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Benutzername: 
Fannie
Wohnort: 
Oelsnitz/Erzgebirge

Bewertungen

Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 28.08.2024
Weißglut
Quast, Tobias

Weißglut


sehr gut

Mord meets Urlaubsfeeling

In der Abgeschiedenheit Finnlands zur Ruhe kommen, in einem malerischen Ferienhaus am See einmal für niemanden erreichbar sein, abschalten: Das ist Sarahs Plan. Nachdem die Promi-Lady einer Illustrierten entnehmen muss, dass ihr Mann sie betrügt, tritt die Münchnerin den Rückzug an – in ein mökki* in Finnland, dort, wo niemand sie kennt.

*=typisches finnisches Ferienhaus, zumeist aus Holz

Doch schon kurz nach ihrer Ankunft gerät sie nach einer Verkettung unglücklicher Umstände mitten hinein in einen Mordfall. Sie findet die Leiche eines Mannes im See und steht augenscheinlich selbst auf der Liste der Verdächtigen. Sarah beschließt, auf eigene Faust den Täter zu ermitteln, um zu beweisen, dass sie nichts mit dem Tod des Mannes im See zu tun hat.

Am 21. Mai 2024 ist Tobias Quasts Kriminalroman „Weißglut“ bei HarperCollins Germany erschienen. Für seine Geschichte hat er viele originelle Charaktere erschaffen. Mit Hauptperson Sarah bin ich allerdings bis zum Schluss nicht richtig warmgeworden.

Der Autor ist mit einer Finnin verheiratet und bezeichnet Finnland als seine zweite Heimat. Die finnische Art zu leben, landestypische Bräuche und Gepflogenheiten sowie die Landschaft beschreibt er in seinem Buch eindrucksvoll. Beim Lesen kommt echtes Urlaubsfeeling auf – trotz der bedrückenden Begleitumstände.

Die Geschichte erzählt Tobias Quast abwechselnd aus der Sicht Sarahs, aus der eines mysteriösen jungen Mannes namens Onni und der des bis zum Schluss unbekannten Mörders. Nach und nach vereinen sich die einzelnen Stränge zu einem großen Ganzen.

In Sachen Mördersuche hat man als Leser oftmals eine Ahnung, um wen es sich dabei handeln könnte – und liegt schließlich doch falsch. Gleich mehrere Verdächtige präsentiert der Autor seiner Leserschaft, denn das Mordopfer Matti Saarinen, genannt „Das Walross“, erfreute sich in seiner Umgebung keiner großen Beliebtheit.

Hilfe bei ihren Ermittlungen bekommt Sarah durch die junge Finnin Ilvi. Das ungleiche Duo knöpft sich – vielleicht eine Spur zu selbstbewusst – abseits der polizeilichen Ermittlungen Verdächtige vor und prüft emsig deren Alibis. Der ermittelnde Kommissar Toivo Aalto, der nur mäßig motiviert erscheint, taucht allenfalls hin und wieder mal am Rande auf.

Die Geschichte wird durchweg flüssig erzählt und trotz der 480 Seiten, die das Buch umfasst, dehnt sich die Geschichte an keiner Stelle. Obwohl „Weißglut“ einige humorvolle Szenen enthält, würde ich das Buch nicht in die Cosy-Crime-Schublade stecken. Auch ein typischer Feel-Good-Krimi ist „Weißglut“ nicht. Bei der Suche nach dem Mörder kann der Leser dieses unterhaltsamen Kriminalromans vor der beeindruckenden Kulisse Finnlands trotzdem wunderbar vom heimischen Sofa aus miträtseln.

Bewertung vom 28.08.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


ausgezeichnet

Unheimlich, düster und absolut fesselnd: Mein Buch des Jahres!

Das Setting: unheimlich. Die Charaktere: unverwechselbar. Der Schreibstil: mitreißend. Fazit: Mein Buch des Jahres!

Im Juni 2024 versinkt das kleine Örtchen Unterlingen in den Wassermassen einer Jahrhundertflut. Die Bewohner flüchten, werden evakuiert. Eine aber bleibt zurück, als Einzige: Gudelia Krol. Sie ist verwitet, bereits über achtzig Jahre alt und kämpft sich ohne fließendes Wasser und ohne Strom durch einsame Tage und Nächte. Für sie steht fest, dass sie ihr Haus nicht verlassen wird. Zumindest nicht lebend.

Die Wassermassen reißen alles mit sich, was sich ihnen in den Weg stellt. Häuser, Autos, Verkehrsschilder, die Schweine von Bauer Becker – und auch zwei Menschen. Mit gefesselten Händen treiben die beiden Leichen an Gudelias Haus vorbei. Sie ist nicht nur die einzige Übriggebliebene in ihrer Wohnsiedlung – sie ist auch die einzige Zeugin in einem offensichtlichen Tötungsdelikt. Doch wird man der alten Frau glauben?

Mit „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ debütiert der Autor Thomas Knüwer heute, am 21. August 2024, im Bielefelder Pendragon Verlag. Und wie! Düstere Endzeitstimmung liegt über seinem Buch, in dem sich viele Szenen auf dem Unterlingener Friedhof abspielen. Der Tod ist ein ständiger Begleiter in diesem Roman.

Thomas Knüwer erzählt die unfassbare Geschichte einer starken Frau, die 1987 mit dem gewaltsamen Tod ihres Sohnes und während ihrer langjährigen Ehe mit einem Alkoholiker, der 1998 starb, vom Schicksal hart geprüft wurde.

Als „packend“ und „fesselnd“ werden spannende Bücher gern inflationär beschrieben, doch wenn ein Buch diese beiden Bezeichnungen wirklich und wahrhaftig verdient hat, dann „Das Haus in dem Gudelia stirbt“. Man kann das Buch schlicht nicht aus der Hand legen. Ja, auch das ist ebenfalls eine gerne genommene Metapher bei Buchrezensionen, aber in diesem Fall gibt es keine treffendere Formulierung.

Die angenehm kurzen Kapitel spielen abwechselnd in Gudelias Schicksalsjahren 1987, 1998 und 2024. Ermittler existieren in diesem fulminanten Krimi-Schicksals-Thriller nur als Komparsen am Rande – und das ist gut so. Gudelia ist eine so interessante Hauptfigur, dass ihr Leben und das ihrer kleinen Familie völlig genügt, um die Spannung von Anfang bis Ende aufrechtzuerhalten.

Thomas Knüwer schaut nicht nur mit entlarvendem Blick hinter die Spitzengardinen der gutbürgerlichen Wohnsiedlung, er geht auch über Grenzen, indem er Unfassbares in ebenso nüchterne wie gewaltige Worte kleidet.

„Das Haus in dem Gudelia stirbt“ sticht auf faszinierende Weise aus den gängigen Geschichten im Spannungsgenre heraus. Kurzum: Ein absolutes Juwel, das mich derart begeistert hat, dass es schon jetzt mein Buch des Jahres ist!

Bewertung vom 13.07.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


sehr gut

Atmosphärischer Roman über das Erwachsenwerden auf dem Land

Maria ist eine gestandene Frau. Sie leitet eine Werbeagentur und hat zwei pubertierende Töchter. Mitten in den Beginn eines Wochenendtrips platzt plötzlich die Nachricht, dass Marias Vater einen Unfall hatte und mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liegt. Gemeinsam mit ihren Töchtern fährt sie zurück an den Ort ihrer Kindheit, den sie viel zu selten besucht: Den elterlichen Bauernhof mitsamt der alten Mühle. Während Maria sich dort um die demente Großmutter kümmert, der Mutter bei der Versorgung der Tiere hilft und um das Leben des Vaters bangt, erinnern sie viele kleine Begebenheiten und Dinge wie eine wiederentdeckte Schneekugel an ihre Kindheit, die ihr inzwischen vorkommt wie ein anderes Leben. Das wirft in ihr die Frage auf, was hätte sein können …

Martina Bogdahns Roman „Mühlensommer“ erschien am 11. April 2024 bei Kiepenheuer & Witsch. Das Buch mit dem wunderschönen Cover ist eine mitreißende Erzählung über eine erwachsene Frau, die sich lebhaft daran erinnert, wie sie einmal war und wie sie zu der wurde, die sie heute ist. Dabei kann die Autorin aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz schöpfen, denn sie selbst wuchs – wie ihre Protagonistin Maria – auf einem Einödhof mit eigener Mühlenbäckerei auf.

Erzählt wird die Geschichte aus Marias Perspektive. Dabei wechseln sich Gegenwart und Vergangenheit Kapitel um Kapitel ab. Die Erzählweise der kindlichen Maria ist dabei besonders charmant: Man muss ihre Unbedarftheit und ihre niedlich-naive Sicht auf die Dinge einfach liebenswert finden.

Ein weiterer echter Charakterkopf ist die Oma, die dem Eierlikör frönt, mit Wort und Tat äußerst rustikal zu Werke geht und kein Blatt vor den Mund nimmt. Aber sie ist, ebenso wie Marias Mutter, auch eine Frau, die ihr Leben lang hart auf dem Hof gearbeitet und persönliche Wünsche und Sehnsüchte immer hinten angestellt hat. Hätte Maria auch ein solches Leben gelebt, wenn sie nicht Abitur gemacht hätte und in die Stadt gezogen wäre? Mancher Dorfbewohner vertritt die Ansicht, dass sie sich als „Städterin“ für etwas Besseres hält.

Es ist unschwer zu erkennen, dass Autorin Martina Bogdahn das Dorfleben in all seinen Facetten bestens vertraut ist. Daran lässt sie ihre Leserschaft teilhaben, indem sie unverhohlen von Hausschlachtungen, ertränkten Katzenbabys und einem Reh, das die junge Maria tapfer von seinen Leiden erlöst, berichtet – Letzteres ist übrigens eine Szene, die mich zutiefst beeindruckt hat. Ratlos zurückgelassen hingegen hat mich die Autorin mit dem Schicksal einer Person im Buch. Das ist schade, denn ich hatte bis zum Schluss auf Aufklärung gehofft. Aber ich will an dieser Stelle nicht zu viel verraten, denn schließlich möchte ich nicht spoilern. Denn trotz dieser Unzulänglichkeit kann ich das Buch empfehlen.

Mit „Mühlensommer“ ist Martina Bogdahn ein atmosphärischer Roman gelungen, der gekonnt den Bogen zwischen Wehmut und derbem Humor schlägt, und der einem angesichts der stetigen Veränderungen im Laufe eines Menschenlebens tröstlich vor Augen führt, dass Erinnerungen für immer bleiben.

Bewertung vom 13.07.2024
Das Gras auf unserer Seite
Velasco, Stefanie de

Das Gras auf unserer Seite


ausgezeichnet

Ein wunderbares Buch über Freundschaft, Hunde und die Frage, wo es noch hingehen soll im Leben

Mit "Tigermilch" gelang Stefanie de Velasco 2013 ein fulminantes Debüt. 2019 wurde "Kein Teil der Welt" veröffentlicht. Mit "Das Gras auf unserer Seite" erschien am 7. März 2024 bei Kiepenheuer & Witsch der dritte Roman aus der Feder der in Oberhausen geborenen Autorin.

Im Fokus ihrer Geschichte stehen Grit, Charly und Kessie - drei Frauen im "besten Alter", wie man landläufig sagen würde. Soll heißen: Drei Frauen in ihren Vierzigern. Sie befinden sich in einem Alter, das irgendwo dazwischen liegt - einerseits ist es noch nicht zu spät dafür, selbst ein Kind zu bekommen, andererseits ist da schon die Pflegebedürftigkeit der eigenen Eltern. Ja, die drei Protagonistinnen sind also im mittleren Alter, aber von Häkeldeckchen und der Schrankwand in Eiche rustikal glücklicherweise so weit entfernt wie Italien vom aktuellen EM-Titel. (Vielleicht würde dieser Vergleich der spanischstämmigen Stefanie de Velasco ein Schmunzeln entlocken.)

Mit Grit, Charly und Kessie hat die Autorin drei unverwechselbare und originelle Figuren geschaffen, die so gar nicht ins gesellschaftliche Weltbild passen: Nichts mit Ehe, Kindern, Doppelhaushälfte und dem Angekommen-Sein. Stattdessen suchen alle drei noch nach ihrem Platz im Leben. Dabei halten die Freundinnen fest zusammen - was immer da auch kommen möge. In ihrer WhatsApp-Gruppe "Dogville" wird der Leser von "Das Gras auf unserer Seite" Zeuge ihrer offenen, manchmal derben, aber doch immer liebevollen Kommunikation. Die "Dogville"-Nachrichtenverläufe bringen Extra-Schwung in die einzelnen Kapitel und führen dazu, dass man sich den drei Frauen noch näher fühlt. Der Name "Dogville" rührt übrigens von der Liebe des Dreiergespanns zu Hunden. Grit schreibt beispielsweise Verse für Hündinnen, die vor den einzelnen Kapiteln für ein Lächeln auf den Lippen der Leserschaft sorgen.

Jede der Freundinnen hat ihr Päckchen zu tragen, wie man so schön sagt. Während Kessie die Wohnung ihrer Mutter ausräumt, da die alte Dame ins Pflegeheim musste, und Grit sich fragt, ob es wirklich eine gute Idee wäre, in ihrer Beziehung mit Anno den nächsten Schritt zu wagen und mit ihm zusammenzuziehen, steht Charly vor dem Problem, dass sie schwanger ist und nicht genau weiß, von wem.

Vor dieser Ausgangslage begleiten wir als Leser die Freundinnen auf 256 durchgehend unterhaltsamen und amüsanten Seiten. Ins Genre "Frauenroman" lässt sich "Das Gras auf unserer Seite" aber nicht pressen, denn das wäre einfach zu platt. Und platt ist dieses wunderbare Buch überhaupt nicht. Obwohl mit lockerem Mundwerk und herrlich rampensaumäßig erzählt, verbirgt sich doch eine große Frage hinter der Geschichte: Wo soll es noch hingehen in unserem Leben?

Und so stehen wir gemeinsam mit Grit, Kessie und Charly an verschiedenen Weggabelungen des Lebens, sind gespannt, wohin sie abbiegen werden und fiebern mit - bis zum wirklich schönen und kreativen Ende des Buchs.

Bewertung vom 06.05.2024
Auf ein Bier bleibe ich noch
Adam, Lennart

Auf ein Bier bleibe ich noch


ausgezeichnet

Von den Theken dieser Welt: Ein ganz besonderes Reisebuch

Lennart Adam ist nicht nur Journalist, sondern auch ausgesprochen reiselustig. Dabei sind Pauschalurlaube allerdings überhaupt nicht sein Ding. Der "Friesenjung" erkundet mit Vorliebe Länder, die beim Durchschnitts-Touristen nicht so weit oben auf der Bucket-List stehen dürften - wie den Irak, den Kosovo und Uganda zum Beispiel.

Während andere Urlauber Muscheln sammeln, sammelt Lennart Adam Bar-Besuche. Denn die sind für ihn Pflicht, ganz egal, an welchem Ende der Erde er sich gerade befindet. Am Tresen lernt der Autor Land und Leute aus einer ganz anderen Perspektive kennen. Und die steht garantiert in keinem Reiseführer!

Mit "Auf ein Bier bleibe ich noch - Bargeschichten von Teheran bis Havanna" hat Lennart Adam sein erstes Buch veröffentlicht. Erschienen ist es bei Reisedepeschen, einem noch jungen unabhängigen Verlag, der 2018 aus einem Reiseblog hervorgegangen ist und handverlesene Lektüre für Reiselustige und vom Fernweh Befallene bietet.

In seinem 304-seitigen Erstling nimmt uns Lennart Adam in 23 Kurzgeschichten mit an die Theken dieser Welt. Mal schick und erlesen, mal nur mit einem Wellblechdach vor den Unbilden des Wetters geschützt - Bar ist eben nicht gleich Bar.

Die Art und Weise, mit der Lennart Adam erzählt, ist einfach zum Niederknien. Er berichtet mit viel Humor, einer gehörigen Portion Selbstironie und durchweg fesselnd von seinen promillehaltigen Abenteuern, die spätestens dann richtig losgehen, wenn er sich mal wieder sagt: "Auf ein Bier bleibe ich noch".

Aber es geht bei Weitem nicht nur um Bier, Bars, Jux und Dallerei in Lennart Adams Reisebericht der ganz anderen Art. Unverhohlen geht er auf Missstände und Vorurteile ein, auf die er in einigen Ländern trifft. Auch vor gesellschaftlicher Kritik scheut sich der Autor nicht. Es geht um Glaubensfragen und Krieg, um Völkermord und Unterdrückung.

Ob witzig oder ernsthaft: Lennart Adam trifft immer den richtigen Ton - wirklich faszinierend! Und während man mit dem passionierten Biertrinker um die Welt reist, zuckt man kurz zusammen, wenn man nebenbei auf die Seitenzahl schielt und dann erstaunt ruft: "Waaaas? Schon Seite 117? Ich hab doch grad erst angefangen mit dem Buch." Kein Witz, das ist mir tatsächlich so gegangen.

Besonders hervorheben muss ich die liebevolle Aufmachung von "Auf ein Bier bleibe ich noch". Den Kapiteln voraus geht stets eine bebilderte Doppelseite mit Erinnerungsstücken und handschriftlichen Aufzeichnungen des Autors.

Dieses Buch ist wirklich etwas ganz Besonderes und eignet sich nicht nur hervorragend zum Selberlesen, sondern auch als perfektes Geschenk für Weltenbummler und solche, die es werden wollen.

Und Lennart Adam? Der reist und schreibt in der Zwischenzeit hoffentlich weiter, denn mit Sicherheit warten noch ganz viele Bars und Geschichten auf ihn - und ich auf weitere Erzählungen aus seiner Feder.

Bewertung vom 23.04.2024
Salzwasser
Simmons, Charles

Salzwasser


ausgezeichnet

„Tränen und Salzwasser schmecken gleich“: Eine Erzählung mit ungeheurer Wucht

„Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“

Der 2017 verstorbene US-Schriftsteller Charles Simmons war sich der Macht des ersten Satzes bewusst. Und so erzählt er in seinem Roman „Salzwasser“ von eben diesem Satz an bis zum Ende wortgewaltig von Michael, der mit 15 Jahren seine erste Liebe erlebt. Diese erste Liebe ist alles auf einmal: überwältigend, berauschend, ungewohnt, beängstigend. Charles Simmons geht mit seinem jugendlichen Protagonisten nicht zimperlich um, er lässt ihn dank der geheimnisvollen Zina den Wahnsinn der ersten Liebe in sämtlichen Gefühlsfacetten spüren.

Simmons‘ Erzählstil ist bemerkenswert: Er schreibt in einer sachlich-intensiven Weise, ohne jemals ins Kitschige abzudriften. Mühelos findet er die richtigen Worte, er braucht dabei weder Pomp noch Pathos. Ungeahnte Wendungen und scheinbar gut gehütete Geheimnisse, die dann doch keine bleiben, geben der Geschichte den richtigen Drive.

Dieses kleine unscheinbare Büchlein mit seinen gerade einmal 143 Seiten entwickelt schnell eine ungeheure Wucht. Es ist eins dieser Bücher, in denen man verloren gehen kann. Der Leser hat gar keine andere Möglichkeit, als sich mit Haut und Haar in diese Geschichte fallen zu lassen. „Salzwasser“ ist ein intensives Leseerlebnis, das einen mit allen Sinnen gefangen nimmt – man hört das Rauschen der Wellen, schmeckt das Meer auf der Zunge, spürt den Wind. Gleichwohl fühlt man mit Michael, der sich nicht nur unglücklich verliebt, sondern auch seinen Vater auf tragische Weise verliert.

Vor 26 Jahren erschien das Buch erstmalig im Original mit dem Titel „Saltwater“. 2002 wurde es im Verlag C.H. Beck als gebundene Ausgabe veröffentlicht. Nun, 22 Jahre danach, erschien „Salzwasser“ am 14. März 2024 als Taschenbuch bei C.H. Beck – und zwar nach den Regeln der „alten“ Rechtschreibung und mit einem wunderschönen Cover.

„Salzwasser“ ist ein zeitloses Buch – weil Liebe schließlich nie aus der Mode kommt, und die Heftigkeit der ersten Liebe im Jahr 2024 dieselbe Durchschlagskraft hat wie im Jahr 1963 – das Jahr, in dem die Geschichte spielt.

Fazit: Eine absolute Leseempfehlung für alle, die mit einer fesselnden Geschichte dem Hier und Jetzt für ein paar Stunden entfliehen möchten.

Bewertung vom 12.04.2024
Ein Tag und ein ganzes Leben
Kollaard, Sander

Ein Tag und ein ganzes Leben


sehr gut

Zwischen Tragik und Komik: Hundebesitzer Henk und ein ereignisreicher Samstag im Juli

Ein Samstag im Juli. Henk ist 56 Jahre alt, geschieden, Krankenpfleger auf der Intensivstation und er hat heute frei. So weit, so unspektakulär.

Doch Henk, der sein Leben mit Hund Schurk teilt, wird heute eine ganze Menge erleben – Schlechtes wie Schönes. Ein Tag, der so viel für ihn bereithält, dass es für ein ganzes Leben reichen könnte. Das ahnt Henk nur noch nicht, als er an diesem Morgen die Augen aufschlägt …

Sander Kollaards Roman „Ein Tag und ein ganzes Leben“ heißt im niederländischen Original „Uit het leven van een hond“ und erhielt vor vier Jahren den Libris-Literaturpreis, der als wichtigste literarische Auszeichnung der Niederlande gilt.

Entsprechend hoch waren meine Erwartungen und groß die Lust auf die Lektüre, auch vor dem Hintergrund, dass sich die Niederlande in diesem Jahr als Gastland der Leipziger Buchmesse präsentierten.

Sander Kollaard komprimiert ein ganzes Leben auf einen Tag und diesen wiederum auf 180 Seiten. Der Leser verbringt diesen Samstag an Henks Seite, von Anfang bis Ende, und erlebt die Aufs und Abs dieses Juli-Tages hautnah mit. Ganz bezaubernd ist dabei die Freundschaft mit seiner Teenie-Nichte Rosa, denn sie und Henk mögen einander sehr. Im Mittelpunkt steht aber die innige und zu Herzen gehende Beziehung zu seinem Hund Schurk, Henks Kooikerhondje, der schwer krank ist, wie sein Herrchen an diesem Tag leider erfahren wird.

Henk selbst ist sympathisch, eine Art Riesenbaby, dessen Gedanken niemals stillstehen. Er denkt und sinniert und fantasiert fortwährend in inneren Monologen. Das wird mit der Zeit ziemlich anstrengend, zumal sein Gedankenkarussell sich in fast schon kafkaesken Sätzen dreht, an deren Ende man nicht umhinkommt, den Anfang noch einmal zu lesen, um den Zusammenhang zu verstehen. Für meinen Geschmack philosophiert Henk zu viel. Und bei seinen Gedankensprüngen hinterherzukommen, ist gar nicht so leicht.

Nicht nur Henk, sondern alle Figuren in „Ein Tag und ein ganzes Leben“ wirken sehr lebendig und vor allem durch sein illustres Personal hält Sander Kollaard die Balance zwischen Tragik und Komik hervorragend.

Hauptdarsteller Henk befasst sich beim Philosophieren nicht mit Kleinigkeiten, sondern er widmet sich den ganz großen Fragen des Lebens – und das geht auch am Leser nicht spurlos vorbei. Dabei wagt Sander Kollaard einen Blick in die spätere Zukunft Henks – eine originelle Perspektive, die dem Leser tröstlich vor Augen führt, dass man auch schlimme Ereignisse überwinden wird. „Ein Tag und ein ganzes Leben“ verbreitet eine Art beruhigender Hoffnung und ist eine Ode an die Lebensfreude – und schon allein deshalb lohnt sich (trotz teils anstrengender Henk-Philosophie-Monologe) das Lesen dieses Buchs!

Bewertung vom 04.04.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


sehr gut

Zwischen Heimatliebe und Heimathass: Nachdenklicher Roman über ein Kind der Wende

Kosakenberg – leider kein Name wie Donnerhall, sondern ein typisches Dorf in den Tiefen der brandenburgischen Provinz. Der Konsum hat seit Jahrzehnten zu, fast alle jungen Menschen sind in den Westen abgewandert.

Auch Kathleen hat Kosakenberg verlassen. Sie ist nach London gegangen, um dort als Grafikerin für ein Einrichtungsmagazin zu arbeiten. Kathleen liebt die Großstadt und ist froh, dass sie den Absprung aus dem brandenburgischen Niemandsland geschafft hat. Doch bei ihren seltenen Fahrten in die Heimat kommt sie immer wieder mit ihrer Vergangenheit in Berührung: mit ihrer Familie, mit einstigen Freunden, vor allem aber mit der Kathleen, die sie früher einmal gewesen ist, bevor sie dem Dorf den Rücken gekehrt hat.

Autorin Sabine Rennefanz beschäftigt sich in „Kosakenberg“ mit der Frage, was genau Heimat ist und ob es möglich ist, sie abzustreifen, sie hinter sich zu lassen wie einen Lebensabschnitt, den man abgeschlossen zu haben meint.

In ihrem 222-seitigen Buch, das am 14. März 2024 im Aufbau Verlag erschienen ist, beschreibt Sabine Rennefanz mit messerscharfem Blick die innere Zerrissenheit ihrer hadernden Protagonistin Kathleen, die, gefangen zwischen der Sehnsucht nach der Heimat und dem Triumph des Weggangs, eine regelrechte Hassliebe zu ihrem einstigen Heimatort Kosakenberg entwickelt.

Mit klarer Sprache und authentischen Dialogen lässt Sabine Rennefanz ihre Leser über Jahrzehnte hinweg an der Entwicklung Kathleens teilhaben, die geprägt ist von Veränderungen und Verlusten. Dennoch strahlt die Figur der Kathleen eine gewisse Unnahbarkeit aus, wobei genau das vielleicht von der Autorin beabsichtigt ist, um die Kontraste zwischen denen, die geblieben sind, und Kathleen, die ihr Glück in der Ferne gemacht hat, darzustellen.

„Kosakenberg“ ist ein stilles Buch, in dem sich nicht temporeich Ereignis an Ereignis reiht, sondern das vielmehr das bewegte Innenleben Kathleens und den Wandel des Dorfes mitsamt seiner Bewohner in den Mittelpunkt rückt – und genau das macht es spannend!

Die zeitlebens problematische Mutter-Tochter-Beziehung sorgt für weiteres Konfliktpotenzial.

Mit wohldosierter Wehmut lässt Sabine Rennefanz ihre Hauptfigur schließlich als Mittvierzigerin Rückschau auf ihr Leben halten: Was wollte ich einst? Was habe ich erreicht? Was will ich noch? Das sind die Fragen, die Kathleen umtreiben.

Sabine Rennefanz ist mit „Kosakenberg“ ein nachdenklich stimmender Roman gelungen, der über eine bloße Familien- und Heimatgeschichte hinausgeht. Das Buch bietet eine glaubhafte Retrospektive auf das Dorfleben zu DDR-Zeiten und die nach der Wende einsetzende Landflucht gen Westen, die nicht ganz ohne gängige Klischees auskommt, aber durchweg für anregende Lektüre sorgt.

Bewertung vom 19.03.2024
Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge
Tsokos, Anja;Tsokos, Michael

Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge


ausgezeichnet

Unterhaltsamer und spannender als jede Geschichts-Doku

Zu Professor Doktor Michael Tsokos fallen einem zuerst wahrscheinlich Fachbegriffe wie Leichenliegezeit, Totenstarre und Körperkerntemperatur ein – schließlich ist der 57-Jährige Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner. Ein erfolgreicher Buchautor ist er noch dazu: Sowohl seine Sachbücher über den Tod als auch seine Thriller-Reihen verkaufen sich wie warme Semmeln.

Nun aber beschreitet der ehemalige Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité ganz neue literarische Wege – und zwar gemeinsam mit seiner Frau Anja. Sie wurde im sächsischen Oschatz geboren, er in Kiel. Irgendwie logisch, dass bei ihrem ersten Gemeinschaftsprojekt ein deutsch-deutscher Roman herauskam, der die jüngere Geschichte des einst geteilten Landes beleuchtet – und das nicht ohne das ein oder andere neckische Augenzwinkern.

„Heinz Labensky und seine Sicht auf die Dinge“ ist am 1. Februar 2024 bei Droemer Knaur erschienen. Protagonist und zugleich Titelgeber des Buches ist der leicht verschrobene Rentner Heinz Labensky, der in einem Feierabendheim in Erfurt ein tristes Leben führt. Doch eines Tages kommt Bewegung in sein gleichförmiges Dasein, nämlich, als ihn ein mysteriöser Brief erreicht, geschrieben von der Tochter seiner einstigen großen Liebe Rita. Letztere wiederum hat Labensky zu DDR-Zeiten aus den Augen verloren. Aber noch heute denkt er täglich an sie. Was wohl aus ihr geworden ist? Die Vermutungen der Tochter verheißen nichts Gutes. Also schnappt sich „Heinzi“ seine hellgraue Blousonjacke, steigt in einen Flixbus und begibt sich auf eine fantastische Reise in seine Vergangenheit.

Gleich vorweg: Das Ehepaar Tsokos erzählt in seinem ersten gemeinsamen Roman eine warmherzige und vor allem höchst unterhaltsame Geschichte. Es macht wirklich unglaublichen Spaß, dieses Buch zu lesen, denn Anja und Michael Tsokos bringen den unscheinbaren Pensionär gerne mitten in die Bredouille wahrer Begebenheiten aus der deutsch-deutschen Geschichte. Von der RAF über Hermann Göring bis hin zu Erich Mielke – sie alle haben ihren Platz in diesem Roman. Indem das Autorenpaar den Lebensweg eines ebenso fiktiven wie einfachen Mannes mit der tatsächlichen jüngeren Historie Deutschlands vereint, lässt es die Lektüre kurzweiliger und spannender als jede Geschichts-Doku werden.

Der spröde Heinz Labensky ist allerdings kein klassischer Publikumsliebling, den man gleich von Anfang an mag. Ganz behäbig schlurft er mit seiner Bundfaltenhose in das Herz der Leser. Und irgendwann stellt man beim Lesen fest, dass man heimlich, still und leise zum „Heinzi“-Fan mutiert ist.

Mich hat das Buch ein wenig an Fredrik Backmans Besteller „Ein Mann namens Ove“ erinnert. Wer Geschichten wie diese mag, wird „Heinz Labensky und seine Sicht auf die Dinge“ lieben.

Bleibt zu hoffen, dass Michael Tsokos und seine Frau Anja ihrem ersten gemeinsamen Buch-Projekt weitere folgen lassen. Mit „Heinz Labensky und seine Sicht auf die Dinge“ haben die beiden jedenfalls alles richtig gemacht.

Bewertung vom 12.03.2024
Der Lärm des Lebens
Hartmann, Jörg

Der Lärm des Lebens


ausgezeichnet

Ehrlich, ungeschönt und authentisch: Der Mensch hinter dem „Tatort“-Kommissar

Stellt Euch vor, Ihr sitzt in einer typischen Ruhrpott-Kneipe: Grauer Klinkerbau, die großen Fenster verhängt mit vergilbten Spitzengardinen. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch, der Tresen ist mit einer abgrundtief hässlichen Vase bestückt, in der angestaubte Kunstblumen ein tristes Dasein fristen. Das meistgehörte Wort ist „Hömma“ und Euch gegenüber beim Pils sitzt ein markiger Typ, der im melodischsten Ruhrpott-Slang lustige, aber auch tieftraurige Episoden aus seinem Leben erzählt. Genauso fühlt man sich als Leser von Jörg Hartmanns biografischem Buch „Der Lärm des Lebens“ (Erscheinungstermin: 12. März 2024) – und das soll ausnahmslos als Kompliment verstanden werden!

Der 1969 geborene Schauspieler, der den meisten Fernsehzuschauern durch seine Paraderolle Kommissar Faber im Dortmunder „Tatort“ bekannt sein dürfte, lädt die Leser auf 304 Seiten zu sehr persönlichen Einblicken in sein bewegtes Leben ein. Es wird niemals öde, ihm dabei zuzuhören – und ich schwöre, ich hatte von Anfang bis Ende beim Lesen Jörg Hartmanns Stimme im Kopf!

Ratsam ist es, sich bei der Lektüre gleich ein paar Klebezettel in greifbare Nähe zu legen, denn so viele geistreiche Gedanken und (auch ungeschönte) Wahrheiten säumen dieses Buch, die es wert sind, nicht nur gelesen, sondern auch bedacht zu werden.

Jörg Hartmann schildert in äußerst authentischem Ton seine Anfänge als ambitionierter Schauspielstudent, nimmt uns mit zurück in seine Kindheit im beschaulichen Herdecke, erzählt von zerplatzten und wahrgewordenen Träumen und spannt den Bogen bis in die Ödnis des Corona-Lockdowns, der für ihn als Schauspieler auch durchaus die Chance zur Neuausrichtung bot.

Das zentrale Thema des Buchs ist der Tod seines Vaters. Jörg Hartmann streift die raue Faber-Schale ab und zeigt sich sehr verletzlich. Wer Details von rauschenden Filmpartys und Interna aus der Welt der Reichen und Schönen erwartet, ist bei „Der Lärm des Lebens“ (gottseidank) verkehrt, denn Jörg Hartmann ist ein durchweg sympathischer, einfacher Typ ohne jedwede Starallüren, der mit den großen und kleinen Sorgen des Familienalltags bestens vertraut ist. Fast schon beängstigend normal für einen Schauspieler seines Formats!

Bei aller Ernsthaftigkeit kommt aber der Humor nicht zu kurz. Der Mime nimmt sich auch gern mal selbst auf die Schippe, wenn er sich in Selbstgesprächen als „larmoyantes Arschloch“ bezeichnet.

Ich hing beim Lesen quasi an Jörg Hartmanns Lippen und habe dieses biografische Stück Literatur innerhalb kürzester Zeit verschlungen. Wenn man dann das Buch zuklappt, das imaginäre Pilsglas leer ist, und die Wirtin der eingangs erwähnten fiktiven Ruhrpottkneipe das Licht löscht, dann meint man, in Jörg Hartmann einen echten Kumpel gefunden zu haben. „Und das is hier bei uns im Ruhrpott viel mehr als Freunde.“ (Zitat von Seite 25)