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wilde hummel 1
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Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 69 Bewertungen
Bewertung vom 12.06.2024
Die kurze Stunde der Frauen
Gebhardt, Miriam

Die kurze Stunde der Frauen


gut

Das Buchcover ist gut gewählt - eine Frau blickt in die Ferne oder Zukunft. Miriam Gebhardt hat den Versuch gestartet, Frauen, ihr Schicksal und ihre Rollen in der Zeitspanne kurz nach Kriegsende zu beschreiben. Leider vermischt sie dabei Pseudowissenchaftliches, persönliche Biografien, statistisches Zahlenmaterial und ihre eigene Meinung. Dass sie den Mythos Trümmerfrau noch mal durchleuchtet und ernüchternd die manipulativen Versuche zur Glorifizierung aufzeigt, dass sie die sexualisierte Gewalt beschreibt, dass sie auch die unbelehrbaren Nazi-Frauen erwähnt, dass die Zeiten vor allem Beschaffungsnotwendigkeiten verursachten - all das ist nicht neu und wurde schon oft beschrieben. Was ist also zugespitzt die Quintessenz der Aussage? Haben Frauen nun generell ihre kurze Chance einen Quantensprung in der Emanzipation zu initiieren versäumt? Aber tradierte Rollenmuster verändern sich nicht plötzlich, nur weil die Männer abwesend sind. Am spannendsten fand ich noch den Versuch, die unterschiedliche Entwicklung in Ost- und Westdeutschland zu analysieren. Besonders gut fand ich die eingefügten Bilder, die so viel mehr von der Zeit widerspiegeln. Mir persönlich hätten tatsächlich dokumentierte Interviews der noch lebenden Zeitzeugen besser gefallen, als willkürliche Ausschnitte aus verschiedenen Tagebüchern. Gerne hätte ich auch mehr über die Bruchstellen in den Frauenbiografien erfahren. Mein historisches Interesse wurde teilweise gut bedient, auch wenn ich den Historienmix so nicht mochte.

Bewertung vom 28.05.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


ausgezeichnet

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland - welch ein Titel und doch ist tatsächlich Vorsicht geboten. Wer sich auf diesen Roman einlässt, wird einen Reisebericht vorfinden, der eine Zugfahrt beschreibt, die nicht nur durch eine unerforschte, geheimnisvolle Landschaft geht, sondern auch eine Strecke durch viele literarische Genres durchläuft. Um 1900 fährt die transsibirische Eisenbahn von Peking nach Moskau, verbindet China mit Europa, transportiert viele Waren (auch Schmuggelware), aber auch sehr unterschiedliche Fahrgäste. Sarah Brooks stellt sie uns vor mit ihren jeweils individuellen Motivationen für diese Reise. Ein Kind, das im Zug geboren war, ein Wissenschaftler, eine unter falscher Identifikation allein reisende Frau, eine geheimnisvolle Schwarzfahrerin u.v.a. Mit zunehmendem Streckenverlauf wird die Reise immer abenteuerlicher, fantastischer und dramatischer und hier überrascht der Roman, in dem Abenteuer, Fantasy, Parabel und Thriller so geschickt miteinander verbunden sind, dass ein besonderer Sog und Spannung entsteht und das Buch aus vielen anderen heraushebt. Ein wenig erinnert es auch Jules Verne 'Reise in 80 Tagen um die Welt' oder den 'Orientexpress' - doch Sarah Brooks Abenteuerroman lässt sich nicht eindeutig klassifizieren, aber wenn man sich einlässt, macht er unendlich viel Spaß beim Lesen.

Bewertung vom 14.05.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


sehr gut

Das Buchcover stellt eine gemalte, traumhaft schöne Szene am Meer dar - zwei Kinder spielen am Strand - ein Idyll. Doch wie in fast jedem Idyll sind es die langen Schatten, die sich in den blauen Himmel schieben. Adrienne Brodeur hat ihren Roman in die Landschaft Cape Cods geschrieben und lässt uns Kapitel für Kapital die Familie Gardner besser kennenlernen. Abwechselnd werden die Hauptprotagonisten, der Vater Adam und seine inzwischen erwachsenen Kinder Abby und Ken vorgestellt und das macht Frau Brodeur sehr geschickt, so dass die Puzzlestücke der einzelnen Figuren immer mehr zu einer psychologisch sehr genau beschriebenen Familienaufstellung werden. Der Vater mit seiner bipolaren Störung, der zwischen Größenwahn und Absturz pendelt, die beiden Geschwister, die ohne Mutter aufwachsen (und auf Grund der Krankheit des Vaters) keine verlässliche Bindung und Orientierung erleben, klammern sich eng aneinander und finden nur schwer eine Abtrennung und werden zu konkurrierenden Rivalen; Geschwisterliebe, die zur Hassliebe wird und die Bombe platzt an der Geburtstagsfeier des 70-jährigen Adam. Der Roman streift sehr viele Themen, frühe Verletzungen und Erfahrungen, psychische Erkrankung eines Elternteils, den Wahlkampf 2016 zwischen D. Trump und H. Clinton, Alkoholismus, Eheprobleme und diese Vielfalt mindert den Roman eher, aber insgesamt eine gute Lektüre, die mich hinter die Kulissen einer Cape Cod Familie blicken lässt und die Schatten der Familienbiografie aus dem Keller ans Licht bringt.

Bewertung vom 02.05.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


ausgezeichnet

Wo die Asche blüht - ein Roman, der sich mit den Folgen eines Krieges beschäftigt. Alle Kriege hinterlassen Opfer, Verlierer auf allen Seiten, Traumatisierungen und eben auch Kinder aus gemischten Beziehungen zwischen Soldaten und den Frauen des Landes. Der Vietnamkrieg unter Beteiligung von Amerika (1965 - 1973) bildet die Basis für eine sehr persönliche Geschichte der Hauptprotagonisten des Romans. Da ist Dan, der als amerikanischer Kriegsveteran in das heutige Vietnam reist, um sich von seinem Traumata und Schuldgefühlen zu befreien erhofft, der in Saigon seine damalige Liebe schwanger zurückgelassen hat und Phong, der als Kriegskind (Ameriasier) vor einem Waisenhaus ausgesetzt wurde und sich um eine Ausreise nach Amerika bemüht und eben die beiden vietnamesischen Schwestern, die als Barmädchen nach Saigon gehen, um die Eltern finanziell zu unterstützen. Trang (Barname Kim) wird schwanger und von ihrem geliebten Soldaten zurückgelassen. Soweit der Rahmen. Dabei werden die Geschichten der Personen sehr emphatisch und authentisch immer mehr miteinander verknüpft, so dass die Zeitsprünge zu Brücken werden. Die Sprache des Romans ist so fließend fesselnd, dass ich diesen Roman kaum aus der Hand legen mochte. Es werden keine konkreten Kriegsgreuel geschildert und doch werden durch die beschriebenen Einzelschicksale die Härten und lange nachgehenden Folgen sehr präzise und intensiv vermittelt. Ein wichtiges Buch gerade auch im Hinblick auf die aktuellen Kriegsschauplätze.

Bewertung vom 19.04.2024
Mit den Jahren
Steenfatt, Janna

Mit den Jahren


sehr gut

Drei Menschen, drei Lebensentwürfe und dreimal persönliche Veränderungen. Das Buchcover ist ein Gemälde, das einen Mann und zwei Frauen in nachdenklicher Haltung über den eigenen Rand schauen lässt. Und diese drei Personen stellt uns Janna Steenfatt abwechselnd vor. Dabei lässt sie jeder genug Raum, die jeweilige Individualität zu entfalten und beschreibt ihre aktuellen Lebensweisen gleichwertig nebeneinander. Geschickt werden abwechselnd Lukas, ein Maler aus gutbürgerlichem Haus, seine Ehefrau Eva, die Mutter von zwei Kindern und berufstätig und Jette, die ein wenig durchs Leben treibt und sich mit Jobs über Wasser hält, vorgestellt und zunehmend miteinander verbunden. Was macht jetzt die Spannung und den Reiz aus, der im Roman als durchgehender Faden verläuft. Alle drei Personen sind nicht wirklich unglücklich, haben aber eine latente Sehnsucht nach Veränderung. Einmal anders abbiegen und schon ändert sich die Perspektive. Ein Stück Leben im Konjunktiv - was wäre wenn. Einmal die Rollen tauschen und Neues erleben. Im Roman werden die Leben nicht radikal verändert, doch die drei unterschiedlichen Menschen begegnen einander und finden Verbindungen. Das spannendste im Leben sind immer wieder die Begegnungen. Janna Steenfatt hat mit ihrem Buch drei Menschen in der Mitte ihre Lebens sehr empathisch beschrieben und die Sehnsucht nach Veränderung und den Wunsch nach Beibehaltung von Vertrautem in einen lesenswerten Roman gegossen.

Bewertung vom 03.04.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


gut

David James Poissant hat einen Roman über eine amerikanische Familie geschrieben und bei ihrem letzten Treffen im Sommerhaus am See in North Carolina werden zunehmend die verschwiegenen Dramen und Probleme der Familienmitglieder ans Licht geholt. Zu Beginn der Geschichte ertrinkt ein kleiner Junge im See. Ein Sohn der Familie, Michael, versucht vergeblich dieses Kind aus der trüben Tiefe des Sees hochzuholen. Dies ist fast ein Synonym für das Heben und Aufdecken der Geheimnisse eines jeden Teilnehmers. Sechs Personen können sich selbstredend im Roman vorstellen und als Leserin erhalte ich eine Fülle an Problemen und persönlichen Wahrheiten. Die Eltern outen den lang verschwiegenen Kindstod einer Schwester, Thad und Jake, ein homosexuelles Paar mit Beziehungskrise, Michael und Diane erwarten ein Kind, das noch keine Akzeptanz bei Michael hat und die beiden Brüder haben jeweils Suchtprobleme, Michael ist heimlicher Alkoholiker und Thad nimmt Drogen. Beide sind mit ihrem Leben und ihren Verhältnissen nicht im Einklang. Beim Lesen waren es mir eigentlich zu viele angerissene Probleme und Enthüllungen von Lebenslügen, ohne dass dabei eine Geschichte mit schlüssigem Tiefgang entstanden ist. Zum Teil wirkte der Roman fast eher wie ein Drehbuch zu einem Film in Episoden, in den viel hineingepackt wird, um die Folgen spannend zu halten. Vor allem der Schluss erinnert sehr an die kitschigen amerikanischen Filmenden, wo sich alle Familienmitglieder in die Arme nehmen.

Bewertung vom 01.04.2024
Alles gut
Rabess, Cecilia

Alles gut


sehr gut

Die zermatschte Erdbeere auf dem Buchcover ist nicht sofort schlüssig, führt aber später im Roman zu einer allergischen Reaktion. Das Buch beinhaltet zwei große Themen. Zum einen die Liebe und die Bewährungsproben zwischen zwei sehr unterschiedlichen Menschen und daneben das Thema Arbeiten und Karriere in der großen Finanzwelt. Cecilia Rabess gelingt es sehr gut, beide Themen parallel aufzublättern. Da ist Jess, die als einzige Frau und einzige Schwarze im Geldimperium Goldman Sachs versucht, eine berufliche Karriere zu entwickeln und dabei auf männliche und rassistische Ausgrenzungen stößt, selber jedoch auch immer wieder in Identitätskonflikte gerät. Der Einstieg in diese Berufswelt, der Preis der Anpassung und die Schwierigkeit, sich durchzusetzen und ihren Platz zu finden, ist mit viel Insiderwissen gut beschrieben. Und dann trifft sie auch wieder auf Josh, der eher reaktionär und Republikaner ist und so gegensätzlich sie auch scheinen, beide verlieben sich, unterstützen sich, streiten und versöhnen sich, bleiben aber im Austausch. Im Roman erfährt man viel aus der Finanzbranche, dem Streben nach Gewinn. Die Terminologie der Finanzökonomie ist für Branchenfremde eventuell nicht immer verständlich, stört aber den Lesegenuss nicht. Alles gut oder man muss mit allem rechnen - auch mit dem Guten.

Bewertung vom 18.03.2024
Leute von früher
Höller, Kristin

Leute von früher


sehr gut

Kristin Höller nimmt uns mit auf eine Nordseeinsel Strand. Die Burchardiflut trennte Pellworm 1634 von Nordstrand ab. In dieser großen Sturmflut ertranken auf Pellworm allein etwa 1000 Menschen. Mit diesem Wissen erhält der Roman von Kristin Höller einen historischen Background, der sich auch geheimnisvoll in den Roman hineinwebt. Da ist einerseits Marlene, die als Saisonkraft auf die Insel kommt und dort trifft sie Janne, die mit der Insel verwachsen ist. Dass hier auch eine sehr empathisch beschriebene lesbische Beziehung zwischen den beiden Frauen entsteht, bereichert die Geschichte, ohne dabei die Mystik der Inselgeheimnisse zu schmälern. Das Buch durchzieht ein magischer Sog, der sich einer Dramatik nähert und Vergangenheit und Heute in Bezug bringt. Man spürt den 'Blanken Hans', der an den Deichen nagt und Land und Mensch raubt. Kristin Höller beschreibt eine Insel, die sich für die Touristen eine historische Verkleidung verordnet hat. Die Menschen tragen mehr oder weniger historische Kostüme, die Häuser sollen den Anschein von denkmalgeschützten Originalen vermitteln und doch ist alles Fake; den vom Großmarkt gelieferten Marmeladegläsern werden die Etiketten abgelöst und durch handschriftliche ersetzt. Ein ganzes Dorf als Kulisse für die Touristen, denen ein Gestern vorgegaukelt wird, das längst untergegangen ist oder noch in vererbten Erinnerungsbildern weitergegeben wird. Die Kostümgrenze ist so eine Linie, die nicht nur den Übergang zur Verkleidung, sondern symbolisch auch das Gestern und Heute trennt und verbindet. Der Roman hat einen sachlichen Schreibstil, der der unterlegten Mystik gut tut und Geheimnisse, Wahrheiten, Fälschungen und Realitäten gut miteinander in Kontakt bringt.

Bewertung vom 11.03.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


weniger gut

Das Buchcover und die Leseprobe haben mir einen spannenden Roman angedeutet. Eine Frau, Maria, die zwischenzeitlich in der Stadt lebt, wird zurückgerufen auf den Bauernhof ihrer Kindheit. Allein der Kontrast zwischen Stadt- und Landleben, wie Vor- und Nachteile der jeweiligen Lebensentwürfe blieben etwas unscharf. Erinnerungen an ihre Kindheit und die aktuelle Wirklichkeit stehen nebeneinander, berühren sich leider eher belanglos. Auch der Konflikt mit ihrem Bruder, bzw. ihrer Schwägerin erhalten wenig Tiefgang und Reflexion. Die allerdings sehr realistische Schilderung einer Hofschlachtung ist nichts für zarte Seelen, die ihr Fleisch aus der Tiefkühltheke holen. Diese Erinnerungsszenen kenne ich persönlich und weiß, wie traumatisierend für ein Kind die erlebte Tötung und Verarbeitung eines vertrauten Tieres sein kann. Da ist die Entfremdung durch die automatisierte Tötungsindustrie heute für den Mensch, nicht für das Tier, angenehmer. Der Roman schildert ansonsten in leichter Art, manchmal fast idyllisch das Leben der Protagonistin auf dem Land. Stadt, Land und aufgrund der Wechsel zwischen Erinnerung und Heute wenig Lesefluss. Ein Heimatroman, lesbar, aber irgendwie spannungslos, plätschernd wie der Bach zur Mühle.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


gut

Krummes Holz von Julia Linhof beginnt als vielversprechende Geschichte eines jungen Mannes, der nach 5-jähriger Abwesenheit zurückkehrt auf den großen Gutshof seiner Kindheit. Jirka erzählt in Ich-Form seine heutigen Eindrücke und immer wieder kurz dazwischen geschoben spotartig Kindheitserinnerungen. So wie der heutige Hof dem Untergang, Verfall anheim fällt, so düster, freudlos und voller grausamer Härte sind die Bilder der Rückerinnerung. Die Großmutter Agnes, inzwischen dement, der abwesende brutale Vater, die Mutter, die in einer Heilanstalt verstarb und die ältere Schwester - alle sind irgendwie verkapselt und emotionslos. Eine besondere Rolle spielt Leander, der Sohn des ehemaligen Verwalters. Zwischen Jirka und ihm entsteht eine homosexuelle Anziehung und die Autorin beschreibt feinsinnig und sehr zartfühlend diese quere Geschichte. Mit dem Schreibstil konnte ich mich jedoch überhaupt nicht anfreunden. Der Versuch des poetischen Erzählens artet zu oft in eine verdrehte, manierierte Schreibkunst aus, die irgendwie angestrengt wirkt und dabei die Geschichte minimiert. Da hätten mir kurze, nüchterne Beschreibung der Kindheitserfahrungen von Jirka besser gefallen. Beispiel Seite 258: "In ganzen Sätzen zerfurchen sie die Ohrmuscheln und zerfallen dann unter der Hirnrinde in Silben, in Lippenbewegungen ohne Ton,...." Auch wenn gedämpftes Hören so ausgedrückt werden kann, sind sie m.E. keine Bereicherung für diesen Roman. Auch der Hauptprotagonist bleibt bei all den vielen bildhaften Beschreibungen eher unwirklich und vielleicht war es auch die Absicht der Autorin, das Fehlen menschlicher Nähe durch kunstvolles Wortspiel zu verdeutlichen. Persönlich hat mich dieser Schreibstil mit seinen vielen Zeitsprüngen nicht überzeugt.