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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 23.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


gut

Interessant, aber auch herausfordernd dicht und ziemlich verwirrend

Ich mochte „Identitti“ richtig gerne und habe Einiges an Polarisierungspotential auch in Mithu Sanyals neuem Roman gefunden. Das Buch ist wirklich komplex, oft verwirrend und trotzdem witzig, weshalb ich in meinem Urteil sehr ambivalent bin. 🥴

Wirklich sicher bin ich mir darin, dass dies ein Roman für wiederholtes Lesen ist. Sanyal hat hier offensichtlich ein Recherche-Mammutprojekt bewältigt, so dicht ist das Werk. Beim ersten Lesen konnte ich unmöglich auch nur annähernd alles erfassen, was hier an Auseinandersetzung mit Identität und Kolonialisierung drin steckt. Ich habe zwar Einiges über den indischen Befreiungskampf gelernt und fand die Debatte rund um bewaffneten/unbewaffneten Widerstand sowie das Auftreten so vieler realer Figuren mit ihren diversen Positionen bereichernd. Doch hat mich die Fülle auch wirklich überfordert und ich hatte irgendwann Schwierigkeiten, der Handlung noch folgen zu können.

Die Zeitreise und Verblendung der beiden Figuren Sanjeev und Durga hat die Geschichte zwar innovativ, aber für mich auch deutlich schwerer lesbar gemacht. Ich habe mir deshalb Unterstützung vom Hörbuch geholt (Kompliment an der Stelle an die Hörbuchsprecherin! ❤️), welches die Figuren durch Stimmvarianz für mich deutlicher unterscheidbar gemacht hat. Parallel gelesen habe ich aber trotzdem, denn die vielen indischen Namen haben das Verständnis erschwert - und hier liegt gleichzeitig auch eine so deutliche Gesellschafts-/Literaturkritik: Warum kennen wir in der westlichen Literaturwelt so wenige Figuren mit indischen Namen?

Ich finde es herausragend, wie die Autorin es erneut schafft, gesellschaftspolitische Themen nicht nur innerhalb des Buches abzuhandeln, sondern damit einen Bogen zu schlagen zur lesenden Person selbst. Sicherlich kann „Antichristie“ nicht gelesen werden, ohne sich mindestens 35 Fragen zur eigenen Positionierung zu stellen. Dabei verfällt die Autorin nicht in vereinfachende Dogmen, was ich sehr schätze und auf positive Art herausfordernd finde.

Thematisch ist zwar nicht zwangsläufig Vorwissen vonnöten, ich habe aber schon gemerkt, dass auf Dauer zu viele mir unbekannte popkulturelle oder historische Referenzen drin waren. Selbst wenn diese zum Verständnis nicht wichtig sind, sorgt so etwas bei mir immer für Irritationsmomente und somit für einen gestörten Lesefluss. So spannend ich die Debatten rund um Intersektionalität, Aufarbeitung, Identität und historische Verantwortung in der Gegenwartsebene auch fand, so war mir das in der Gänze doch schlicht zu viel. Und den Krimi-Aspekt mit prominentem Gastauftritt fand ich zwar irgendwie fesselnd, aber mit allem anderen zusammen auch wieder… zu viel.

Für mehr als 3 Sterne waren es mir persönlich also einfach zu chaotisch, sodass manche Themen im Zeitreisen-Trubel untergegangen sind. Trotzdem empfehle ich das Buch allen, die Sanyals Humor mögen und sich nicht vor dichten, philosophischen Werken scheuen, welche mit Aufmerksamkeit und ggf. mehrfach gelesen werden sollten.

Bewertung vom 19.10.2024
Ein menschlicher Fehler
Kim Hye-jin

Ein menschlicher Fehler


ausgezeichnet

Ein ruhiger, sanfter und vergebungsvoller Roman

Ich war erst unschlüssig, ob ich den Roman lesen sollte, weil mich „Die Tochter“ nicht so ganz catchen konnte. Aber ich bin richtig froh, dass ich meinem Bauchgefühl hier gefolgt bin und dieses besondere und zarte Buch nicht habe an mir vorbeiziehen lassen.

Hae-Su war einst eine erfolgreiche Psychotherapeutin, verlor aber ihren Job nach einer unbedachten und folgenschweren Aussage im Fernsehen. Seit einem Jahr verbringt sie ihre Zeit allein in Seoul, ohne Kontakte zu anderen Menschen. Eines Tages trifft sie auf die zehnjährige Se-I, die ebenfalls eine Verstoßene zu sein scheint. Doch für mich viel prägender war der Kontakt zu Straßenkatze Rübe, die dringend medizinische Hilfe braucht, sich aber nicht einfangen lassen will. Es entsteht ein Band zwischen diesen drei Figuren, das mich wirklich berührt hat.

Eine große Stärke des Romans ist seine Interpretationsvielfalt. Die Autorin schreibt auch selbst im Nachwort, dass „Ein menschlicher Fehler“ hoffentlich individuell verschieden gelesen wird - je nachdem, was im Innersten der Lesenden gerade los ist. Kim Hye-jin schreibt beobachtend, wertfrei und ruhig. Der Schreibstil ist zugänglich, hat aber auch einen gewissen Anspruch. Vor allem erfordert das Lesen meiner Meinung nach Raum zum Fühlen, um die feinen Nuancen wahrnehmen zu können.

Die Protagonistin Hae-Su kämpft ihren eigenen Kampf in Bezug auf Verantwortung, Schuld und Abwehr. Deshalb schreibt sie täglich Briefe an Journalist*innen, den ehemaligen Chef, eine Kollegin oder eine enge Vertraute, von denen sie sich nach dem Fehler ungerecht behandelt fühlte. Doch sie kann nicht ausdrücken, was sie eigentlich sagen möchte und bricht alle Briefe ab. Denn was sie eigentlich sucht, ist eine Vergebung für ihren Fehler, die aus ihr selbst kommt. Dabei hilft ihr auch die fragile Beziehung zu Rübe, in dessen Schicksal als wenig beachtete bzw. verachtete Straßenkatze sie sich zu sehen scheint.

Für mich war dieser Roman ein Plädoyer für Menschlichkeit, Respekt und Sanftheit. Die Autorin webt die drei so verschiedenen Figuren auf eine unaufgeregte, liebevolle Art ineinander. Ein wirklich tolles Buch, dessen Essenz ich irgendwie nicht so ganz zufriedenstellend in Worte fassen kann. Lest es am besten selbst und nehmt euch daraus mit, was ihr gerade am meisten braucht. 🫶🏻

4,5 ⭐️

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Triggerwarnungen:
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Mobbing, Suiz-d, Wunden bei Tieren

Bewertung vom 15.10.2024
Glück
Thomae, Jackie

Glück


gut

Interessantes Thema, aber zähe und charakterlich schwache Umsetzung

Ich finde Bücher rund um das Thema Mutterschaft bzw. die gesellschaftlichen Erwartungen einer solchen immer sehr interessant. Der Roman nimmt hier vor allem Frauen Ende 30/Anfang 40 in den Fokus und damit eine Gruppe, die zudem einen biologischen Druck verspürt.

Entgegen dem Klappentext geht es nicht nur um Marie-Claire und Anahita, sondern auch noch um einige weitere Frauen, die wiederum auf irgendeine Art mit den beiden ersten verbunden sind. Und hier befindet sich für mich bei aller Relevanz des Themas die größte Schwäche des Romans: in der Vielzahl an Charakteren, die teilweise nur ein Kapitel lang Aufmerksamkeit bekommen und so schlicht viel zu viel angeschnitten wird, ohne dass ich die Chance hatte, eine Verbindung zu den Figuren aufzubauen. Phasenweise hatte ich sogar Schwierigkeiten, sie voneinander zu unterscheiden. Und sobald ich mit einer Frau mitgefühlt habe, wurde ich durch Zeitsprünge und/oder Perspektivenwechsel schon wieder völlig entfremdet.

Ich bin hier schnell zum Hörbuch gewechselt, weil mir das reine Lesen viel zu zäh gewesen wäre. Die Kapitel, die stets aus verschiedenen Perspektive erzählt werden, sind einfach zu lang und ich hatte gleichzeitig nicht das Gefühl, die Figur danach wirklich besser zu kennen. Dabei sind sie alle grundlegend wirklich spannend und in ihren Lebensrealitäten divers, wenngleich Mutterschaft bzw. das Fehlen dieser das zentrale Thema bleibt. Der Epilog war für mich das beste Kapitel, weil es sich endlich wie eine Entwicklung mit konkreter Message anfühlte, während ich bei der Handlung davor zunehmend den Eindruck hatte, dass nichts wirklich vorangeht und sich die Figuren extrem langatmig um die immer gleichen Gedanken kreisen.

Für mich persönlich war die Kinderfrage mit Ende 20 geklärt, vielleicht bin ich deshalb auch nicht die optimale Zielgruppe des Romans. Trotzdem hätte ich mir zugänglichere Figuren gewünscht und vor allem auch weniger isolierte Charaktere. Das hat mich nämlich ganz schön runtergezogen, obwohl im Alleinsein sicher auch viel Positives stecken kann, das mir hier aber schlicht nicht vermittelt wurde.

Das Thema finde ich wichtig und die Hörbuchsprecherin hat wirklich enorm viel aus dem Buch herausgeholt, aber die allgemeine Umsetzung des Romans konnte mich nicht erreichen und ich war am Ende froh, dass es geschafft war.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 14.10.2024
Dirty Diana: Das Erwachen (MP3-Download)
Besser, Jen; Feste, Shana

Dirty Diana: Das Erwachen (MP3-Download)


sehr gut

Keine großen Überraschungen, dafür spicy wie versprochen

Zum Hörbuch: Nora Schulte hat eine sehr angenehme Stimme mit guter Varianz für die einzelnen Charaktere. Standardgeschwindigkeit ist mir immer viel zu langsam, weshalb ich auf doppelter Geschwindigkeit gehört habe. Besonders gut fand ich die Kapitelübergänge und Zeit-/Ortseinordnungen, die immer sehr klar transportiert wurden.

Zum Buch selbst: Ich habe von diesem Roman genau das bekommen, was ich erwartet habe. Die Geschichte lässt sich unglaublich flüssig lesen, ist kurzweilig und vor allem sehr spicy. 🔥

Diana fand ich besonders in Bezug auf ihre Kunst eine spannende Figur. Die vielen Ausschnitte aus den Interviews mit anderen Frauen waren wirklich toll. So schafft es das Buch meiner Meinung nach gut, Begehren als unabhängig von 6ualität und Alter darzustellen, wodurch sich sicher viele Lesende gut aufgehoben fühlen können.

Dass mit Oliver eine sympathische, nette Männerfigur mit eigenen Unsicherheiten geschaffen wurde, lobe ich auch. Zwischendrin gab es für mich ein paar Momente, wo er aus seinem Charakter gefallen ist. Diese Ambivalenz, die ich prinzipiell gut finde, hätte noch ein wenig eleganter geschrieben werden können. Gestört hat mich zudem eine bestimmte Frauenfigur, die sich nach anfänglicher Sympathie dann leider doch in ein recht plattes Klischee des „weiblichen Konkurrenzverhaltens“ verwandelte. Das hätte es für mich in einem modernen Roman nicht gebraucht.

Spice ist ein zentrales Thema des Buches und wer das mag, wird hier nicht enttäuscht. Für meinen Geschmack hätte es noch vielfältiger sein können, was die dargestellten 6ualitäten angeht und auch abgesehen davon fand ich die entsprechenden Szenen am Ende ein wenig repetitiv. Doch insgesamt fand ich den Roman extrem kurzweilig und ansprechend. Der Cliffhanger am Ende ist unfassbar gemein, aber natürlich klug gesetzt. Ich bin deshalb sehr gespannt, wie die Serie weitergeht und empfehle sie für ein unterhaltsames Lesevergnügen ohne große Überraschungen, aber trotzdem mit Spannung.

Bewertung vom 13.10.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


gut

Langatmige Handlung, die Erzählstränge nicht auserzählt und charakterlich oberflächlich bleibt

Leider konnte mich der Roman trotz seines sehr interessanten Settings und einem Aufbau über mehrere Zeitebenen, was ich prinzipiell sehr gern mag, nicht überzeugen. Das hat für mich sprachliche, handlungstechnische und charakterliche Gründe.

Sprachlich fand ich das Buch eher anspruchsvoll. Die Autorin wechselt den Sprachstil passend zur Zeitebene, sodass mensch in den Kapiteln um 1907-1909 mit einer altertümlichen, steifen Sprache konfrontiert ist. Literarisch halte ich das für sehr geschickt, dadurch aber auch wenig zugänglich. Wer eine anspruchsvolle, atmosphärische Sprache mag, wird hier mehr Freude haben als ich.

Die Heilstätten Beelitz waren mir vor der Lektüre völlig unbekannt und damit ein spannendes Setting. Und obwohl die Handlung zu Beginn auch vor allem dort spielt und ein paar Informationen zur Modernität und zum Behandlungsansatz des Ortes vermittelt werden, verliert sich der Roman im Weiteren zu sehr. Die Heilstätten spielen am Ende eine eher untergeordnete Rolle, was meine Erwartungen enttäuscht hat.

Und auch sonst werden mir viel zu viele Handlungsstränge eröffnet und große Schlüsselmomente angedeutet, denen der Roman am Ende nicht gerecht wird. Phasenweise wird ausschweifend und für mich langatmig erzählt, um eine Spannung zu erzeugen. Das hat manchmal sogar auch funktioniert und ich habe angespannt weitergelesen. Viel zu oft verlor sich die Handlung dann aber einfach und meine Spannung verpuffte. Das Okkultistische war für mich rückblickend viel mehr eine extrem ausgeprägte Religiosität, Anna stellte zunehmend eine Art gottgesandte Heilsbringerin dar, was der vorherigen Charakterzeichnung widersprach. Die vielen gottbezogenen Aussagen waren mir auch schlicht zu viel. Ich kann zwar auch mit Okkultismus nichts anfangen, würde dazu aber unter kritischen Gesichtspunkten trotzdem etwas lesen. Doch auch dieses erwartete Hauptthema verlor sich zunehmend im Buch.

Schließlich habe ich bis zum Schluss keine Beziehung zu den Figuren aufbauen können. Anna und Johanna sowie die Beziehung zwischen den beiden bleiben mir ein Rätsel. Besonders am Ende werden die Charaktere noch einmal ordentlich durcheinandergeworfen, sodass ich gar nicht mehr wusste, wer jetzt eigentlich wie wirklich war. Vanessa hatte als Urenkelin Johannas viel Potenzial, bleibt aber enorm oberflächlich und scheint einzig den Zweck zu erfüllen, Informationen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. Da hätte es sicher elegantere Wege gegeben. Auch weitere Nebenfiguren bekommen kurzzeitig viel Raum, um dann im Nichts zu verschwinden.

Ich kann abschließend keine Leseempfehlung aussprechen. Der Roman ist literarisch herausfordernd, für manche Menschen vielleicht auch deshalb sehr ansprechend. Er kommt mit etlichen historischen, literarischen und philosophischen Referenzen daher, die ich oft nicht zuordnen konnte und deshalb zusätzlich wenig Freude hatte. Mit mehr Vorwissen in diesen Bereichen macht das Lesen vielleicht auch noch einmal mehr Spaß. Meine Kritik der vielen offenen Fragen und nicht greifbaren Figuren bleibt dann aber trotzdem noch stehen.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 11.10.2024
Die Ungelebten
Rosales, Caroline

Die Ungelebten


gut

Hartes Buch mit verwirrendem, unbefriedigendem Ende

Das neue Buch von Caroline Rosales lässt mich für meine Rezension ebenso vor einer Herausforderung stehen wie der Vorgänger. Obwohl ich den Lesefluss wieder sehr gut fand, waren die Figuren auch hier vor allem unausstehlich und boten nicht viel Identifikationspotenzial für mich. Das finde ich nicht zwangsläufig negativ, nur herausfordernd. Den Ausflug in die Schlagerwelt fand ich sehr interessant ebenso wie den #MeToo-Aufhänger, der mich enorm wütend gemacht hat. Dass der Aufhänger dann später gar nicht mehr so wirklich eine Rolle gespielt hat, fand ich ziemlich schade.

Jennifer ist als Tochter der Schlagergröße Bernd Boyard und als Geschäftsführerin seines Musiklabels in einem interessanten Spannungsfeld, das mich durchaus gereizt hat. Ergänzt um den Aspekt, dass er nach der Trennung ihrer Eltern ihr einziger Bezugspunkt war, schlägt sie sich zunächst auf seine Seite, als er mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert wird. Ihr Wanken, ihre Erinnerungen und ihr Infrage-Stellen fand ich extrem aufreibend, aber nachvollziehbar. Bernd und auch Jennifers Mann Max sind neben fast allen anderen Figuren richtige Ekel (und das ist noch moderat ausgedrückt). Ich habe sie leidenschaftlich gehasst, was nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss.

Für mich fehlte es aber an weiteren ambivalenten Figuren. Andere Frauen finden in dem Buch kaum statt und wenn doch, bleiben sie meiner Meinung nach eher flach. Auch eine weitere präsente Männerfigur, die sich nicht wie ein manipulatives A****loch aufführt, hätte dem Buch gut getan. Oder solidarische Frauen. Die gibt es zwar, aber sie bleiben so sehr am Rand, dass ich sie kaum wahrgenommen habe. Auch gestört hat mich, dass zwischendrin die Erzählperspektive auf eine für mich sehr unklare Weise plötzlich wechselt.

Mir geht es nicht darum, dass es hier ein Happy End mit Befreiungsschlag hätte geben müssen. Ich bin fein mit Büchern, die einfach bedrückend sind, weil die Realität nun einmal ein strukturell misogynes System ist, dessen Wirkweisen wir alle internalisiert haben. Das führt natürlich auch regelmäßig zu Täterschutz und dies literarisch abzubilden, finde ich völlig okay. Die Wut darüber kann uns ja auch antreiben. Doch besonders im letzten Drittel wurde es mir einfach zu abgedreht. Was mit Jennifer komplett unwidersprochen gemacht wird, halte ich für nicht realistisch und deshalb hat mich der Roman dann leider sehr verloren. Ich hatte den Eindruck, dass hier noch schnell so viele sexistische Ungerechtigkeitsaspekte wie möglich abgehandelt werden sollten, wodurch es mir leider zu repetitiv und oberflächlich blieb.

Wie ich es bei einigen anderen verstanden habe, sollte abgebildet werden, dass viele Frauen eben in ihren schrecklichen Verhältnissen verharren, oft für ihre Kinder. Und das kann ich nachvollziehen, finde aber nicht, dass das Buch diese Realität gut transportieren konnte. Denn in Jennifers Fall kommen da noch so viele recht spezifische Lebensumstände dazu, hinter denen die grundlegende Aussage, die ja sicher ein enorm hohes Identifikationspotenzial bietet, meines Erachtens verschwindet. Und das ist deshalb so schade, weil ich mich dann auch nicht durch meine empfundene Wut angetrieben fühle, etwas zu verändern, da ich viel zu verwirrt zurückbleibe.

Ich vergebe trotz meiner Frustration ob des letzten Drittels 3 Sterne, weil die grundlegenden Themen rund um strukturelle Misogynie, rape culture und die fehlende Gleichberechtigung vor allem bei Müttern wichtig sind. Außerdem schaffte es Caroline Rosales über weite Strecken, mich trotz oder wegen der absolut schrecklichen Charaktere zu fesseln. Ich finde es ziemlich schwer zu sagen, für wen ich das Buch empfehlen würde. Definitiv ist es gesellschaftskritisch, wenn ich auch den Umgang mit sehr wohlhabenden Menschen viel zu unkritisch fand. Und auf jeden Fall ist es auch ernüchternd, dystopisch und macht wütend. Vielleicht kann es Personen mehr ansprechen, die sich in Bezug auf Abhängigkeiten (besonders im Feld Mutterschaft) gesehen fühlen wollen.

P.S.: Für das Buch hätte ich mir dringend (!) Triggerwarnungen gewünscht.
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Triggerwarnungen:
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Vergewaltigung, Misogynie, Tod, psychische Erkrankung, zwanghafte Medikamentengabe, Schilderungen eines Kaiserschnitts

Bewertung vom 06.10.2024
9 Grad
Kolb, Elli

9 Grad


ausgezeichnet

Eine Umarmung von Buch mit toller Tiefe

Was für ein großartiger, warmer und tiefgründiger Debütroman! Er hat mich schon vom Klappentext her angesprochen und obwohl oder gerade weil es um so viel mehr geht als um Eisbaden, habe ich ihn unglaublich gern gelesen.

Ein Kernelement des Romans ist die Freund*innenschaft zwischen Josie, Rena und Anton, welche für sich stehend schon absolut wholesome ist. Die drei akzeptieren sich in ihren Unterschieden, sind einander absolut loyal und sprechen einfach über Konflikte. Und auch die Figuren selbst, später ergänzt um Lee, sind divers, authentisch und enorm vielschichtig.

Die übergeordneten Gegensätze im Buch sind subtil und bemerkenswert. Während Anton eher unkompliziert im Moment verweilen will und sich als eine eher reservierte Person entpuppt, hat Rena Freude an aufregenden Dingen und führt ihre Freund*innen daher auch an das Eisbaden heran. Die geschilderten Bewusstseinszustände sind für sich genommen schon eindrücklich, doch es geht noch um viel mehr - vor allem für Josie. Die struggelt nämlich mit ihrem Körper und hat gleichzeitig oft das Gefühl, Dinge für andere Menschen tun zu müssen, was sie weiter von ihren eigenen Körperempfindungen entfernt. Besonders Josie hat mich an einem schmerzlichen Punkt getroffen, weshalb ich emotional sehr involviert war. Toll fand ich hierbei auch, dass Elli Kolb den Körper ihrer Protagonistin nicht sonderlich detailliert beschreibt und damit eine Projektionsfläche für viele Menschen bietet. 💚

Rena ereilt im Laufe des Romans ein Schicksal, das die Figur noch einmal von einer ganz anderen Seite darstellt. Das Ende kam mir einen Ticken zu plötzlich, da hätte ich gern noch 30-50 Seiten mehr gelesen. Doch ingesamt habe ich nur Positives zu diesem Roman zu sagen! Es werden so einige Themen behandelt, die gesellschaftlich besonders auch junge Menschen beschäftigen. Ob nun eine allgemeine Kritik am Leistungsdruck oder der überall durchscheinende Sexismus - das Buch schafft es, weder oberflächlich noch erdrückend schwer zu sein. Ein besonderes Lob möchte ich für die authentische Darstellung von Depressionen aussprechen, auch wenn mir da Triggerwarnungen phasenweise lieb gewesen wären.

Ein Buch für alle, die vielleicht auch um ein Zurückfinden in die eigene Körperlichkeit kämpfen und weg wollen vom ständigen externen Blick. Ganz toll, eine Leseempfehlung von Herzen! 🫶🏻

Bewertung vom 01.10.2024
Das Comeback
Berman, Ella

Das Comeback


sehr gut

Erschütternd, anspruchsvoll und so wichtig

Ein #MeToo-Buch, das sprachlich leicht zu lesen und inhaltlich schwer zu verdauen ist.

Grace ist ein mittlerweile erwachsener Kinderstar in Hollywood. Kurz vor einer Preisverleihung verschwindet sie und kommt bei ihren Eltern unter. Nach einem Jahr geht sie zurück nach L.A. und konfrontiert sich mit ihrer Vergangenheit.

Die Protagonistin ist nicht unbedingt sympathisch, trifft schlechte Entscheidungen, schlägt Hilfe aus und ist abweisend oder sogar manipulativ ihrem Umfeld gegenüber. Das fordert uns als Leser*innen natürlich heraus und genau das soll es auch: Empfinden wir Mitgefühl mit allen Überlebenden von Missbrauch oder unterscheiden wir in Abhängigkeit davon, wie „gut“ das Opfer ist?

Ich fand genau das zwar manchmal auch anstrengend, weil ich Grace emotional nicht so oft greifen konnte. Aber grundsätzlich liebe ich diese Wahl der Autorin, denn unser Mitgefühl darf sich vom Charakter des Opfers nicht beeinflussen lassen. Sprachlich ist das Buch zugänglich gehalten, ich fand jedoch auch, dass es im ersten Drittel ein paar Längen hatte. Vielleicht war das aber auch den Rückblenden und dem allgemeinen Kennenlernen der komplexen Hauptfigur geschuldet. Ab der Hälfte zieht das Tempo des Buches merklich an.

Das Thema des Romans hat nichts an Wichtigkeit verloren und ist keine leichte Kost. Obwohl die Missbrauchsszenen eher sporadisch erzählt werden, war meine Stimmung vor allem gedrückt. Die Autorin begann mit dem Schreiben vor der Aufdeckung des strukturellen Missbrauchs in Hollywood. Sie entschied sich, die Handlung des kompletten Romans im Davor zu belassen. Deshalb sieht sich Grace nicht nur mit ihrem Trauma, sondern auch mit einem fehlenden gesellschaftlichen Rückhalt konfrontiert. Das ist mehr als bitter, doch trotz aller Schwere hat das Buch seine starken Elemente, weshalb ich ihm viele Lesenden wünsche!

Lest dieses Buch, wenn ihr euch für komplexe Figuren, die Machtdynamiken an Filmsets und ganz allgemein für die Mechanismen hinter einem Karriereaufbau interessiert.

Und für immer und konsequent: Glaubt Überlebenden! 🤍

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Triggerwarnungen:
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emotionaler und 6ueller Missbrauch, Machtmissbrauch, Drogenmissbrauch, versuchter Suizid, Mobbing, Unfall

Bewertung vom 24.09.2024
Verlassene Nester
Hempel, Patricia

Verlassene Nester


weniger gut

Eine distanzierte Geschichte mit unausgeschöpftem Potenzial

Ich war als im Osten geborenes Nachwendekind mit bislang wenigen Erzählungen aus meiner Familie neugierig auf das Setting des Romans. Doch mein Wunsch nach einem tieferen Einblick in die Gefühle der Menschen in den Jahre nach der Wende konnte leider nicht erfüllt werden.

Was der Autorin gut gelungen ist, ist eine greifbare Darstellung der trostlosen, in gewisser Hinsicht hoffnungslosen Atmosphäre. Ich habe vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben realisiert, dass die Wende viel zu wenig eine Kompromisssuche zwischen den beiden Staaten war und dass es eine solche hätte sein müssen, um wirklich ein geeintes Land herauszubekommen. Durch die Lektüre habe ich Lust bekommen, das Gespräch mit ehemaligen DDR-Bürger*innen zu suchen und das ist eindeutig ein Pluspunkt.

Doch es gibt für mich an dem Roman leider zu viel, das mir nicht gefallen hat, weshalb ich ihn nicht so gut bewerten kann. Das trostlose Setting zermürbt nach einer Weile doch recht stark und damit hätte ich vielleicht sogar leben können, wenn ich wenigstens eine emotionale Bindung zu den Figuren hätte aufbauen können. Doch die metaphorische Schreibweise kam mir bis auf wenige Abschnitte ziemlich distanziert vor und es waren für mich auch schlicht zu viele Figuren. Deshalb konnte ich keine so wirklich greifen, die Lektüre blieb eher oberflächlich und zog sich.

Manche Passagen gefielen mir zwar gut, doch insgesamt lässt mich das Buch eher unzufrieden zurück und wird nicht lange in mir nachhallen. Dafür wurden mir auch zu viele Handlungsstränge offen bzw. fallen gelassen und ich hatte den Eindruck, dass sich die Autorin bei all den angesprochenen Themen ein wenig verzettelt hat. Und dabei waren sie doch so wichtig, etwa die Vermittlung des stärker werdenden Rassismus innerhalb der Gesellschaft oder die ersten (queeren) Beziehungen in der Jugend. Für das Verständnis der Zwischentöne war zum Teil recht viel Vorwissen vonnöten, was das Lesen zusätzlich erschwert hat. Zudem fand ich, dass die auf dem Klappentext angekündigte Geschichte rund um das Verschwinden von Pillys Mutter einen Hauptfokus vermittelt, dem nicht entsprochen wird.

Dementsprechend kann ich hier im Vergleich zu anderen Büchern nicht aufrunden und auch keine Leseempfehlung aussprechen.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 24.09.2024
Okaye Tage
Mustard, Jenny

Okaye Tage


ausgezeichnet

Ein Wohlfühlroman über eine ganz besondere Verbindung

Ich habe „Okaye Tage“ als eine realistische Beziehungsgeschichte unheimlich gern gelesen und bis zum Schluss mit den beiden Figuren mitgefiebert. 🥺

Sam und Luc kennen sich eigentlich schon von früher, begegnen sich aber zwei Jahre später erst so richtig wieder. Da Sam in Stockholm lebt und arbeitet, ist die Beziehung in London auf wenige Wochen befristet. Die beiden sind ziemlich verschieden, passen aber trotzdem oder gerade deshalb richtig gut zueinander. Das hindert weder Luc noch Sam jedoch daran, sich fortlaufend Gedanken über die gemeinsame sowie eigene Zukunft zu machen.

Was hier für mich ganz besonders hervorstach, ist die Liebenswürdigkeit der beiden Protagonist*innen. Jenny Mustard hat es tatsächlich geschafft, nicht nur eine sympathische Frauenfigur, sondern auch eine überaus sensible und nahbare männliche Hauptfigur zu schaffen. Luc widerspricht vielen Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit, ohne sich dabei ständig selbst auf die Schulter zu klopfen. Er weint, hinterfragt, ist sensibel und aufmerksam - ich mochte ihn wirklich richtig gerne. 🫶🏻

Auch Sam ist mit ihrer direkten, wohlmeinenden Art authentisch und liebenswert. Deshalb habe ich mich das ganze Buch über in den Perspektiven der beiden einfach nur wohl gefühlt. Der Countdown sorgt für ein unbedingtes Weiterlesen-Wollen und ich kann so viel verraten: Es wird nicht bei einem bleiben. 😉

Hervorheben möchte ich die genderinklusive Schreibweise, die mir beim Eichborn-Verlag nun schon mehrfach positiv aufgefallen ist. Außerdem werden einige gesellschaftspolitische Themen behandelt, von denen ich mich sehr gesehen gefühlt habe. Und ganz besonders warm wurde mein Herz, weil im Buch nicht ständig Tiere gegessen und benutzt werden - eher ganz im Gegenteil. 🥹

Der Roman fühlt sich an wie eine Umarmung, weil er ohne überbordendes Drama auskommt, ohne dabei langweilig zu sein. Ich hätte auch noch 100 weitere Seiten von Sam und Luc lesen können. Meiner Meinung nach perfekt für den Herbst, auch wenn die Geschichte vor allem im Sommer spielt.