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VolkerM

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Insgesamt 179 Bewertungen
Bewertung vom 30.07.2025
Schneider, Mario

Mario Schneider


ausgezeichnet

Straßenfotografie ist die spontanste Form der Fotografie, unmittelbar, intuitiv und ohne Hemmung Grenzen zu überschreiten. Mario Schneider hat auch stets Gewissensbisse, wenn er Menschen fotografiert, ohne sie gefragt zu haben. Er nimmt ihnen etwas, ohne etwas dafür zurückzugeben – ein ungleiches Geschäft. Die Gewissensbisse überwindet er nur, da er weiß, dass man nur auf diese Weise wirklich gute Straßenfotos bekommt, die absolut ungekünstelt, distanzlos und ehrlich sind. „New York Short Stories“ ist so ein Glücksfall gelungener Straßenfotografie und der Buchtitel bringt es auf den Punkt: Jedes gute Foto erzählt eine ganze Geschichte, es schaut den Menschen in die Seele, hat Humor und Emotionen, überrascht den Betrachter und besitzt eine eigene ästhetische Qualität. All das trifft auf „New York Short Stories“ zu. Jede Seite ist so individuell und originell wie die Stadt New York, sie zeigen Menschen aus allen sozialen Schichten, jeden Alters und ethnischer Herkunft, ein Schmelztiegel der Biografien, so bunt wie Schneiders Fotos meist schwarz-weiß sind.

Er hat ein so untrügliches Auge für Situationen und den richtigen Moment, dass man schon etwas wie den siebten Sinn vermuten darf, ohne sehr zu übertreiben. Ein gewisser Hang zum Skurrilen darf vorausgesetzt werden, das ergibt sich auch schon aus der selbstironischen Schilderung seiner Jugend im sächsischen Helbra, die in ihrer Episodenhaftigkeit geradewegs aus seinen Fotos entsprungen sein könnte. Ähnlich ironisch ist der kurze Text von Andreas Reimann, dem Freund, der eigentlich die in solchen Bildbänden übliche Huldigung verfassen sollte, dann aber nur zu Papier bringt, dass er dessen nicht fähig ist. Gehuldigt wird zwischen den Zeilen.

„New York Short Stories“ zeigt die Stadt aus dem Augenwinkel. Verschmitzt, komisch, direkt, rührend, aggressiv, entspannt und weltoffen. Hoffen wir mal, dass es so bleibt.

Bewertung vom 27.07.2025

Badisches Klosterbuch - 3 Bände im Set


ausgezeichnet

Die Klosterdichte im Südwesten war historisch außergewöhnlich hoch, was nicht zuletzt daran lag, dass von hier aus die Christianisierung Deutschlands begann. Mit der Gründung der ersten Orden im Frühmittelalter explodierte die Zahl der christlichen Gemeinschaften. Wesentliche Rückschläge waren dagegen die protestantische Reformation und die josephinische Säkularisation im 18. Jahrhundert, die zu teilweise dramatischen Einschnitten führten. Mit der napoleonischen Säkularisation nach 1803 kam das Zeitalter der Klöster dann an sein Ende.

Erst im Jahr 2003 gab es den ersten Versuch einer umfassenden und auf enzyklopädische Vollständigkeit zielenden Darstellung der regionalen Klostergeschichte, zunächst begrenzt auf Württemberg. Diese damals in einem Band erschienene Monografie reicht allerdings in Eindringtiefe und Vollständigkeit bei weitem nicht an das heran, was jetzt in drei Bänden zu den Regionen Baden und Hohenzollern gelungen ist. Dieses Werk ist ein Meilenstein in der Erschließung weit verstreuter und teilweise schwer zugänglicher Quellen, es ist hervorragend strukturiert und wurde mit großer Sorgfalt und wissenschaftlicher Akribie zusammengestellt. 20 Jahre koordinierter Teamarbeit stecken in diesen drei Bänden und das spürt der Leser sofort. Die Informationsdichte ist ungeheuer hoch, durch die eingängige Sprache und sachliche Darstellung bleibt sie aber leicht verständlich.

Einleitend schildern mehrere Kapitel die historischen Entwicklungen im Klosterwesen, die übergreifend gelten und die Essenz dieser Monografie darstellen. Alleine diese vier Kapitel wären eine eigene Publikation wert, in ihrer Konzentration auf das Wesentliche und ihrer klaren Struktur. Während die Übersichtskapitel bei der Säkularisation enden, wird in den jeweiligen Kloster-Beschreibungen, die den weitaus größten Raum einnehmen, die Geschichte bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Zwar haben nur wenige Gemeinschaften bis heute überlebt, aber nach 1815 kam es zu zahlreichen Wiederbelebungen, oft auch in Kooperation mit kirchlichen oder städtischen Schulen. Dass Konvente mangels Nachwuchs ausstarben, ist übrigens keine neue Entwicklung, sondern war zu fast allen Zeiten ein Problem (sieht man vom katholischen „Boom“ am Ende des 19. Jahrhunderts ab).

Die Einzelbeiträge zu den einzelnen Klöstern folgen stets derselben Struktur und machen damit das Auffinden von Fakten einfach. Auf die knappe Übersicht mit historischen und kirchenorganisatorischen Grundinformationen folgt ein umfassendes Kapitel zur Geschichte, den wirtschaftlichen Grundlagen und monastischen Netzwerken (oft sehr anschaulich visualisiert), des religiösen Wirkens sowie dem Archiv- und Bibliothekswesen, gefolgt von einem bau- und kunsthistorischen Abschnitt mit zahlreichen Plänen, zeitgenössischen Abbildungen, Informationen zur Bauausstattung und Klosterinventar, sowie der Bibliografie.

Ein Teil des Klosterbuchs ist als hybride Ausgabe auch online abrufbar und über eine (rudimentär) recherchierbare Datenbank werden zusätzliches Bildmaterial, Listen der Klostervorsteher und Siegel, sowie eine Gesamtbibliografie bereitgestellt. Der online verfügbare Inhalt bleibt allerdings wesentlich hinter der Printausgabe zurück, es ist eher ergänzendes Material, das den Umfang des Buches gesprengt hätte, aber keine grundlegend neuen Aspekte berührt. Die Online-Autoren sind in der Regel andere als im Buch. Alle wesentlichen Abbildungen und Pläne finden sich im Übrigen in der Printausgabe.

Umfang, Eindringtiefe, Vollständigkeit und Übersichtlichkeit machen dieses Klosterbuch zu einem enzyklopädischen Meilenstein, der Maßstäbe setzt und eine breite Zahl interessierter Kreise anspricht. Für Laien wie Experten eine Fundgrube qualifizierter und exzellent aufbereiteter Informationen zur monastischen Geschichte in Baden und Hohenzollern.

Bewertung vom 25.07.2025
Hewitt, Seán

Öffnet sich der Himmel


ausgezeichnet

James ist ein Außenseiter. Seit ihn eine Mitschülerin als schwul geoutet hat, fühlt er sich keiner Gruppe mehr zugehörig. Die Mädchen betrachten ihn als geschlechtsneutrales Kuriosum, die Jungs meiden ihn. Nicht dass er offene Diskriminierung erfährt, aber er ist zutiefst einsam. Bis er Luke begegnet. Dieser ist ein Jahr älter, bereits aus der Schule und verbringt den Sommer auf dem Bauernhof seines Onkels in der Nachbarschaft. Luke wird James erste Liebe, er wird ihn aus seiner Einsamkeit holen und es wird ein Sommer werden, der für James alles verändert.

„Öffnet sich der Himmel“ ist ein klassisches Coming-of-Age-Buch über einen Jugendlichen auf der Suche nach sich selbst. Aber schon auf den ersten Seiten ahnt der Leser, dass diese Suche auch nach vielen Jahren und James‘ gescheiterter Ehe noch nicht beendet ist, und dass dieser eine Sommer seine Narben hinterlassen hat. Eine tiefe Traurigkeit durchzieht die ganze Geschichte, die aus James Sicht geschrieben ist und den Leser subtil in seine Gedankenwelt mitnimmt. James vorsichtige Annäherung an Luke, der jede Regung daraufhin überprüft, ob seine Zuneigung erwidert wird, die unausgesprochene Eifersucht, die Unsicherheit, die Momente reinen Glücks und tiefer Verzweiflung. Am Ende geht es um die Frage aller Fragen: Was ist Liebe? Gibt es nur eine Form der Liebe und wie grenzt sie sich von Begierde ab? James sucht Antworten, aber er findet sie erst viele Jahre nach diesem schicksalsträchtigen Sommer. Die Schlussszene ist eine der rührendsten der gesamten schwulen Literatur.

Sean Hewitt besitzt das Talent, selbst komplizierteste Gefühle in die richtigen Worte zu fassen, mit so viel Einfühlungsvermögen und Sympathie für seine Figuren, dass der Leser unausweichlich in den Sog des Geschehens hineingezogen wird. James‘ Herzschmerz wird zum eigenen und die überwältigende Natur, der Wandel der Jahreszeiten sind dabei kaum verhüllten Metaphern für James‘ Erwachen. Der Text lebt von subtilen Beobachtungen, mit emotionaler Präzision festgehalten, ebenso schmerzhaft für den Protagonisten wie für den Leser. Selbsterkenntnis ist ein langsamer, quälender Prozess, ein Weg über glühende Kohlen, bei dem jeder Schritt neue Überwindung kostet. Und die Frage ist, ob am Ende wirklich Erlösung wartet.

Hewitt ist ein Meister der leisen Zwischentöne, die man in dieser Form wohl nur findet, wenn man Ähnliches selber erlebt hat. Anders will ich es mir nicht vorstellen, denn James und Lukes Geschichte ist so wahrhaftig, wie eine Geschichte nur sein kann.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.07.2025
Kirschner, Manuela;Bergbauer, Matthias

KOSMOS Riff-Führer Rotes Meer


ausgezeichnet

Das Rote Meer beherbergt einige der artenreichsten Riffe der Erde, da sich hier die Fauna des Indopazifik mit vielen endemischen Arten mischt. Die Bandbreite der Biotope ist hier ungewöhnlich groß.
Die Unterwasserfotografin Manuela Kirschner und der Biologe Matthias Bergbauer sind seit vielen Jahren in diesem artenreichen Revier als Fotografen unterwegs und haben die Schätze ihres umfangreichen Bildarchivs in einem außergewöhnlichen Naturführer für Tauchtouristen zusammengetragen. Im engeren Sinn ist es kein Bestimmungsbuch, da es keine Bestimmungsschlüssel enthält, sondern nur Bildtafeln mit kurzen Begleittexten. Die Autoren fokussieren in erster Linie auf auffällige Arten, die entweder durch intensive Farben oder Größe ins Auge springen, mit anderen Worten, es sind die Arten, denen man beim Tauchen auch bewusst begegnet.
In gewissem Rahmen berücksichtigen die Beispielfotos auch Farbvarianten, allerdings darf man nicht zu viel erwarten. Die Riffe im Roten Meer sind teilweise ökologisch durch Barrieren voneinander isoliert, was die Ausbildung lokaler Farbvarianten fördert. Das kann ein kurz gehaltener Naturführer natürlich nicht berücksichtigen, aber es gibt genügend Arten, die dieses Problem nicht haben.

Die Mehrzahl der abgebildeten Tiere sind Fische, die jeweils in Seitenansicht gezeigt werden. Darüber hinaus gibt es ein kurzes Kapitel zu Meeressäugern, sowie ein längeres zu Wirbellosen. Während die Fischarten mit insgesamt fast 800 Spezies eine gewisse Vollständigkeit bieten (man schätzt, es gibt im Roten Meer über 1000 Arten), geben die Wirbellosen eher einen Überblick mit charakteristischen, häufigen und auffälligen Arten. Abgesehen davon, dass die korrekte Bestimmung von Wirbellosen auch Spezialisten herausfordert, ist die tatsächliche Artenzahl hier einfach unübersehbar. Komplett unberücksichtigt bleiben Algen, Bryozoen, Schwämme und Korallen.
Die Steckbrieftexte sind knapp gehalten. Es gibt Angaben zur Größe, den Verbreitungsgebieten, oft auch zum Verhalten (z. B. Schwarm/Einzelschwimmer) und Farbvarianten, die manchmal auch abgebildet sind.

Der Riff-Führer ist ein sehr intuitiver, praxisnaher Begleiter, der zwar im Einzelfall auch mal danebenliegen kann, aber insgesamt einen sehr guten Überblick liefert. Wer hier wirklich tiefer eindringen will, braucht sehr viel Spezialliteratur und teilweise auch vertiefte Kenntnisse und Equipment. Es ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen Vollständigkeit und Praktikabilität.

Bewertung vom 23.07.2025
Elsschot, Willem

Leimen


gut

Als Frans Laarmans seinen alten Freund Bormann wiedertrifft, bietet sich ihm eine einmalige Chance: Er bekommt das Angebot, bei der „Allgemeinen Weltzeitschrift“ als Sekretär zu arbeiten, der einzigen Zeitschrift, die noch nie erschienen ist und doch riesige Gewinne abschöpft. Wie Bormann das macht? Das wird Laarmans noch erfahren und es wird eine Lehrzeit in gehobener Betrügerei.

Das Buch erschien 1923 und ist in den Niederlanden seitdem immer wieder aufgelegt worden. Elsschot ist so eine Art Ludwig Thoma, nur ohne den Knuffelfaktor, denn Bormanns ist ein gewissenloser Betrüger, dessen Geschäftsmodell auf Irreführung und Ausbeutung beruht. Die Schicksale seiner Opfer sind ihm egal, anders als Frans Laarmans, der dadurch in eine Krise rutscht.

Die Geschichte muss man aus der historischen Sicht lesen, denn das Betrugssystem würde heute so nicht mehr funktionieren, aber das macht nichts. Man begleitet Laarmans chronologisch auf seinen ersten „Kundenbesuchen“, von der Geschäftsanbahnung bis zum Abkassieren, wobei allerdings einige Episoden für meine Begriffe zu lang geraten sind. Es gibt unnötige Wiederholungen und unnötig ausschweifende Beschreibungen, die weder die Charakterzeichnung unterstützen noch die Geschichte dramaturgisch weiterbringen. Elsschot war Inhaber einer Werbeagentur und „Leimen“ ist im übertragenen Sinn nichts anderes als eine Metapher für „Reklame“. Der Protagonist verkauft letztlich heiße Luft in immer neuen Tüten.

Es ist insgesamt eine angenehme und auch weitgehend unterhaltsame Bettlektüre, weder anspruchsvoll noch zu flach, aber 50 Seiten weniger hätten es auch getan.

Bewertung vom 21.07.2025

Magnum: A World of Photography


weniger gut

Der Ansatz der Ausstellung, die bis 1. Juni im Foto Arsenal in Wien zu sehen war, ist grundsätzlich interessant: Das Magnum-Fotoarchiv war schon unzählige Male Quelle für hochkarätige Fotoausstellungen in der ganzen Welt, die Wiener Kuratoren gingen aber in ihrer Spurensuche tiefer. Sie fahndeten nach den Printmedien, in denen die lizenzierten Abzüge letztlich publiziert wurden und waren überrascht, dass es hierfür kein fokussiertes Sammelarchiv gibt. Magnums historische Vintage-Abzüge wurden im Zuge der Digitalisierung zum Teil verkauft oder werden in verschiedenen Stiftungen konservatorisch verwahrt, das historische Verwaltungsarchiv von Magnum ist erstaunlicherweise verloren. Der Weg vom Negativ bis zum Printmedium ist also nicht immer vollständig nachvollziehbar und wenn, dann nur mit Mühe und Glück.

In einigen Fällen ist es allerdings gelungen. Die Ausstellungsmacher haben Kontaktabzüge, Belichtungsanweisungen sowie Informationen von Fotorückseiten ausgewertet und sind so dem Weg der Fotos auf die Spur gekommen. Die Auswahl der Beispiele ist leider stark aktivistisch geprägt und verzerrt damit das sehr breite Spektrum, das Magnum eigentlich vertritt. Die Bandbreite der Agentur reicht von Kriegsberichterstattung über klassischen Fotojournalismus bis hin zur avantgardistischen Fotokunst, die Ausstellung fokussiert dagegen sehr stark auf Sozialfotografie mit antirassistischem Hintergrund und diskutiert auch eifrig mit woken und postkolonialen Kampfbegriffen. Das hat sogar Auswirkungen bis auf den zweisprachigen Begleittext: Die deutsche Übersetzung wird buchstäblich bis zur Unkenntlichkeit gegendert, ein äußerst unerfreuliches Labyrinth aus Doppelpunkten und Geschlechterbandwürmern, was nicht selten den Sinn entstellt. Noch dazu ist die Übersetzung insgesamt sprachlich holprig und teilweise sogar inhaltlich falsch. Zum Glück können sprachkundige Leser auf die englische Originalfassung zurückgreifen, aber es ist wirklich an der Zeit, dass diese zunehmend totalitäre Sprachvergewaltigung (die als „natürliche Entwicklung“ geframt wird) ein Ende hat und wir darüber genauso lachen können wie über die Sprachnebelkerzen der 68er. Ich finde die Gesamtsituation nämlich irgendwie unbefriedigend.

Bewertung vom 20.07.2025

Less and More


ausgezeichnet

Dieses Buch ist etwas sehr Außergewöhnliches: Es ist der Katalog für eine Ausstellungsserie, die vor fast 20 Jahren in Osaka begann und über Tokyo, Seoul, San Francisco, London und Frankfurt führte. Obwohl vor 10 Jahren das letzte Mal neu aufgelegt, ist der Katalog immer noch so etwas wie die Bibel des Dieter Rams-Designs. Nirgendwo sonst findet sich eine derart in die Tiefe gehende Analyse dessen, was „Rams Design“ ausmacht, mit umfassenden biografischen und designgeschichtlichen Hintergrundinformationen und einem äußerst ästhetischen Seitenlayout. Texte und Abbildungen sind auf unterschiedlich dickem Papier gedruckt, was das mit über 800 Seiten sehr umfangreiche Werk auch haptisch strukturiert.

Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Dies ist kein komplettes Werkverzeichnis, aber alle Designikonen und beruflichen Abschnitte von Dieter Rams sind ausführlich illustriert und bibliografiert. Das Seitenlayout folgt den gleichen Regeln, die auch das klassische „Braun Design“ auszeichnen: Klare Linien, Funktionalität, intuitive Erfassung, einfach Geometrie. Totalen und Ausschnitte wechseln einander ab und vermitteln dem Betrachter ein Gespür für die Liebe zum Detail, die Rams‘ Design auszeichnet. Der Einband ist aus flexiblem Kunststoff, was das Risiko birgt, dass er im Lauf der Zeit spröde oder klebrig wird, aber ich halte es für überschaubar. Die aktuelle Auflage ist 10 Jahre alt und es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass der Einband Schaden nimmt. Zusätzlichen Schutz bietet der stabile Schuber.

Das Buch ist keine reine Rams-Monografie, auch wenn Dieter Rams im Zentrum steht. Sein Werk wird in einen größeren Kontext gestellt, sowohl historisch als auch biografisch. Das Braun-Design entstand nicht im luftleeren Raum, sondern es gab Vorläufer und Nachahmer. Die Rolle des Firmeninhabers Artur Braun, der schon vor Rams die Bauhaus-Prinzipien auf sein Produktdesign anwandte, wird ebenso gewürdigt wie die Beiträge von Hans Gugelot, Fritz Eichler oder Wilhelm Wagenfeld. Zeitzeugen berichten über den innovativen „Geist“ im Braunschen Designteam, der ausgesprochen inspirierend gewesen sein muss.

Auch wenn die Phase bei Braun einen zentralen Punkt in Rams Schaffen darstellt, war dieser deutlich breiter aufgestellt. Schon als Braun-Angestellter hatte er die Erlaubnis, in seiner Freizeit freie Aufträge anzunehmen und so entwarf er Möbel und diverse Haushaltsgegenstände für verschiedene Unternehmen und war später viele Jahre in der universitären Lehre tätig. Auch als Designtheoretiker ist er international anerkannt. Zu jedem dieser Aspekte gibt es sehr fachkundig geschriebene Beiträge im Katalog (teilweise von Rams selber), die sich durch klare Sprache ohne akademische Nebelkerzen auszeichnen und den Leser im wahren Sinn „mitnehmen“. Die Autoren nehmen dabei bewusst nicht nur eine Rams-Perspektive ein, sondern betrachten das Werk aus unterschiedlichen Richtungen und stellen auch Mythen zur Urheberschaft einiger Objekte richtig; sachlich, aber stets respektvoll vor einem gewaltigen Lebenswerk.

Das eingangs Gesagte muss ich am Ende doch noch leicht korrigieren: Die Wanderausstellung mag in der Tat Geschichte sein, aber seit 2022 gibt es im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt eine große Dauerausstellung, in der viele der Designikonen aus dem Katalog zu sehen sind. Sein praktischer Nutzen ist also in keiner Weise überholt, die Informationstiefe unerreicht. Dieses Buch ist so aktuell wie vor 10 Jahren.

Bewertung vom 14.07.2025
Seiderer-Nack, Julia

Das hilft bei CED


ausgezeichnet

Im Internet kursieren zahlreiche, teils widersprüchliche Informationen über Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Auch die Pharmaindustrie stellt ansprechend gestaltete Patientenratgeber zur Verfügung. Doch nach meiner persönlichen Erfahrung als Betroffener bilden diese Angebote meist nur einzelne Facetten einer leider sehr komplexen Erkrankung ab – und haben mich ebenso häufig in die Irre geführt, als dass sie mir geholfen haben. Mein Wunsch nach sachlichen und unabhängigen Informationen sowie Behandlungsmöglichkeiten nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen blieben bislang weitgehend unerfüllt.

Nach der Diagnose ist der behandelnde Gastroenterologe zwar die zentrale Ansprechperson für Fragen rund um die Erkrankung, doch stellt sich zunächst die Frage: Welche Fragen sollte man überhaupt stellen? Für Menschen, die sich bislang nicht mit der Erkrankung auseinandergesetzt haben, ist die Fülle an möglichen Themen überwältigend. Genau hier setzt dieser Patientenratgeber von Prof. Julia Seiderer-Nack an – als Orientierungshilfe, um Schritt für Schritt Klarheit zu gewinnen.

Die Autorin beginnt mit einer verständlichen Einführung in die Funktionsweise eines gesunden Verdauungstrakts. Sie erläutert die Entstehung von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa (zusammengefasst unter dem Begriff CED – chronisch-entzündliche Darmerkrankungen) und geht auf die Unterschiede der beiden Krankheitsbilder ein.
Darauf aufbauend widmet sie sich ausführlich verschiedenen Themenbereichen, insbesondere der Diagnostik, den verfügbaren Therapiemöglichkeiten sowie den Auswirkungen der Erkrankungen auf den Alltag der Betroffenen. Dabei schließt sie ergänzende Therapieansätze keineswegs aus. Auch Naturheilverfahren, Ernährungstherapien und die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) finden Beachtung.
Zudem stellt sie pflanzliche Präparate wie Weihrauch, Myrrhe und Kurcuma vor, die zwar häufig eine lindernde Wirkung auf die Beschwerden und das allgemeine Wohlbefinden entfalten können, jedoch keinen gleichwertigen Ersatz für die Behandlung mit Immunsuppressiva oder Biologika darstellen.

Der Gesundheitsratgeber überzeugt durch seine informative und gut verständliche Darstellung. Er bietet neutrale und aktuelle Informationen – etwa zu modernen Medikamenten und chirurgischen Behandlungsmöglichkeiten – und erweist sich als überaus hilfreich. Praktische Hinweise zu Ernährung, Impfungen, Infektionsschutz und sogar Reisetipps für Menschen mit CED in der Remissionsphase machen ihn zu einem wertvollen Begleiter im Alltag.
Kurz gesagt: Ein weitgehend normales Leben mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung ist möglich – eine Perspektive, die Mut macht und auch meine Zuversicht gestärkt hat.

Bewertung vom 13.07.2025
Muldoon, James;Graham, Mark;Cant, Callum

Feeding the Machine. Hinter den Kulissen der KI-Imperien


sehr gut

Das Buch „Feeding the Machine“ zeigt, wie wichtig menschliche Arbeit für Künstliche Intelligenz (KI) ist – auch wenn sie meist im Hintergrund bleibt. Damit KI funktioniert, braucht sie riesige Mengen an Daten. Diese Daten werden oft von Menschen in Ländern wie Uganda, Kenia oder Indien bearbeitet und ihre Arbeit ist hart: Sie sortieren und bewerten Inhalte, sehen teils traumatisierende Bilder und bekommen dafür nur wenig Geld. Viele arbeiten unter schlechten Bedingungen, ihre Leistungen werden kaum anerkannt. Die Autoren nennen KI deshalb eine „Extraktionsmaschine“, die menschliches Wissen und Arbeit nutzt, ohne sie sichtbar zu machen. Das Buch fordert mehr Gerechtigkeit und Schutz für die Menschen, die das Fundament moderner Technologien bilden.

Die drei Autoren James Muldoon, Mark Graham und Callum Cant verbindet eine gemeinsame zehnjährige Forschungsarbeit am Oxford Internet Institute der Universität Oxford. Ihre fachlichen Hintergründe sind vielfältig und reichen von Soziologie, Politikwissenschaft und Geografie über Geschichte und Jura bis hin zur Philosophie. Dieser interdisziplinäre Zugang spiegelt sich im Buch wider: Technische Details treten in den Hintergrund, stattdessen stehen gesellschaftliche und ethische Fragen im Fokus. Für ihre Recherchen führten die Autoren rund 200 Interviews mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Berufsfeldern – von gering entlohnten Datenannotatoren bis zu hochbezahlten Ingenieuren für maschinelles Lernen.

Die Autoren nähern sich dem Thema aus einer ethischen Perspektive und vertreten dabei eine deutlich linke Haltung. Dabei greifen sie bewusst klassenkämpferische Begriffe auf, etwa in Bezug auf soziale Ungleichheiten, historische Machtstrukturen oder wirtschaftliche Ausbeutung. Sie gendern moderat, es stört den Lesefluss nicht. Insgesamt ist die deutsche Übersetzung sehr gelungen – die Sprache bleibt zugänglich und liest sich angenehm. Zwar weisen die Autoren auf ihre einseitige Perspektive hin, dennoch hätte ich mir gelegentlich eine umfassendere und neutralere Betrachtung gewünscht. Der konsequente Einsatz linker Kampfbegriffe wie „Kapitalismus“, „Kolonialismus“ oder „Rassismus“ zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch – auf mich wirkte das stellenweise ideologisch verzerrt, aufdringlich belehrend und wenig ausgewogen.

„Feeding the Machine“ ist ein wichtiges Buch, das einen kritischen Blick auf die dunklen Seiten der Künstlichen Intelligenz wirft. Es hinterfragt die oft übermäßig positiven Darstellung der KI und zeigt, wie viel menschliche Arbeit hinter den digitalen Prozessen noch immer steckt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.07.2025

MAGIC METAMORPHOSIS


ausgezeichnet

Der Begriff antiquarischer „Zauberbücher“ assoziiert in der Regel Bücher mit okkultem Inhalt. Diese sind sogar älter als der Buchdruck, aber es gibt neben der esoterischen „Zauberei“ auch noch die Zauberkunst, also die Unterhaltungskunst der Illusion. Bücher zu diesem Thema existieren in größerem Umfang erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, alles was älter ist, ist extrem selten und dementsprechend kostbar.
Eine der ältesten Formen illusionistischer Zauberbücher sind die sogenannten „Gauklerbücher“, die erstmals am Ende des 16. Jahrhunderts erwähnt werden. Nur etwa 10 Exemplare weltweit sind vor 1800 nachweisbar, das hier vorliegende Faksimile ist somit nicht nur eines der ältesten, sondern auch das wohl prachtvollste. Dabei ist es mehreren Zufällen und der Hartnäckigkeit des Schweizer Sammlers Thomas Stauss zu verdanken, dass die Zweckbestimmung dieses ungewöhnlichen Werkes überhaupt (wieder)entdeckt wurde, denn diesem Exemplar fehlt ein wesentliches Element, um es praktisch nutzbar zu machen: Es hat keinen Greifindex. Selbst Sotheby’s erkannte bei der ersten Auktion des Buches in 2010 nicht den wahren Zweck, sondern beschrieb es als „ungewöhnliche Sammlung von Aquarellen“. Dennoch erlöste das Exemplar fast 70 000 Pfund, für den Sammler Stauss, der bereits damals um das Geheimnis wusste, unerschwinglich. Das Buch sollte noch zweimal den Besitzer wechseln, bevor seine Chance kam.

Der englischsprachige Begleitband des Faksimiles erzählt nicht nur die spannende Jagd nach dem Buch, sondern auch die anschließende Erforschung von Inhalt und Nutzung. Nicht alles konnte abschließend geklärt werden, so z. B. auch nicht die Ursache für den fehlenden Index, aber Datierung und Provenienz sind weitgehend sicher.
Die Qualität der Aquarelle ist überragend und es gibt kein weiteres Beispiel für ein derart fein ausgeführtes Gauklerbuch dieser Zeit. Abweichend vom Original wurde dem Faksimile der Griffindex ergänzt, wodurch es jetzt erstmals seit seiner Schöpfung als illusionistisches „Zauberbuch“ funktioniert. Eine Anleitung findet sich im Begleitband.
Interessant ist, dass es sogar im „Simplicissimus“ eine Szene gibt, in der ein Gauklerbuch detailliert beschrieben wird. Sie spielt genau in der Zeit, in der auch Thomas Stauss‘ Exemplar entstand.

Faksimile- und Begleitband wurden in Deutschland gedruckt und gebunden und werden im soliden Schuber geliefert.

Wer sich für früheste illusionsmagische Literatur interessiert, für den ist dieses buchtechnisch und handwerklich hervorragend produzierte Faksimile ein Must-have, denn ein Original bleibt in der Regel ein unerfüllbarer Traum.