor Erhart. Dieser gelehrte Österreicher hält eine aufrührerische Rede vor einem von der EU finanzierten „think tank“. Es geht um Europas Zukunft, insbesondere die wirtschaftliche. Nach mehreren Anläufen, die vom Autor unterbrochen werden, weil es zwischendurch auf jeweils hundert Seiten ja auch anderes zu berichten gibt (so daß ich immer wieder rekapitulieren mußte, wer denn bloß noch dieser Erhart ist), kommt es endlich. Es muß etwas Großes kommen, es muß der Kulminationspunkt des Romans sein, dachte ich, was sonst hätte die gespreizten Wege von Erhart durch Brüssel gerechtfertigt, bis er loswerden kann, was ihm auf den Nägeln brennt? Doch der Berg kreißte und gebar eine Maus. Das Elend der Ökonomie, so Erhart, sei ihr nationalistischer Charakter. Und Auschwitz müsse europäische Hauptstadt werden.
Alles in allem: ein Buch mit bescheidener Dramaturgie, ein Behälter für Geschichten und Gestalten, die den berühmten roten Faden vermissen lassen. Die Bücher von Menasses Schwester Eva gefallen mir besser. Der Bruder wird’s mir verzeihen.

Bewertung vom 09.02.2018
Die Weisheit der Wölfe
Radinger, Elli. H.

Die Weisheit der Wölfe


sehr gut

Das Menschliche im Wolf

Oder das Wölfische im Menschen? Wenn der Wolf in eine Schafherde einbricht, reißt er nicht eins, um seinen Hunger zu stillen, sondern gleich alle, um seine Gier zu befriedigen.
Die Autorin will der Leserschaft weismachen, daß kein Tier dem Menschen so nahe kommt wie der Wolf. Mehr noch: Menschen können vom Wolf lernen, was Gemeinsinn und respektvollen Umgang betrifft. Sie stützt ihre Werbung auf Vermutungen, die auf eigenen Beobachtungen basieren. Die entbehren nicht einem gewissen Reiz und lassen den Wolf tatsächlich als fürsorgliches, soziales, sensibles, überaus bemerkenswertes Tier erscheinen. Da auch ich dem Wolf viel abgewinnen kann (ohne ihn allerdings im Mindesten zu kennen), habe ich das flott geschriebene und schön bebilderte Buch gerne gelesen. Auch wenn Frau Radinger in ihrer Liebe zum Wolf gelegentlich weit über das Ziel hinausschießt. Aber Liebe macht ja bekanntlich blind.
Interessant fand ich, was die Autorin unter der albernen Überschrift „Nur mal kurz die Welt retten“ ausführt. Hier geht es um die Wirkung des Wolfs auf das Ökosystem. Die Wechselwirkungen sind wie ich vermute, beileibe noch nicht vollständig erforscht und verlangen Computermodelle, in denen mehr als nur die einfachen Räuber-Beute Beziehungen wiedergegeben werden (auch wenn diese schon überraschende Resultate hervorbringen). Es werden, ganz im Sinne der Autorin, mehr Variable berücksichtigt werden müssen und mehr Daten benötigt, um die Wirkung von der Wiederbelebung des Wolfs in unseren Wäldern realistisch abschätzen zu können.

0 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.02.2018
Die grüne Grenze
Fargo Cole, Isabel

Die grüne Grenze


gut

„Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine – Heinrich Heine“

Ein Mann zwischen zwei Frauen. Drumherum die DDR: Ost-Berlin und das waldreiche Grenzgebiet am Fuße des Harzer Brocken. Der Mann heißt Thomas, viele Frauen langen nach ihm. Aber er ist beileibe kein normaler Frauenheld. Denn er hat es schwer mit sich selbst: ihm schwindelt, er leidet unter Atemnot, ihm wird schlecht, er ist verwirrt und verkrampft sich, ein hochgradig empfindlicher und ständig erregter Mann, oben wie unten. Editha, die Bildhauerin, die eher normale, zieht Thomas nach Elend in den Harz, dicht an die „grüne Grenze“. Dort kommt Tochter Eli zur Welt. Dort scheitert er an seinem zweiten Roman.
Ab Seite 251 des Buchs beginnt es, konkreter zu werden. Die Geschichte wird von den Anfängen her aufgeblättert. Thomas ist ein deutsches jüdisches Kind, das von einem sowjetischen Soldaten am Ende des Krieges gefunden und aufgenommen, Jahre später an Zieheltern in Berlin weitergereicht wird. Thomas geht mit Lena, verfaßt seinen Erstlingsroman. Der soll sein Schritt ins Leben, ins Normale sein. Und in der Tat, er macht damit Karriere, aber verliert darüber Lena. Sie hat ein Geheimnis. Thomas hat auch mit Lena eine Tochter gezeugt. Sie heißt Vera und hat das Zeug, eine Malerin zu werden.
Der Schluß absurd, angeklebt, entrückt: Eli geht über die Grenze, findet dort Kiisika (Vera?) mit Eda (Lena?); Wolfgang und Kuno, aus dem Nichts gekommene Grenzsoldaten, schießen eine Schwalbe und beenden damit, endlich! die Geschichte.
So viele Geheimisse, so viele Unklarheiten. Die bestimmen auch die Schreibweise der Autorin. Sie ringt mit den Wörtern und Sätzen, möchte auf jeden Fall auch im Stil das Normale hinter sich lassen. Aufgedrehte Satzfiguren, angefangene, nicht zu Ende gebrachte Sätze, unlogische Verknüpfungen, erzwungene Widersprüche, Trivialitäten. Beispiel? „Im Sommer waren alle Sommer war überhaupt alles aufgehoben.“ So viel schiefes Pathos. Beispiel? „Draußen kam ein Wind auf, ein langes Einatmen, das seine flache Atmung löste. Er holte tief Luft und stieß sie aus und wartete, daß auch der Wald ausatmete. Lange war nur weitgespannte Stille. Beim nächsten Windzug war er schon ruhig. Er öffnete die Augen und erkannte erleichtert die Ordnung der Möbel. In den Erkerfenstern glommen die Wolken...“ Oder: „Thomas blieb zurück, es atmete um ihn herum.“ Oder: „Es war der Aufbruch, das Gefühl von: schon.“
Nichts für ungut. Es gibt auch zahlreiche gelungene, sehr zärtliche Bilder. Hier ist eins: „Er lief mit den Stiefeln durch den Laden, sie paßten. Und er war wieder bei sich. Er wollte keine Siebenmeilenstiefel, sondern welche für die kleinen Schritte. Schließlich lief von nun an seine Tochter mit.“ Und hier ein anderes, zu Weihnachten: „...packte den kalten klebrigen Stumpf einer Fichte, die Schnee und Wind ins Haus schleppte und mit den Ästen um sich schlug.“
Eine Geschichte, die um zwei Bücher kreist, das eine vollendet und das andere aufgegeben (stimmt das, Frau Cole?). Alles andere als spannend. Eine Sprache, die mir zu pathetisch und wenn sie kunstvoll sein soll, zu künstlich ist. Eine Umgebung, die mit den bekannten Ereignissen vorbeizieht, ohne neuerlichen Erkenntnisgewinn: Ulbrich, Dubcek, Honecker, Stalin, Havemann, Ungarn, natürlich auch Biermann, der kleine laute eitle, inzwischen so lächerliche; Passierscheine, Sperrgebiet, Sondergenehmigung, Überwachung, Schriftstellerkongreß. Die gesammelte Hoffnungslosigkeit der Andersdenkenden.
Frau Cole, so scheint mir, hat mit diesem Buch eine Herzensangelegenheit aufgeschrieben. Deshalb tut mir weh, zu sagen, was ich nicht lassen kann: ich habe mich gequält, das Buch zu Ende zu lesen. Ich habe es geschafft, aber ich war erschöpft und gezeichnet; von der Langeweile, der Langatmigkeit und der Undurchsichtigkeit des Buches. 500 Seiten „Gezischel“, das war zu viel, 250 Seiten hätten gut und gerne ausgereicht. Ob das geholfen hätte?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.12.2017
The Sympathizer
Nguyen, Viet Thanh

The Sympathizer


sehr gut

Nichts für zarte Seelen: Die vielen Gesichter des Vietnam-Kriegs.

Würde ich dieses Buch ein zweites Mal lesen? Nie und nimmer. Es ist absurd, ja, aber wohl auch sehr tatsächlich; es ist, trotz erheiternder Momente, von Anfang bis Ende nichts anderes als schmerzhaft. Es erzählt Unmenschliches. Der Held des Buches: Ein gespaltener Vietnamese, halb auf der Seites des Vietcong, halb auf der Seite des CIA; halb moralisch, halb unmoralisch, halb pazifistisch und halb mörderisch. Mit und ohne Gewissen, je nachdem. Eine Schlüsselstelle der Absurdität ist die Ermordung eines Vietnamesen, der den Revanchismus der vietnamesischen Exilanten in Amerika in Frage stellt. Der Held selbst tötet ihn, gegen alle Vernunft; und ist dabei auf unvorstellbare, womöglich auch ungewollte Weise mörderisch. So ist das Buch ein Spiegelbild des Vietnam-Krieges, in dem, vermutlich mehr als in allen anderen, vorangegangenen Kriegen, am Ende niemand mehr zu unterscheiden weiß zwischen der guten und der bösen Seite, den Unterdrückern und Unterdrückten. Der Autor weiß das überzeugend darzustellen: So könnte es gewesen sein.
Übrigens: Wer sich im Englisch üben will, lese die englische Version, am besten mit einem Wörterbuch daneben, denn der vietnamesische Autor verfügt über einen großen Wortschatz, darunter auch weniger Gebräuchliches, das dem illiterate american einige Rätsel auftischen dürfte. Und dann noch dieses: Das Buch ist nichts für zarte Seelen. Der Leser oder die Leserin des Buches braucht ein sicheres Fundament, andernfalls er oder sie den Glauben an das Gute im Menschen, zumindest vorübergehend, verlieren könnte.

Bewertung vom 03.12.2017
Zukunft wagen
Horx, Matthias

Zukunft wagen


gut

Horxens Zukunft

M. Horx will Mut für die Zukunft machen. Den besorgten, zumeist auch unentschlossenen und risikoscheuen Leser richtet er mit der einfachen Formel auf, daß (fast) alles viel besser ist und auch sein wird, als der Verzagte glaubt, mithin sich die Sorgen des Besorgten um die Zukunft nichts anderes als gegenstandslos erweisen werden. Als Beweis für seine positivistische Zukunftsperspektive präsentiert Horx seinen Vater: Dieser habe, wie so manch anderer um die Zukunft bangender Zeitgenosse, vor fünfzig Jahren den Atomkrieg heraufziehen sehen und sich deshalb mit einer Unmenge Nahrungsmitteln eingedeckt, die dann später, als sich alles als fehlgeleitete Phantasie herausgestellt hatte, mit Mühe und Verdruß verzehrt werden musste.
Aber natürlich macht er es sich so einfach auch wieder nicht. Er hat viel Literatur gelesen und sich daraus sein Bild über die Zukunft zusammengeschnitten. Das mag in einigen Fällen durchaus zutreffend sein; im Großen und Ganzen sind seine Verkündigungen, wie bei allen sogenannten Zukunftsforschern, aber nichts anderes als Prophetie. Denn der Leser sucht in seinem Buch vergeblich nach der gewissenhaften Erhebung und Auswertung von Daten, Zeitreihen, Meinungsumfragen; findet kaum etwas, das auf die Konstruktion und Simulation von Computermodellen verweist, diesem Mittel der Wahl, wenn es um die Identifizierung von Trends geht. Und wie schwer ist es, systematische von zufälligen Trends zu unterscheiden!
Es reicht nicht, wenn Horx die Arbeiten anderer hernimmt und daraus seine Vision von der Zukunft zu stricken versucht. Wie vertrauenswürdig sind sie? Die Vertrauenswürdigkeit ist das A und O jeder Statistik. Die aber ist nicht das Ding von Horx. Er wirft mit großen Begriffen um sich, komplexe Systeme haben es ihm angetan, da darf die Selbstorganisation nicht fehlen, Entropie und Emergenz werden mehrfach zitiert, und an Paretos problematischer Einkommensverteilung kommt auch Horx nicht vorbei. Ob er diese schwierigen Begriffe, die vor zwanzig Jahren Furore gemacht haben, wirklich verstanden hat?
Da bin ich im Zweifel: „Wo Evolution endet, beginnt die Entropie, der Zerfall des Komplexen in lauter kleine Einheiten“ (S. 106). Aber seine Thesen sind eingängig und werden den Freien Demokraten gefallen. Den besorgten Grünen wohl weniger. Der seriösen Wissenschaft schon gar nicht. Ich habe aber durchaus Nutzen aus Horxens Buch gezogen. Seine Literaturliste ist gigantisch und hat mich zur Lektüre der einen oder anderen Veröffentlichung angeregt. Fazit: wer die flotte Phrase liebt, ist bei Horx richtig. Wer es seriöser haben will, mehr Nachdenklichkeit bevorzugt, ist mit dem voluminösen Buch von O. Renn „Das Risikoparadox“ besser bedient.

Bewertung vom 09.02.2017
Der ausgestopfte Barbar
Péterfy, Gergely

Der ausgestopfte Barbar


ausgezeichnet

Dieses Buch finde ich sehr gut, es ist ein besonderes und schön geschriebenes Buch, und es ist nicht ganz leicht zu lesen. Ja, die Leser müssen aufmerksam sein, dürfen den Faden nicht verlieren, um auf dem Laufenden zu bleiben, wer in welcher Phase, zu welcher Zeit des Romans erzählt: ist es der Erzähler, oder ist es Sophia, die Frau von Ferenc Kazinczy, des großen Geistes- und Kulturwissenschaftlers, oder ist es dieser selbst; ist es Angelo Soliman, der „ausgestopfte Barbar“, oder ist es eine der vielen anderen Figuren aus dem Habsburgerreich des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, als es seinen Absolutismus nur noch mühsam und nur mit Gewalt gegen den aufklärerischen Geist und den Unabhängigkeitsdrang seiner vielen Völker durchsetzen konnte. Hilfe bietet der Klappentext, der kurz und bündig den Inhalt wiedergibt und sich so unendlich wohltuend unterscheidet von der plumpen Umschlagswerbung, mit der selbst beste Bücher dem Leser in den Rücken fallen.
In vielerlei Hinsicht ähnelt dieser von historischen Tatsachen durchdrungene Roman den Werken von Umberto Eco, thematisch etwa dem „Friedhof in Prag“. Aber Peterfys Roman bewegt sehr viel stärker das Gemüt als Eco, ist entschieden grobkörniger, setzt unbeirrbar das Bösartige gegen das Gutartige; Niedertracht, Neid, sexuelle und materielle Gier, Verleumdung, Lüge, diese Grausamkeiten aus den Niederungen der Menschheit, gegen Bildung, Intelligenz, Nachsicht und Toleranz. Seine Helden, der Ungar und der Afrikaner, ertragen bis zur Selbstaufgabe all die Schmähungen, Beleidigungen und Verleumdungen der Infamen, in stolzer Einbildung ihrer eigenen Überlegenheit, im Vertrauen darauf, dass die Zukunft auf ihrer Seite steht, diese Zukunft, die in der Gegenwart enthalten ist. Aber doch ist diese noch in weiter Ferne, wird verdüstert durch die Besessenheit der Helden, die gefangen vom Okkultismus und der Geheimwissenschaft des Freimaurertums, abergläubisch Zeichen des Schicksals erraten, wo es sich um nichts anderes als den Zufall handelte, der Sophia zu Ferenc und Ferenc zu Angelo und Angelo zu seinen fürstlichen Gebietern geführt hat.
Der Roman spielt in der begüterten Welt der Adeligen und Fürsten. Die Dienerschaft ist das geschundene, rechtlose, intrigante Beiwerk, die Bauern bilden den gewalttätigen Hintergrund. Die zahlreichen Frauen des Romans sind die mitleidlos Leidenden, sie lassen sich dem Willen und Wahnsinn ihrer Männer unterwerfen. Auch Sophia gehört dazu, wenngleich in vornehmerer Form. Gibt es ein Thema, unter dem das Buch zusammengefaßt werden kann? Es ist die Andersartigkeit, die von der eingesessenen Bevölkerung in Stadt und Land nicht geduldet wird. Es sind die Jahrtausende alten Verhaltensweisen derer, die glauben, das Territorium sei das ihre; wer hier sich niederlasse, müsse sich einfügen, so sein wie sie selbst. Das Andere wird in teils roher, teils subtiler Art gedemütigt, im schlimmsten Fall ausgeschlossen, im Roman eingekerkert oder getötet. Die Verhältnisse haben sich gebessert, das heute ist mit dem damals nicht vergleichbar, und dennoch: die Boshaftigkeit blüht und gedeiht, heute am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Studium, auf der Straße, in den Kneipen und Krankenhäusern, und so oft bei den vielen, die neu oder später angekommen sind. So gesehen, ist das Thema zeitlos, damals wie heute.

Bewertung vom 20.11.2016
2052. Der neue Bericht an den Club of Rome
Randers, Jorgen

2052. Der neue Bericht an den Club of Rome


sehr gut

40 Jahre globale Vorhersage kann nicht gut gehen. Schon deshalb nicht, weil die Dynamik der relevanten Größen, wie GNP, Bevölkerung, Arbeit, Energieverbrauch, Nahrungsmittelproduktion etc. nicht in Gleichungen festgeschrieben ist. Selbst wenn sie es wäre, würde ein konsistentes globales Modell, das die Änderungen von Ökologie und Klima einkoppelt, mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mitteln kaum realisierbar sein. Will man dennoch diese Größen in die Zukunft fortschreiben, ist man auf Mutmaßungen angewiesen; zwar gibt es Zeitreihen (fehlerbehaftet und lückenhaft), aber das Problem ist auch hier, sie in die Zukunft zu verlängern. Es ist diese Kritik, die den Autoren des Limit of Growth schon 1972 entgegen gebracht wurde. Dennoch. Damals wurde eine hitzige, ich glaube sogar fruchtbare Debatte angestoßen, und auch heute ist Randers Neuauflage alles andere als irrelevant: weil im Buch treffend die Probleme beschrieben werden, mit denen die Erdbevölkerung jetzt und in Zukunft konfrontiert ist. Es sind die „Glimpses“, die mir gefallen. Für diese hat der Autor zweifellos kompetente Leute gewonnen. Und er hat viel Literatur zum Weiterlesen gelistet.
Andererseits suggeriert Randers, harte, verifizierbare Vorhersagen generiert zu haben. Das ist nicht der Fall. Die Ergebnisse sind eher eine Form von Plausibilitätsbetrachtungen, Schätzungen für die fünf Regionen, in die er die Erde unterteilt, basierend auf einer Menge historischer Daten und einigen (verborgenen) Annahmen über deren Zusammenhang. So richtig „wissenschaftlich“ ist das nicht. Und es ist nicht einmal sicher, ob die vom Autor identifizierten „main drivers“ vollständig sind. Ob andere, wie etwa die weitere Zunahme der Urbanisierung und die zu erwartende massenhafte Migration aus den Gebieten, wo Hunger und Krieg herrschen, nicht stärker gewichtet werden müßten.
Gleichwohl, wer sich über die brennenden Fragen der Zeit orientieren will, und dabei die Meinung von Experten aus den verschiedenen Wissensgebieten dankbar zu Hilfe nimmt, wer darüber hinaus auch eine Vorstellung vermittelt bekommen möchte, wie sich die Dinge in der ferneren Zukunft entwickeln können, ist mit diesem Buch sehr gut beraten. Wer außerdem noch wissen möchte, was zu tun ist, damit Randers eher pessimistische Ankündigungen nicht eintreten, bekommt auf 30 Seiten Text eine Reihe Anregungen, deren Realisierung den Leser für den Rest seines Lebens beschäftigen werden. Wer allerdings erwartet, ein wissenschaftlich solides Weltmodell präsentiert zu bekommen, das nach Form und Inhalt ähnlichen Ansprüchen wie die aktuellen Klimamodelle genügt, der muß noch warten. Zumindest etwas hat sich aber auch in dieser Richtung schon getan. Die Verknüpfung von Ökonomie und Klima in Form mathematischer Modelle ist in Angriff genommen; weitere Forschung dazu wird von den einschlägigen Programmen der EU gefördert.