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manjula

Bewertungen

Insgesamt 27 Bewertungen
Bewertung vom 14.08.2024
Sobald wir angekommen sind
Lewinsky, Micha

Sobald wir angekommen sind


sehr gut

Lustiges, schonungsloses Psychogramm

Ben ist Schriftsteller, Werbetexter und Drehbuchautor. An den Erfolg seines frühen Erstlingswerks hat er bis jetzt nicht mehr anschließen können. Dann hat sich auch noch seine Frau Marina von ihm getrennt, und weil das Geld nicht für zwei Wohnungen reicht, teilen sich Marina und Ben mit Tochter und Sohn die ehemals gemeinsame Wohnung nun tageweise nach dem Nestprinzip. Ben, der befürchtet, nicht nur als Autor erfolglos zu bleiben, sondern künftig auch einsam und allein, hat ziemlich schnell eine neue Partnerin gefunden, die angesagte Künstlerin Julia.

Als der Krieg in Osteuropa atomar zu eskalieren droht, beschließt Ben - wie er empfindet: in der Tradition seiner jüdischen Vorfahren und Vorvorfahren, die nur deshalb überlebt haben, weil sie in brenzligen Situationen rechtzeitig geflohen sind - sich und die Kinder dadurch zu retten, dass sie sich nach Brasilien absetzen. Die Reise tritt er gemeinsam mit seiner Expartnerin Marina an, während er Julia in Zürich hinter sich lässt.

Das Buch ist sowohl inhaltlich als auch stilistisch unterhaltsam und fesselnd. Das Geschehen wird aus Bens Perspektive geschildert. Die Erzählung ist vor allem ein Psychogramm des von Ängsten geprägten Ben, allerdings zugleich auch - aus der Wahrnehmung von Ben, daher oft genug verzerrt - von Marina. Der Ausgang der Geschichte hat mich sehr überzeugt - er ist unerwartet, aber absolut folgerichtig (um hier nichts zu spoilern). Ben wird nicht nur mit viel (Selbst-)Ironie dargestellt, er wird auch extrem schonungslos betrachtet. Ben ist super sympathisch, ich habe ihn sofort ins Herz geschlossen. Und zugleich empfinde ich ihn als eine unglaublich unangenehme, egozentrische Person. Mich hat sehr beeindruckt, wie der Autor es geschafft hat, dass Leser:innen sich so emotional und so ambivalent auf die Geschichte einlassen können.

Bewertung vom 13.08.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

Liebe, Zusammenhalt, Verlust

Hanna, Zeyna und Cem sind zusammen in einem wirtschaftlich etwas abgehängten Wohnviertel im Ruhrgebiet aufgewachsen. Sie sind als Kinder unzertrennlich. Hanna und Zeyna werden schnell allerbeste Freundinnen, sind fast wie Schwestern. Cem muss häufig den Puffer zwischen den Mädchen geben. Hanna und Zeyna wachsen beide ohne Mutter auf. Zwischen Zeyna und Hannas Großmutter Felizia entwickelt sich deshalb ein sehr liebevolles Verhältnis. Auch Zeynas Vater Nabil verbindet direkt eine ganz enge Freundschaft mit Hannas Großvater Theo. Auf allen Ebenen Wahlverwandschaften also.

Als sie erwachsen werden, bleibt Cem im Ruhrgebiet, Hanna und Zeyna gehen weg. Zwischen Hanna und Zeyna kommt es durch ein als dramatisch empfundenes Ereignis zum Bruch.

Als ihre geliebte Großmutter Felizia stirbt, kommt Hanna zurück, zieht in die Wohnung der Großeltern. Hanna ist nach der gemeinsamen Kindheit nie wieder woanders richtig angekommen, sie bringt viel Einsamkeit mit, stolpert außerdem in die Corona-Lockdowns und versucht verzweifelt, wieder mit Zeyna in Kontakt zu kommen.

Rasha Khayat erzählt hier eine vielschichtige Geschichte. Vordergründig scheint das Buch nur von Hannas Suche nach ihrer Freundin Zeyna zu handeln, von ihren Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Tatsächlich dreht sich aber ganz viel um Hannas tiefe Liebe zu ihrer Großmutter, und um die Eifersucht, die Hannas Verhältnis zu Zeyna unterschwellig prägt. Es geht auch um das Leben und Aufwachsen in abgehängten Wohnvierteln, um relative Armut und soziale Ungleichheit, um Migration und Rassismus, um die Bewältigung von Verlusten, um Verbundenheit und Zugehörigkeit und ganz viel um Freundschaft, Familie und Wahlfamilie. Dennoch ist die Erzählung aber nicht überladen, nur wenige dieser verschiedenen Aspekte werden ausdrücklich angesprochen - sie sind einfach nur da.

Khayat hat hier ein tolles Buch geschrieben, atmosphärisch dicht und voller Gefühl, zugleich modern und anspruchsvoll. Besonders spannend fand ich, dass die Erfahrungen und die Weltsicht von Einwandererkindern und Menschen mit Fluchterfahrung thematisiert werden, auch vor dem Hintergrund von Nine Eleven und den gesellschaftlichen Auswirkungen des damit begründeten sog. War on Terror. Außerdem ist es das erste Buch, das ich lese, das die Pandemie nicht übergeht oder sie nur am Rand streift, sondern sie im Gegenteil ausdrücklich thematisiert - das finde ich super: kein Totschweigen und Verdrängen.

Das Buch bringt also deutlich mehr als erwartet, lässt dafür aber in anderer Hinsicht Leerstellen. Denn wenn ich mit ein paar Stunden Abstand über das Gelesene nachdenke, wundert mich, dass der eigentlich allgegenwärtige Alltagsrassismus in den 1980er/90er Jahren im Leben der drei keine Rolle gespielt hat, dass der Neonazianschlag von Mölln die erste Rassismus-Erfahrung für sie gewesen sein soll. Kann ich mir nicht ganz vorstellen, aber ok, die Geschichte wird ja aus der Sicht von Hanna erzählt, nicht von Zeyna und Cem. Das Ereignis, das zum Zerwürfnis zwischen Hanna und Zeyna führte, schien mir in der Relation eher belanglos, deshalb fehlt mir ein bisschen das Verständnis für den harten Cut - zugleich dann auch für den Ausgang der Geschichte. Und dann wüsste ich sehr gern mehr darüber, woher Hannas offensichtliche Unfähigkeit zur Bindung an andere Menschen als ihren ganz engen Kreis kommt. Obwohl die Erzählung ansprechend ist und auf den ersten Blick nichts fehlt, hätte ich mich im Ergebnis über ein bisschen mehr Unterfütterung zu ihrer Persönlichkeit und den Persönlichkeiten aller anderen Charaktere gefreut.

Trotz der kleinen kritischen Anmerkungen: Leseempfehlung. Das Buch zieht eine:n mit seiner Komplexität, Dichte und Emotionalität in seinen Bann - ich habe es innerhalb weniger Stunden verschlungen.

Bewertung vom 31.07.2024
Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1
Douaihy, Margot

Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1


gut

Holiday, die queere, exzess- und drogenerprobte, stark tätowierte, leicht anarchische, heftige Musik liebende Gitarristin einer New Yorker Frauenband hat ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen. Sie ist in New Orleans als Musiklehrerin ins Kloster des Ordens der Schwestern vom Erhabenen Blut eingetreten. Ihre Beweggründe fächern sich in der Erzählung nach und nach auf. Ihr Gelübde steht kurz bevor. Da ereignen sich mehrere Brände. Es trifft auch Personen, die Schwester Holiday nahestehen. Offensichtlich wurden die Feuer gelegt. Da das etwas schräge amtliche Brandermittler- und Polizei-Personal nicht so richtig in die Gänge zu kommen scheint, beginnt Schwester Holiday selbst zu ermitteln. So weit, so gut, also schön unkonventionell.

Das Buch wird als Krimi vermarktet. Nur: Ein Krimi ist es nicht so wirklich. Eher ein wildes, auf Provokation setzendes Action Painting. Zwischendurch hat mich das, in Erwartung einer konventionelleren Krimihandlung, manchmal geärgert (wie wird denn da mit Beweismitteln umgegangen? etc), zumal auch die Auflösung des Falls leider nach gut einem Drittel des Textes einigermaßen vorhersehbar ist. Andererseits ist die Geschichte teilweise so surreal, absurd und over the top, dass es richtig genial ist. Was mich, als Ungläubige, in seiner Breite etwas irritiert, sind die vielen, vielen religiösen Einsprengsel im Buch. Mir wurde das nach und nach zu viel. Vielleicht habe ich aber auch nur die Ironie nicht verstanden. Ich wüsste gern, wie sich das für religiöse Menschen liest.

Mein Fazit fällt daher gemischt aus: Wer mal wieder Lust auf etwas Farbenfrohes hat, das manchmal etwas inkonsistent ist, und sich einfach an Holidays unkonventionellem Universum und vielen unerwarteten Einsichten erfreuen möchte, der/dem würde ich das Buch sehr empfehlen. Auf die angekündigte Fortsetzung der Reihe freue ich mich jedenfalls schon.

Bewertung vom 06.07.2024
Eve
Towles, Amor

Eve


sehr gut

Evelyn Ross kommt nach Beverly Hills, wo sie sich in einem Hotel einquartiert, in dem Leute verkehren, die es in Hollywood zu Ruhm gebracht haben oder es dort schaffen wollen. Wer genau sie ist und was sie antreibt, gibt Anlass zu Spekulation. Viele fühlen sich von ihr angezogen, sie macht einige Bekanntschaften, wird zur regelmäßigen Begleiterin und Vertrauten von Olivia de Havilland, und es kommt einem zum Beispiel Anna Sorokina in den Sinn. Die Scharade ist zugleich ein Krimi.

Ein gut konstruiertes, hinreißendes Buch, eine beeindruckende Protagonistin, und lustig auch noch. Selten werden Frauen von männlichen Autoren so toll gezeichnet. Der Verlagstext lässt erahnen, in welche Richtung die Geschichte geht - aber vielleicht läuft sie dabei in eine andere.

Das Buch hat mich von Seite zu Seite mehr begeistert. Schade, dass die Übersetzung (es findet sich gegen Ende das Wort „Pestkontrolle“, wahrscheinlich eine Fehlübertragung des englischen Begriffs Pest Control, Schädlingsbekämpfung?) mich letztlich fürchten lässt, was alles an Details in der Erzählung verloren gegangen sein könnte.

Aber auf jeden Fall eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 30.06.2024
Das erste Licht des Sommers
Raimondi, Daniela

Das erste Licht des Sommers


sehr gut

Höhen und Tiefen und etwas Mystik

Familiensaga und Entwicklungsroman: Normas erste und engste Bezugsperson in der Kindheit ist ihre gleichaltrige Cousine Donata. Von ihrer Mutter fühlt sie sich nicht geliebt. Irgendwann lernt Norma im Dorf ihrer Nonna, Stellata, auch noch den kleinen Elia kennen, mit dem sie von da an eine innige Freundschaft verbindet. Norma und Donata verlieren sich als junge Erwachsene. Zwischen Norma und Elia kam es schon in der frühen Pubertät zum Bruch. Dann ziehen aber beide nach London, treffen sich dort in den frühen 70er Jahren wieder und finden sich auch als Paar.
Als Norma selbst schon Großmutter ist, begleitet sie ihre Mutter Elsa in deren Herkunftsdorf Stellata. Elsa ist todkrank - sie möchte ihre letzten Monate dort verbringen und neben ihrem Mann begraben werden.

Vor dem Hintergrund dieser nicht einfachen Mutter-Tochter-Konstellation erzählt Raimondi in weiten Rückblenden über mehrere Generationen die Geschichte von Normas Familie und vor allem, was in sich wandelnden Zeiten aus Norma, Donata, Elia wird - auch aus ihrem jeweiligen Weltbild.

Die Handlung beginnt im verarmten Nachkriegs-Italien und geht bis fast in die Gegenwart. Erzählt wird zum großen Teil aus Normas Sicht. Wir erleben die Höhen und Tiefen ihres Lebens mit, aber auch die Freuden, Sorgen und geheimen Hintergedanken der anderen Protagonisten.

Gelangweilt haben mich lediglich die vielen zeitgeschichtlichen Darstellungen im London-Teil: Ich kann - z.B. - nicht wirklich erkennen, wofür die Erzählung breite Ausführungen zum Thronjubiläum und den in den Medien kolportierten Beziehungen von Prince Charles in den 70ern benötigte.

Ich fand das Buch sehr intensiv und berührend. Eigentlich bin ich kein Freund von magischem Realismus, aber hier passt es so gut, dass man dran glauben möchte, und gibt der Erzählung eine tiefere Dimension.

Sehr schön auch die Gestaltung des Einbands: Das Bild vom Schutzumschlag ist auch auf den Buchdeckel gedruckt.

Bewertung vom 16.06.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


sehr gut

Es gibt keine einfachen Lösungen

Ein autofiktionales Werk. Zora del Buono hat sich auf die Suche nach demjenigen begeben, der wenige Monate nach ihrer Geburt den Autounfall verursacht hat, bei dem ihr Vater starb. Mehr als ein paar unpräzise Ortsangaben und die Initialen des Mannes hat sie zunächst nicht. Mit ihrer Mutter kann sie seit jeher über die Umstände des Todes des Vaters vor 60 Jahren nicht sprechen. Für sie war der Unfall ihres Mannes ein tiefes Trauma. Zudem versinkt sie in den letzten Jahren in der Demenz.

Del Buono stellt sich die Frage, wie der Unfallverursacher mit der Schuld umgeht, wie er sein Leben leben konnte. Unberührt? Oder trägt er an der Verantwortung? Sie beabsichtigt, ihn zu konfrontieren, wenn sie ihn ausfindig gemacht hat. Und vor allem sucht sie eine vorsichtige, kreisende Annäherung an das Geschehene.

Dafür recherchiert sie. Sie unterhält sich im Lauf der Zeit immer wieder mit einer befreundeten Psychoanalytikerin im Kaffeehaus. Sie befasst sich mit Schuld, mit der Geschichte und Ausstattung des VW Käfer (das Unfallauto), mit bekannten Opfern von Verkehrsunfällen, Unfallstatistiken, der unterschiedlichen Sichtweise auf Verkehrstode, mit Vaterlosigkeit, mit verfehlter und instrumentalisierter Empathie, mit der schweizer Justiz und Rassismus, Hexenverfolgung (und noch einigem mehr). Sie schreibt so auch über Kindheitserinnerungen, über sich, ihre Gedankenwelt, ihr Leben und ihre Familie.

Ihr Zugang zu dem, was sie erzählt und recherchiert, wirkt mehr als einmal assoziativ. Langweilig ist es nie.

Del Buonos Wunsch ist letztlich der nach Verstehen, nicht nach Vergeltung und einseitiger Zuschreibung. Ihre Einstellung zum „Töter“ ihres ihr unbekannten Vaters verändert sich selbstverständlich auch, je mehr sie über ihn herausfindet. Sie geht möglichst nüchtern, interessegeleitet an ihr Thema heran. Das Buch ist - zum Glück - alles andere als eine emotionale, eindimensionale Anklage eines Schuldigen (was der Titel vielleicht vermuten ließe).

Die Autorin hat hier weder ein leichtes Unterhaltungsbuch geschrieben (bei dem Thema und Ansatz auch nicht zu erwarten) noch ein schweres Trauerdrama. Mit einiger Neugier - und zugleich auch immer wieder Unbehagen - wendet sie sich dem Thema aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu.

Die Aufmachung ist wertig, im Buch finden sich ein paar Familienfotos, die die Personen näherbringen.

Wer sich nicht davor scheut, eine interessante, durchdachte Annäherung an menschliche Komplexität und eine Recherche zu einem anspruchsvollen Thema - ohne einfache Lösungen - zu lesen, wird mit diesem anregenden Buch sehr zufrieden sein. Mir hat es gut gefallen.

Bewertung vom 02.06.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


sehr gut

Glück und Verlust, dicht an dicht

Was tun, wenn von einem engen Freundespaar nur eine(r) von Anfang an verliebt ist? Robert liebt Frie schon seit kurz nach ihrem Kennenlernen in der Oberstufe in den späten achtziger Jahren. Frie verliebt sich aber nicht in Robert, sondern sieht ihn nur als sehr guten Freund, mit dem sie (fast) alles teilen und auf den sie sich verlassen kann. Nach der Schulzeit und über die Jahre entfernen sie sich voneinander und kommen sich doch auch wieder näher. Dabei erkennt Frie irgendwann, dass sie wohl doch in Robert verliebt ist. Aber ist es da schon zu spät, alle Chancen verschenkt? Als sie um die dreißig sind, zieht es sie dann doch endlich zueinander. Was aber nicht funktioniert - die Leben der beiden passen nicht mehr zusammen. Sie sagen sich, dass sie es ja mit 50 nocheinmal miteinander versuchen könnten, falls sie dann solo sind. Und tatsächlich hält sich Robert, der emotional von Anfang an viel tiefer verstrickt ist, an diese für ihn magische Zahl. So weit so vorhersehbar. Natürlich läuft es auch dann nicht unkompliziert.

Ja, auch nur eine Variante von Boy meets Girl - aber schön gemacht. Und auch wenn der Plot zunächst vorhersehbar klingt, habe ich von Anfang bis Ende mitgefiebert, was aus den beiden werden könnte und wird.

Julia Karnick hat hier ein Buch geschrieben, das zugleich wehmütig und glücklich macht, mit viel Identifikationspotential. Die Charaktere Frie und Robert sind gut und nachvollziehbar gezeichnet - alle beide haben ihre Widersprüche und auch ihre Abgründe; die von Frie werden etwas schärfer dargestellt als die von Robert.

Die Geschichte ist gut lesbar, ohne dadurch platt zu werden, und zeitgemäß geschrieben, abwechselnd aus der Sicht von Frie und von Robert. Der Soundtrack passt zur Zeit und den Personen, und wie sie kommunizieren auch. Wie Robert und Frie ihre Leben erleben, liest sich deshalb authentisch.

Das Cover und die wertige Gestaltung des Buches gefallen mir ebenfalls sehr.

Bewertung vom 27.05.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

Man geht den langen, langen Weg mit

Ein Buch, das in doppelter Hinsicht mitnimmt: Man geht Javiers Weg tatsächlich in allen Höhen und Tiefen mit, weil der Autor es versteht, so packend zu schildern, als wären wir dabei. Und es ist emotional tief bewegend und auch bedrückend.

Der schön gestaltete Einband verrät schon viel über das Buch: Es geht um den langen Weg eines Neunjährigen, der mithilfe von Menschenschmugglern aus dem krisengeschüttelten El Salvador zu seinen Eltern in die USA gelangt. Der Autor erzählt seine eigene Geschichte, und die Perspektive des noch ziemlich kleinen Jungen (der natürlich mit den Großen mithalten will) wird in der Erzählung auch gut sichtbar. Die ersten paar Dutzend Seiten, auf denen Javiers behütetes Leben in El Salvador beschrieben wird, erschienen mir zuerst etwas langatmig. Im Ergebnis verdeutlichen sie aber den drastischen Umbruch, den der Junge durch seine Flucht erlebt, um so mehr. Sein Weg beginnt zunächst „nur“ aufregend, wird aber immer beschwerlicher und schließlich lebensgefährlich. Die Schlepper erweisen sich als unzuverlässig und rücksichtslos, manche von Javiers Begleitern auch. Andererseits findet er nach und nach Rückhalt, fast familiäre Unterstützung, auch Hilfe von unerwarteter Seite.

Ich hatte erwartet, dass Javiers traumatisierende Geschichte den Erfahrungen ähnelt, die die Menschen machen, die in den letzten Jahren versucht haben, in die EU zu gelangen, übers Meer, über die sog. Balkanroute und die anderen Wege. Javiers Geschichte ist anders - aber einfach nur anders schrecklich. Das Buch sollte den Blick aller auf Flucht schärfen.

Bewertung vom 26.05.2024
Das Licht in den Birken
Fölck, Romy

Das Licht in den Birken


gut

Romy Fölck hat sich eine wirklich interessante Geschichte ausgedacht - und sie dann für mein Empfinden viel zu simpel und unglaubwürdig umgesetzt.

Thea bricht nach über 20 Jahren ihre Zelte in Portugal ab, um in ihre norddeutsche Heimat zurückzukehren. Sie fürchtet, schwer krank zu sein und möchte im Fall der Fälle lieber in Deutschland behandelt werden. Auf die Idee, sich erst einmal von der Ärztin ihres Vertrauens eine Diagnose zu holen und auf der Basis dann zu entscheiden, ob sie wirklich endgültig nach Deutschland zurückkehren muss oder möchte, kam sie offenbar nicht. Sie mietet sich mit ihren zwei Lieblingsziegen beim etwa gleichaltrigen, einsiedlerischen und eigenwilligen Benno ein, der versucht, seinen völlig überschuldeten Lebenshof für Tiere über Wasser zu halten. Beide sind nur bedingt verträglich und müssen sich von Anfang an etwas konflikthaft zurechtraufen. Gleich innerhalb Theas ersten paar Tagen auf dem Hof rettet Benno außerdem beim Brennholzsuchen zufällig Juli, die eigentlich von Mecklenburg nach Amsterdam wandern wollte, aber sich im an den Hof angrenzenden Wald den Fuß umgeknickt hat und für einige Wochen nicht mehr weiter laufen kann. Juli zieht gleich mit auf dem Hof ein, erst auf Bennos Küchenbank, dann auf Theas frisch gekauftes Klappsofa. Sie ist knapp über der Volljährigkeit und versucht, den noch nicht lange verstorbenen Großvater im mentalen Gepäck, mit ihrer Wanderung ihrer sie kontrollierenden alleinerziehenden Mutter zu entkommen. Die Kapitel werden abwechselnd aus der Sicht von Thea, Benno und Juli erzählt.

Erst mal ein interessantes Setting mit spannenden Charakteren also.

Leider aber völlig unglaubwürdig umgesetzt. Alle möglichen Entwicklungen auf dem Hof und Verwandlungen der Charaktere ereignen sich im Schnelldurchlauf innerhalb eines Zeitraums von nicht einmal zwei Wochen. In dieser kurzen Zeit gibt es außerdem noch fast täglich mittelgroße Ausraster der Protagonisten, dramatische Ereignisse, aus denen sie gerettet werden müssen - wohl um die Geschichte spannend zu halten. Wären der Plot und die Wandlungen der Charaktere im angemessenen Tempo entwickelt worden, hätte es interessant und sogar überzeugend werden können - bei Fölck folgen aber im schnellen Wechsel Katastrophen und Wunder aufeinander, da kann keine TV-Soap mehr mithalten. Wenig stimmig gezeichnet ist vor allem Thea: Ist sie jetzt eher der melancholische oder der überschwängliche Typ? Und dann schiebt die Autorin ihr noch eine fast ärgerlich konventionelle Denke und Ausdrücke unter, die sicherlich nicht zu einer Aussteigerin passen, die einiges vom Leben gesehen, Höhen und Tiefen erlebt und das Gras griffbereit in der Schublade liegen hat: Zu Benno, den sie in Gedanken „Zausel“ und „Miesepeter“ nennt, fällt ihr ein, er müsse „…etwas Benimm und Etikette lernen!“, da er es nun mit zwei Frauen auf seinem Hof zu tun habe; ihren Ex hat sie als junge Frau „in flagranti“ erwischt. Nun ja. Für mich ist das eine etwas abgegriffene und jedenfalls nicht zeitgemäße Darstellung, die das Bild stört.

Aber immerhin: Alles in allem ist die Geschichte gut geschrieben, und letztlich liest man es dann doch neugierig zu Ende (trotz des Ärgers über Groschenromanhaftigkeit).

Bewertung vom 17.05.2024
Dunkle Verwicklungen auf La Palma / Calderon und Rodriguez ermitteln Bd.1
Flores & Santana

Dunkle Verwicklungen auf La Palma / Calderon und Rodriguez ermitteln Bd.1


sehr gut

Ein kluger Urlaubskrimi, der auch einiges über die Geschichte von La Palma vermittelt. Nach einem super interessanten Einstieg plätschert die Story zum Ende hin mitunter etwas vor sich hin. Ingesamt aber ein erfreuliches Leseerlebnis.

Die Buchhändlerin Naira und der Journalist Ben setzen sich zusammen, um in Sherlock-Holmes-und-Watson-Manier Kriminalfälle zu lösen. Damit unterstützen sie auch Bens Freund Pedro, einen Inselpolizisten: Ein Bauunternehmer vom Festland, der auf La Palma einen Hotelkomplex errichten möchte, wird erschlagen aufgefunden. Steckt hinter dem Mord die örtliche Umweltgruppe, die den Hotelbau verhindern will? Oder ein Bauer, der sein Land nicht verkaufen wollte? Gab es vielleicht sogar ein parteipolitisches Motiv?

Offensichtlich ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint - die Charaktere werden gut nachvollziehbar, zugleich vielschichtig eingeführt. Leider bleibt ihr Verhalten dann doch nicht immer wirklich überzeugend.

Das Buch ist klasse geschrieben, ich konnte oft kaum aufhören, zu lesen. Wie von einem Urlaubsort-Krimi zu erwarten, dienen viele Passagen dazu, die Schönheit, Einzigartigkeit und Vielseitigkeit der Region darzustellen - das ist sehr interessant, hier wird aber leider die Krimi-Handlung ziemlich oft nicht vorangetrieben.

Das Buchcover ist toll, es spiegelt nicht nur die Landschaft, das Feuer der Vulkane und der Sonne. Der Einband ist auch haptisch gestaltet und hat einen schön illustrierten Buchschnitt erhalten.

Zwar keinen „Punktabzug“, aber meine Genervtheit gibt es dafür, dass - auch hier wieder - ältere Autor:innen, deren eigener Musikgeschmack wahrscheinlich in ihrer Jugend, also einige Jahrzehnte zurück, verankert ist, diesen (weil sie keine aktuelle Musik kennen? um sich selbst ein Denkmal zu setzen?) ihren jungen Protagonist:innen unterschieben. Der 30jährige Ben hört wohl ausschließlich Bob Dylan - echt jetzt?!