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Morten
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 81 Bewertungen
Bewertung vom 25.04.2024
Die allerkürzeste Gutenachtgeschichte der Welt
Fitzgerald, Louise

Die allerkürzeste Gutenachtgeschichte der Welt


ausgezeichnet

Viermal am Stück. Siebenmal am ersten Abend. Und seither jedes Mal vor dem Schlafengehen. „Die allerkürzeste Gutenachtgeschichte der Welt“ wurde sofort der neue Renner im Bücherregal. Unter großem Gekicher, mit lautem Aufsagen von Versprechen – und mit seligem Einschlafen am Ende. Okay, der letzte Punkt ist vielleicht etwas übertrieben, aber ihr wisst ja, wie Kinder so sind. Das Buch jedenfalls macht großen Spaß. Auch den Eltern.

Die Geschichte ist schnell erzählt. Eigentlich. Denn sie hat nur zehn Wörter. Bis es dazu kommt, müssen aber erst Kind und Elternteil Versprechen abgerungen („Ja, ich werde danach schlafen.“ // „Ja, ich werde mit meiner besten Lesestimme vorlesen.“), Kuscheltiere an den Start gebracht und natürlich die Stimme geölt werden (mit Applaus).

Triggerwarnung: Bei der Kuscheltiersuche wird auch zwischen den Zehen und in der Nase gesucht – bis zum lautvergnügten „Achtung, Popel!“. In wessen Erziehungsbild das warum auch immer nicht passt: drüber stehen. Denn Louise Fitzgeralds Buch macht furchtbar viel Freude und nicht selten ertappt man sich selbst (oder wenigstens andere Eltern) mit den kleinen Themen, die zwischendurch angesprochen werden, sei es die vielleicht mal lustlose Vorlesestimme oder auch das heimliche Überblättern von ein oder zwei Seiten. Kommt hier natürlich nicht vor. Niemals nicht.

Sehr viel Laune machen auch die schönen Illustrationen von Kate Hindley. Die tierischen Figuren wuseln durchs Schlafzimmer, kommen natürlich überhaupt nicht zur Ruhe, bis auf das selig schlummernde Eichhörnchen, das erst piepswach ist, wenn alle anderen am Ende gar nicht mehr so munter in den Federn liegen und schnarchen.

„Die allerkürzeste Gutenachtgeschichte“ ist direkt ein Favorit im Kinderbuchregal geworden. Oder besser: auf dem Nachttisch, denn bis zum Regal schafft es das Buch bislang noch nicht. Dass am Ende die 10-Wörter-Geschichte ein bisschen, joa, simpel ist, geschenkt. Denn manchmal ist ja der Weg das Ziel und die Erzählung spannender als die Geschichte. Das zeigt auch nach dem zwanzigsten Vorlesen das selige Kichern, das Rufen, Klatschen und Tröten, zu dem aufgerufen wird. Und das macht trotz anstehender Schlafenszeit wirklich alle glücklich.

Bewertung vom 05.03.2024
ruh
Dost, Sehnaz

ruh


gut

Eigentlich spannend: Cemal möchte sich nicht öffnen, zumindest nicht Georg gegenüber, ihm nicht mehr von sich, seiner Familie erzählen. Von den Geschichten, die ihm durch den Kopf schießen, von seinen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern in der Türkei. Geschichten, die wichtig und spannend sind für seine Herkunft und sein Wesen. Und gleichzeitig: Die, die den Verlauf von „ruh“ eher zäh machen. Die, für mich persönlich, viel weniger interessant sind als Cemals Persönlichkeit, sein Leben zwischen Ex-Frau Gül, Tochter Ekin und neuer Liebe Georg. Stellt sich die Frage: Liegt es am Buch oder an mir?

Cemals Leben ist nicht einfach, von Anfang an. Aufgewachsen im arabischsprachigen Teil der Türkei, ohne Vater und Schwester, die in Deutschland geblieben sind. Erst mit acht Jahren kommt er nach, in ein neues Leben, ohne die Großeltern. Irgendwann zieht es ihm vom Land in die große Stadt, er heiratet Gül, wird Vater von Ekin, doch ein zweites Kind wird erst einmal aufgeschoben und dann bleibt es bei der einen Tochter und die Ehe ist auch zu Ende. Als Lehrer wird er rassistisch beleidigt und vom Direktor nicht in Schutz genommen. Und dann droht auch noch seiner sechsjährigen Tochter eine schlechte Note, da diese sich gegen ein fremdenfeindliches Lied im Musikunterricht zur Wehr gesetzt hat.

Die Figuren in Şehnaz Dosts Debütroman schwanken zwischen Aufbegehren und Resignation, wenn es um Alltagsrassismus geht. Und dieser Zwiespalt vom Leben mit Migrationshintergrund in Deutschland ist stark geschrieben. Viel mehr, viel intensiver hätte ich mir diesen so wichtigen Teil von „ruh“ gewünscht. Und auch Cemals Unsicherheit in Bezug auf seine Beziehung mit Georg, ihre gemeinsame Freundschaft mit Anne ist spannend, ja, vielleicht ein Roman für sich, in „ruh“ aber leider eher nur ein Nebenfluss, der irgendwann zu versanden droht.

Dass die Geschichte rund um Cemals Familie nicht so richtig ankommt, ist sicher auch einem Stück mir geschuldet. Ich verliere gerne mal den Faden bei Erzählungen über Generationen hinweg. Das „Wer war noch mal wer“ wird zwar durch den Stammbaum am Ende des Buches abgefedert, aber irgendwie hat mich dieser Teil von Dosts Roman nicht gefesselt. Eine weitere Hürde: Mir fehlt der sprachliche Hintergrund, die vielen türkischen und arabischen Begriffe zu verstehen, die im Buch Teil der Erzählung sind. Sie sind extrem gut eingebunden, man liest alles flüssig, aber stolpert doch, muss googeln, und das macht es doch etwas anstrengender. Hätte es ein Glossar gebraucht, wie häufig bei japanischen oder koreanischen Büchern? Oder doch mehr Verständnis für Begrifflichkeiten, die Teil der deutschen Sprache werden könnten?

Wenn ich beide Teile von Şehnaz Dosts „ruh“ bewerte, dann bekommt Cemals Gegenwart 4 von 5 Sternen, seine Familiengeschichte aber nur 2. Macht 3 von 5. Aber wer Generationengeschichten mag, der wird auch hier mehr Freude haben. Und mit Blick auf das Leben von türkischstämmigen Deutschen und den unerträglichen Rassismus, der ihnen im Alltag entgegenschlägt, ist „ruh“ auch allen anderen eine Empfehlung wert. Und die Hoffnung groß, dass Dosts nächster Roman die Stärken des Debüts bündelt und noch besser wird.

Bewertung vom 05.03.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


sehr gut

Unzuverlässiges Erzählen hat mich schon immer fasziniert. Ob in literarischer Form von Max Frischs Stiller bis zu Gillian Flynns Gone Girl oder in Filmen wie Mulholland Drive, The Sixth Sense und Die üblichen Verdächtigen. Jetzt ist Yellowface keine klassische unzuverlässige Erzählung – die Handlung wird am Ende nicht auf den Kopf gestellt – aber ihrer Hauptfigur mag man dennoch nicht alles glauben. Zu oft verheddert sie sich in Widersprüchen, Ausflüchten und Ausreden, um nicht als die Böse abgestempelt zu werden. Und das funktioniert großartig: Als Leser:in weiß man nicht, ob June nun liebens- oder verachtenswert ist. Oder beides.

Der Plot: June ist dabei, als ihre Freundin, die erfolgreiche Autorin Athena, an einem Pancake erstickt. Noch in derselben Nacht landet das fertige Manuskript ihres neuen Buchs in Junes Tasche. Und da ihr eigenes literarisches Debüt gefloppt ist, überarbeitet sie nun Athenas Werk über chinesische Zwangsarbeiter im ersten Weltkrieg. Ihre Agentur und sich überbietende Verlage sind begeistert, drängen aber darauf, Junes Namen so anzupassen, damit dieser chinesischer klingt. June kostet den Erfolg aus, aber es kommen erste Zweifel auf, ob das Buch überhaupt von einer nicht-chinesischen Schriftstellerin kommen kann.

Yellowface ist einer der Buch-Hypes des noch jungen Lesejahres. Hochdekoriert, unter anderem als Gewinner des Goodreads Choice Awards in der Kategorie Best Fiction – also das beste Buch des Jahres auf der größten Buchplattform im Internet mit fast dreimal so vielen Stimmen wie Platz 2. Eine oft bitterböse Satire auf das Verlagswesen, in der offengelegt wird, dass Verlage sich mit einzelnen „exotischen Stimmen“ schmücken, aber dann doch bitte nicht viel mehr als eine pro Kontinent. In der Filmproduzenten die Geschichte weiß waschen, während die Verleger June Hayward als Juniper Song promoten, um deren vermeintlich asiatische Herkunft zu suggerieren. In der junge Autor:innen sich gegenseitig abfeiern, um so den größtmöglichen Push für ihre Publikationen zu erlangen.

Spannender ist R. F. Kuangs Roman aber als psychologische Studie: Was macht Neid aus Freundschaften? Wie weit würde man selbst für den Erfolg gehen? Und wie schnell lässt man sich um den Finger wickeln, wenn eine Geschichte möglichst glaubhaft erzählt wird? Als Leser:in ist man schnell auf der Seite der Hauptfigur und stutzt, wenn plötzlich Risse ins Bild kommen, dass die Hauptfigur, in diesem Fall June, aufgebaut hat. Trotzdem lässt man sich wieder einlullen, wenn diese nur Zeilen später es mit einem Winken abtut, bis dann doch der nächste Moment folgt, der irgendwie falsch wirkt.

Kuang schafft es, diesen Widerspruch, dieses Glauben und Hadern bis zur letzten Seite, ja, quasi sogar darüber hinaus aufrecht zu erhalten. Ist diese Geschichte wahr? Oder hat June die Leser:innen über das Ende hinweg an der Nase herumgeführt? Ist es am Ende vielleicht nicht mal ihre Geschichte? Eigentlich meisterhaft, dieses Buch. Einziger Wermutstropfen – und der Grund für die 4-Sterne-Bewertung: Die Auflösung des Plots ist zwar schlüssig, aber auch zu dünn, zu 08/15. Ein Buch, das einem über fast 400 Seiten das Hirn wegbläst, braucht auch ein mindblowing Finale. Das ist ein bisschen schade – aber trotzdem ist Yellowface eine absolute Leseempfehlung. Viel Spaß beim Lieben und Hassen der Juniper Song – und der damit eintretenden Glaubenskrise.

Bewertung vom 28.02.2024
Grimmwald: Lasst die Felle fliegen! - Band 2
Shireen, Nadia

Grimmwald: Lasst die Felle fliegen! - Band 2


ausgezeichnet

Zum Beginn ein kleiner Rückblick: Im ersten Band von Grimmwald mussten die beiden Füchse Ted und Nancy aus der vertrauten Stadt fliehen – die fiese Katze Prinzessin Pinöckel war ihnen auf den befellten Fersen. Ihr Ziel war der Grimmwald, doch auch dort waren sie nicht sicher. Erst nach einem elektrisierenden Finale kehrte Ruhe ein. Doch dann … erschien Teil 2 von Nadia Shireens Fuchsgeschichte: „Lasst die Felle fliegen!“

Eigentlich haben sich Ted und Nancy gut eingelebt, baumboinken lustig mit ihren neuen Freund:innen durch den Wald, aber dann, ja dann steht plötzlich Sebastian Silver vor der, naja, Tür. Der Bürgermeister des umliegenden Funkelforsts möchte einen Vergnügungspark bauen und dafür den Grimmwald abholzen. Und das müssen Ted und Nancy natürlich verhindern.

Der zweite Teil der Grimmwald-Reihe punktet vor allem durch absurden Witz. Ein Beispiel? Der kleine Faktenteil auf Seite 5 – die Themen sind der Grimmwald, das lustige Spiel Baumboink und Eulen – endet mit dem Hinweis in Bezug auf Letztere, dass diese „einige Jahrhunderte lang […] ausschließlich in einem kleinen Familienbetrieb in Portugal hergestellt“ wurden. Und allein solche Sätze machen Grimmwald zu einem (sehr) frühen Einstieg in die Humorwelten von Douglas Adams oder Terry Pratchett. Eltern, die das begrüßen, sollten auf jeden Fall zugreifen.

Mein Lieblingssatz allerdings ist die Beschreibung eines geheimnisvollen Fuchses: „Und er hat richtig gut gerochen. Nach alten Büchern und Streuselkuchen.“ Geht’s noch besser? Direkt Wohlfühlatmosphäre geschaffen. Und genau das ist der große Pluspunkt des zweiten Buchs. War das erste noch brachialer, wachsen den Leser:innen hier die Figuren noch mehr ans Herz, es ist heimeliger und natürlich trotzdem weit weg vom Kitsch anderer Kinderbücher. Oder ertrinken da Fliegen in Hirschtränen? Eher nicht, vermutlich.

Manchmal hat Grimmwald ein paar Längen, auf der anderen Seite sind auch die durchaus humorvoll befüllt. Und für gerade einmal 15 Euro bekommt man eine Geschichte mit gut 240 Seiten Lesespaß, witzigen Illustrationen und fantastischen Einschüben. Oh, und ein Rezept für ein Strafmüsli ist auch dabei. Wobei … das ist nur etwas für Fans von Ästen, Kies und Schneckenhäusern. Schwierig, vielleicht. Und eine Zwiebel ist auch noch drin, da würde im Haus natürlich auch sofort geschimpft. Nun gut.

„Lasst die Felle fliegen“ ist in jedem Fall eine würdige Fortsetzung der Grimmwald-Reihe, die aber auch ohne die Vorkenntnisse von Band 1 funktioniert. Könnte Kindern gefallen, die schon „Dachs und Rakete“ mochten, deren Geschichten aber eine Spur zu nett fanden. Am Ende – es ist ein Kinderbuch und daher kein Spoiler – wird natürlich alles gut und der Grimmwald ist bereit für ein drittes Abenteuer. Und so viel sei schon einmal verraten – in England gibt’s das schon. Attack of the Stink Monster heißt es und das wird bestimmt wieder genauso gut. Aber bis dahin wird erstmal eine Runde gebaumboinkt und Streuselkuchen gegessen.

Bewertung vom 27.02.2024
Geniale Power-Pflanzen
Gifford, Clive

Geniale Power-Pflanzen


ausgezeichnet

Dass wir Menschen unsere Inspiration aus der Natur beziehen, ist klar. Spätestens nach der Lektüre des im vergangenen Jahr bei Seemann erschienenen Kinderbuchs „Von Ameise bis Wombat – Tierisch geniale Bautricks für unsere Zukunft“. Mit „Geniale Powerpflanzen – Vorbilder für unsere Zukunft“ liegt jetzt quasi der florale Nachfolger vor. Bloß das Autoren-Illustratoren-Duo hat gewechselt, jetzt nehmen uns Clive Gifford und Gosia Herba zusammen mit Steppenhexe Kali mit auf die Reise in die Pflanzenwelt. Und das macht fast noch mehr Spaß.

Das Buch ist in sechs Überkategorien eingeteilt und zeigt Vorbilder und Inspiration zu Strukturen, Robotik, Energie, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Materialien, die in der faszinierenden Welt der Blumen, Bäume und anderen Pflanzen zu finden sind. Wusstet ihr beispielsweise, dass Pomelos einen eingebauten Stoßdämpfer haben, um Stürze von bis zu 15 Meter hohen Bäumen abzufedern? Dass Forscher:innen in Singapur Roboterarme an ein Fangblatt einer Venusfliegenfalle gebunden haben, damit dieser schneller zugreifen kann? Oder sie versuchen, aus dem Blatt des Madagaskar-Immergrüns ein Leukämie-Mittel für Kinder zu entwickeln?

All diese und noch viele, viele weitere Themen werden in diesem Kinderbuch ab fünf Jahren behandelt. Ob man den Vorgänger nun kennt oder nicht, spielt keine Rolle. Hier wurde lediglich das Quiz am Ende des Buchs vermisst. Der Illustrationsstil von Gosia Herba ist dem von Yeji Yun sehr ähnlich, die beiden Bücher haben also trotz des unterschiedlichen Teams einen klaren Wiedererkennungswert. Und einen hohen Spaßfaktor, schließlich gucken alle Pflanzen total fröhlich aus der Wäsche und auf fast allen Seiten gibt es etwas zu entdecken und zu lachen.

Die Lieblingskapitel im Haus sind die Klette, die das Prinzip des Klettverschlusses wunderbar erklären, der maisterhafte (sic!) Mais, aus dem nicht nur Essen, sondern auch schnell abbaubares Geschirr gewonnen wird, und natürlich der mega-stinkende Titanenwurz. Aber auch die Steppenhexe, bekannt aus Wild-West-Filmen, deren Tumbleweed-Struktur als Inspiration für den nächsten Mars-Rover dienen kann. Und von da, ist es nicht mehr weit bis zum Star Wars-Liebling BB-8. Tierisch gut, ääh, nee, natürlich pflanztastisch, oder?

Bewertung vom 07.02.2024
Klarkommen
Hartmann, Ilona

Klarkommen


ausgezeichnet

Die fetten Jahre? Gibt’s nur in Geschichten. Zumindest für die Ich-Erzählerin. Weder auf dem Land zu Abi-Zeiten noch in der Studi-Großstadt ist das Leben laut, bunt und aufregend. Stattdessen gibt’s nur Apfelschorle in der Kneipe, ruhige WG-Abende, Geburtstagsbrunch statt wilder Reinfeier – und genau zur einzigen richtig-wichtigen Party einen grippalen Infekt. Soll das so? Vermutlich. Denn das ist, mit Freddie Mercury-Stimme gesungen, the real life.

Ilona Hartmann war vor Jahren ja eine der gehypten Twitter-Autorinnen. Leider aber auch ein gutes Beispiel, dass launige Tweets nicht auch launige Bücher bedeuten. Ihr Debütroman „Land in Sicht“ war zu bemüht, zu konstruiert und insgesamt eher langweilig. Die gute Nachricht: All das hat sie in „Klarkommen“ abgestreift.

Ihr neues Buch ist authentisch, gut geschrieben, nicht mit berufsjugendlichen Buzzwords vollgeknallt. Der Ton passt ideal zur Geschichte. Kurze, nur wenige Worte oder Zeilen lange Kapitel, eher Gedankenfetzen, wechseln sich mit Erlebnissen der Protagonistin ab. Mein Handy war nach der letzten Seite voller Fotos von Zitaten. Nicht unbedingt pointiert, aber nachfühlbar und selbst erlebt. Ein Beispiel für einen dieser schönen Sätze: „Jedes Mal, wenn wir freiwillig oder zufällig Nachrichten gelesen hatten, beschlich uns das beklemmende Gefühl, dass wir uns mit dem Aufblühen beeilen mussten.“ Übrigens ist das auch das ganze Kapitel mit der passenden Überschrift „Druck“.

Und genau dieses Nachvollziehbare, dieses Echte ist das Alleinstellungsmerkmal von „Klarkommen“: Der Roman ist kein wilder Road-Trip durch Jugend- und Studijahre, keine Dauerparty, kein Coachella-Insta-Life. Keine Realitätsflucht in andere Leben, die so viel bunter, glamouröser und aufregender sind als das einzige. Stattdessen ein Spiegel des eigenen Großwerdens und dadurch auch ein klares „Dein Leben ist in Ordnung, auch wenn du denkst, du verpasst was, denn anderen geht es genau wie dir.“-Statement. Coming-of-Age ist eben mehr Magerkost als Vollfettware, egal was alle behaupten. Und genau das macht Ilona Hartmanns 2024er Buch zu einem ersten Highlight des noch jungen Lesejahres.

Bewertung vom 30.01.2024
Essex Dogs
Jones, Dan

Essex Dogs


sehr gut

Historische Romane sind ja eigentlich nicht meins. Zu langatmig oder zu kitschig oder im schlimmsten Fall beides. „Essex Dogs“ ist da anders. Rasant, brachial, stellenweise witzig – und nah an der Historie. Das ist der Verdienst des Autors – Dan Jones. Nebenberuf Autor, Hauptberuf Historiker. Hohe Fallhöhe – aber es geht nicht schief. Zum Glück.

Die „Essex Dogs“ sind ein Haufen Söldner, der 1346 mit englischen Heeren nach Frankreich zieht. Eigentlich haben sie sich nur für 40 Tage verpflichtet, danach soll es wieder zurückgehen in die Grafschaft nordöstlich von London, zurück zu Pints und Pubs. Dass dies erst der Auftakt des Hundertjährigen Krieges sein wird, ahnt vermutlich keiner. Auch nicht, dass nicht alle Essex Dogs den französischen Boden verlassen werden.

Dan Jones Roman ist wahrlich kein Buch für Leser:innen von cozy history. Er ist eine klassische Kriegsgeschichte. Dörfer werden erobert und zerstört, Frauen vergewaltigt, Kinder getötet. Nicht explizit, da die Dogs aus Essex sich an letzteren Taten nicht beteiligen, dennoch harte, wenn leider auch wahre Kost.

Jones mixt für seine Geschichte historische Figuren von King Edward III, dessen Sohn und britischen Feldherren sowie ihren französischen Pendants mit den fiktiven Essex Dogs um ihren leicht mysteriösen Anführer Loveday. Letzterer kämpft mit den Schatten seiner Vergangenheit – dem Tod seiner Familie, dem Verlust des früheren Dogs-Chefs Captain – und dem Auf- und Abtauchen einer nebulösen Frau in einer eroberten Stadt, die ihm keine Ruhe lässt. Und natürlich damit, seine Gruppe heil aus England zu bekommen. Ein hoffnungsloses Unterfangen.

Viel Geschichtswissen müssen Leser:innen nicht mitbringen. Es gibt eine Karte, die den Schlachtzug von der Landung in der Normandie hin zur Schlacht von Crécy nachzeichnet. Jedes Kapitel startet mit einem kurzen Auszug aus historischen Dokumenten. Den Rest erzählt Jones, basierend auf historischen Dokumenten, Liedern und Erzählungen und mit einer großen Portion eigener Story. Ob alle historischen Figuren charakterlich korrekt getroffen sind – von den harten Feldherren bis zum weichen, unsicheren Königssohn – sei dahingestellt, aber „Essex Dogs“ ist ja weniger Geschichtsbuch als Abenteuerroman.

Und natürlich dauert die Reise der Dogs länger als 40 Tage im Schlachthaus Frankreich. Sie ist nach der letzten Seite nicht einmal zu Ende. Denn so ein hundertjähriger Krieg dauert länger als ein paar Monate – und am Schluss wartet noch der ein oder andere Cliffhanger. Und damit ändern sich auch für mich zwei Dinge: Vielleicht werde ich doch noch Fan historischer Romane – und vielleicht sogar der von Roman-Reihen. Danke, Dan Jones. Vermutlich.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.01.2024
Endling
Schreiber, Jasmin

Endling


sehr gut

Damals, in den 90ern, gab es einen netten kleinen Indie-Hit der walisischen Band Catatonia mit der Zeile „This could be a case for Mulder and Scully“. Ein Lied, das ich beim Lesen von „Endling“ mehrfach im Ohr hatte, denn irgendwann driftet Jasmin Schreibers neuer Roman unterschwellig in eine Akte X-Folge ab – und vermutlich stört mich das mehr als es sollte. Auf hohem Niveau. Und ohne Mulder. Aus Gründen.

„Endling“ spielt in einer nahen Zukunft, 2041, und dennoch hat die Welt sich verändert. Die Klimakatastrophe hat sich verschlimmert. Und mit den Arten sind auch Demokratie und Frauenrechte gestorben, faschistische Regierungen sind nicht nur in Deutschland an der Macht, ganz Europa scheint den Bach runtergegangen zu sein. Im Gegensatz zu vielen Zukunftsroman und Dystopien liest sich das Szenario in „Endling“ bedauerlicherweise viel zu realistisch und nachvollziehbar, um wirklich leicht verdaulich zu sein.

Und auch persönliche Probleme spielen eine Rolle. So zieht es Zoe, Wissenschaftlerin in München, nach Jahren zurück in ihre Frankfurter Heimat. Sie soll auf ihre Schwester aufpassen, während ihre Mutter einen Alkoholentzug macht – und merkt schnell, dass auch Hannah ihr Leben, ihren Alltag mit Wein und Schnaps betäubt. Nachvollziehbar ist es: Der Vater ist in einer vergangenen Pandemie verstorben, die Mutter häufig berauscht, die Schwester weggezogen und die Tante, die über ihnen im Haus wohnt, hat ihre Wohnung seit Jahren nicht verlassen. Doch ein Aufbruch naht – als eine Freundin der Tante in Südtirol verschollen ist, wagt sich Auguste zusammen mit ihrer Schnecke in die Außenwelt.

Eigentlich ein spannendes Szenario. Eine sterbende Welt, eine Gesellschaft am Abgrund, interessante Figuren und ein Roadtrip quer durch Europa – nach Italien geht es wenig später nach Schweden. Und dank Jasmin Schreibers persönlichen Background als Biologin erfährt man einiges über lebende und bedrohte Arten, ihre Verhaltensweisen und wie der Klimawandel Flora und Fauna bedroht. Genau wie das politische Klima Frauen bedroht und Dörfer entstehen, in denen es keine Männer gibt. Genau zu so einem reisen Zoe, Hannah und Auguste samt Schnecke. Und genau da kippt das Buch in eine Art, die es, für mich persönlich, nicht gebraucht hätte.

Ohne zu viel vorwegzugreifen, hätte mir hier ein realistischer Ansatz, eine wissenschaftlich belegbarere Welt besser gefallen. Die Idee und ihre Visualisierung ist faszinierend, total gut hergeleitet und gleichzeitig offen genug gehalten, um nicht als komplette Science Fiction durchzugehen. Trotzdem sperrte sich da in mir etwas gegen diese Akte X-Aufmachung – und das, obwohl ich zumindest die ersten drei Staffeln ein Riesenfan der Serie war. Vielleicht, weil in Schreibers Zukunft alles so schlüssig, so bedrohlich erschien und das durch diese Sci-Fi-Elemente zu stark gebrochen wird.

Trotzdem: „Endling“ ist ein spannendes, gut geschriebenes Buch, das gleichzeitig eine düster-realistische Zukunft zeigt, aber auch Hoffnung macht. Und Hannahs Idee, den patriarchalischen Faschismus zu beenden, ist gleichzeitig großartig wie amüsant. Nicht ganz so gut wie die Vorgänger „Marianengraben“ und „Der Mauersegler“, aber dennoch ein toller Roman für alle, die den Klimawandel und das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien mit Angst und Sorge betrachten – und auch für die, die das noch nicht tun.

Bewertung vom 04.01.2024
Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?
Raether, Till

Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?


sehr gut

Zum Jahreswechsel machen wir uns ja immer ein bisschen Hoffnung. Neues Jahr, neues Glück. Die bösen Geister des alten Jahres werden weggeböllert. Und so weiter und so fort. Ist vermutlich mehr Gewohnheit als tatsächliche Hoffnung. Haben wir diese überhaupt noch? In Zeiten von Klimawandel, Rechtsruck und Kriegen? Genau dieser Frage geht Till Raether in seinem neuen Essay nach. Persönlich, ein-, aber nicht aufdringlich und durchaus auch humorvoll.

Raether startet seine Hoffnungsreise in seiner Jugend, in den 80ern. Der Kalte Krieg ist noch nicht zu Ende, die Angst vor einem Krieg in Europa, vor einer Atombombe ist präsent. Wer in der Zeit aufgewachsen ist, kennt das Gefühl. Wer später aufgewachsen wer, hatte ähnliche Ängste zu Zeiten von 9/11 und Irakkrieg oder natürlich aktuell mit Klimakrise und Ukraine-Krieg, zu denen Raether einen passenden Bogen spannt.

Aber auch private Hoffnungslosigkeit ist in seinem Essay präsent: Seine eigene Depression, schon ausführlicher in seinem Vorgänger „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ behandelt, die seiner Mutter und ihre letzten Lebensjahre im ungeliebten Hamburg, die Corona-Pandemie. Und Wege daraus. Das Schöne, das Gute, das wirklich Wichtige daran: Raether gibt hier nicht den Life-Coach, er hat kein Patentrezept, kein „So sprühst du morgen zu 100 % wieder voller Hoffnung“-101.

Er erzählt von seinen Erfahrungen, von kleinen persönlichen Schritten, die ihm geholfen haben. Zum Beispiel seinem Japanisch-Kurs. Ist nix für jeden, aber vielleicht ist es in einem anderen Fall ja Zeichnen, Wandern oder das Erlernen von Flechtfrisuren für Langhaarhunde. Schreibe ich, schreibt nicht Raether, so quatschig ist er nicht. Er wirkt eher, so gottlos er aufgewachsen und so fern er der Institution Kirche noch heute ist, eher wie ein gutmütiger Pater in einer Art Religionsunterricht für Erwachsene.

Nicht belehrend, aber Anstöße gebend, Mut machend, dass man zwar vielleicht alleine in einem Boot ist, aber ganz viele Boote um einen rum sind, in denen Menschen mit gleicher Gefühlslage sitzen. Und das funktioniert bei mir persönlich beispielsweise besser als in Daniel Schreibers „Die Zeit der Verluste“, ein Buch über Trauer. Schreiber verliert sich für meinen Geschmack zu sehr in Venedig, so dass die wirklich guten, wichtigen Passagen seines Essays untergehen, so wie vermutlich eines Tages die italienische Hafenstadt.

Der Hamburger Raether bleibt bei seiner Sache, verliert sich und vor allem mich nicht und schafft es, dass ich das Buch in einem Rutsch durchlese, obwohl ich es auch schön häppchenweise hätte machen können – ein bisschen Hoffnung morgens, mittags, abends über vier Tage verteilt. Gutes Rezept eigentlich, nicht mal verschreibungspflichtig.

Und das Fazit? Lässt sich am besten so zusammenfassen: Es ist nicht schlimm, keine Hoffnung zu haben. Solange man noch Lust hat, wieder welche zu bekommen.

Bewertung vom 11.12.2023
Wilde Minze
LaCour, Nina

Wilde Minze


sehr gut

Dieser Roman ist wie Minze. Man kann ihn riechen, in fast jeder Sequenz. Im grünen, dichten Wald. Im edlen Restaurant und im Blumenladen. In staubigen Häusern, die gerade renoviert werden. Fast schade, dass es kein richtiges Duftbuch ist. Dafür ein starker Roman zwischen Coming-of-Age und Gegenwartsliteratur für late 20s und early 30s. Oder alle, die diese Art von Literatur mögen. Mit einem kleinen Wermutstropfen.

„Wilde Minze“ begleitet zwei Frauen auf ihrem Weg. Sara flüchtet aus ihrer White Trash-Heimat, nachdem ihre Freundin tot aus dem Fluss gezogen wird. Sie trampt mit einem Jungen nach Los Angeles und versucht Fuß zu fassen. Emilie wechselt ihre Studienfächer immer kurz vor dem Abschluss und jobbt als Blumenbinderin in einem der angesagtesten Restaurants der Gegend, dem Yerba Buena – dem spanischen Namen der titelgebenden wilden Minze. Sie begegnen sich kurz, verlieren sich dann aber aus den Augen. Emilies Romanze mit dem verheirateten Restaurantchef spielt hier eine Rolle. Aber auch, dass Sara plötzlich ihren Bruder aufnehmen muss – und dann zu einem Trip in ihre Heimatstadt gezwungen wird.

Nina Lacour schreibt wunderschön, ihr gelingt, wie schon in „Alles okay“ eine wundervolle Atmosphäre aufzubauen. Ihre Figuren werden liebevoll gezeichnet, die Stimmung der Familien perfekt dargestellt. Und auch in die Settings – Saras Elternhaus, Emilies kleine Wohnung, das Yerba Buena – kann sich mit Leichtigkeit eingefühlt werden. Der Roman liest sich extrem leicht, ein echter Pageturner. Aber – es gibt ein kleines Aber. Im NDR Bücher-Podcast Eat Read Sleep poppt manchmal ein kleiner Kommentar auf, der mich bislang immer kalt gelassen hat, hier aber latent auf meiner Schulter saß und mir ins Ohr flüsterte: „Glaubst du das?“

Und komischerweise gibt es vieles, das total realistisch ist, das extrem nachvollziehbar und echt ist. Bloß Emilies sehr schnelle Berufung in der zweiten Buchhälfte, ihr beruflicher Erfolg, der doch ein eher zentrales Element gegen Ende ist – der ist, obwohl er schlüssig hergeleitet wird, etwas too much. Das hat mich mehr gestört als es sollte, dass so auf ein hübsches Ende zugesteuert wird. Natürlich Jammern auf hohem Niveau und bloß der Grund, warum es am Ende nicht für ein 5-Sterne-Buch reicht, sondern nur für ein sehr gutes mit 4 Sternen. Ein schönes Buch zum Jahresabschluss – oder für den literarischen Start ins neue Jahr.