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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 26.05.2024
Unter Frauen

Unter Frauen


ausgezeichnet

Maria Christina Piwowarski bezeichnet diese Sammlung in ihrem Vorwort als „eine feministische Doppelhelix der literarischen Entdeckungsfreude“ Man kann es nicht besser zusammenfassen! Mit jedem der 13 Beiträge schreibender Frauen ÜBER die schreibenden Frauen IHRES Lebens sehe ich diese Doppelhelix prachtvoll leuchtend vor mir aufsteigen. Sie wächst und wächst und ich dreh mich in sie hinein und bin am Ende ein Teil davon.

Risiken und Nebenwirkungen, aber wer liest schon die Packungsbeilage: Die Wunschliste! Ich verspreche Euch, es wird nicht ohne Zuwachs ausgehen und Ihr werdet gern noch mehr und noch existenzieller lesen wollen.

Wo findet Gabriele von Arnim Trost, Schönheit und Freude an den Widersprüchen des Lebens? Hätte ich mit Elizabeth Strout gerechnet? Wer hat Simone Buchholz in den „geheimen Club der dysfunktionalen, anstößigen, dabei aber extrem lustigen Frauen“ aufgenommen? Dorothy Parker! Die Frau „mit den dicksten Eiern von New York City“. Auf ganz unterschiedliche Weise verehren Autorinnen wie diese, Mareike Fallwickl, Ulrike Draesner, Jacinta Nandi uvm. ihre Heldinnen der Literatur. Mal als persönlicher Essay, mal als lyrischer gebrochener Text, mal als Dankes- oder Liebesbrief oder als weibliches Manifest. Die Perspektiven und Formen sind so unterschiedlich wie die Autorinnen selbst. Sie sind provokant, dominant, feminin, schwarz, trans, sanft, weich, kämpferisch, radikal. Manchmal kenne und bewohne ich einen Teil der Helix, manchmal nicht. Manchmal will ich eintauchen, nachspüren, „denkschreiben“ (Ulrike Draesner, S.36), manchmal nicht.

Immer leben Frauen in diesen Texten und die Frauen hinter den Frauen. Immer blüht die Vielfalt auf und die Dankbarkeit für den Weg, auf dem sie gehen, dem sie einen Stein hinzufügen dürfen. Und plötzlich ist da eine Stimme, die könnte auch meine sein. Ich bin Teil des Clubs und dieses weiblichen Erkenntniswegs.

Ich habe eine Lieblingsgeschichte, die ein Licht in meine Seele geworfen hat. Es ist die letzte des Bandes, die von Kathrin Weßling über „Ein Leben in Abwesenheit“ und ihre Verbindung zu Marlen Haushofers „Die Wand“.
„Seit zehn Jahren nehme ich etwas zum Schlafen, seit fünfzehn Jahren lese ich die WAND wieder und wieder. Ich lese sie, wenn ich Angst habe, wenn ich traurig bin, ich lese sie, wenn alles zu viel ist und nur das Wenige noch hilft.“ S.176

Bewertung vom 17.05.2024
Martha und die Ihren
Hartmann, Lukas

Martha und die Ihren


ausgezeichnet

„Er würde aufsteigen, es zu etwas bringen, Vorgesetzter wollte er sein, anständig wohnen, in zwei Zimmern, mit Balkon und einer richtigen Küche. Um das zu erreichen, brauchte es aber die allergrößte Anstrengung, er durfte nicht nachlassen, keine Schwäche zeigen, keine Fehler machen.“ S.100

In keinem Buch, das ich in letzter Zeit gelesen habe, habe ich so viele Gedanken und Glaubenssätze wiedergefunden, die sich über Generationen auch tief in meine Familie eingegraben haben. Mit Martha beginnt in einem Dorf in der Schweiz Anfang des 20. Jh. eine Familiengeschichte, die ihren Lauf über drei Generationen vom Land in die Stadt und von bitterster Armut zu bescheidenem Wohlstand nimmt.

Martha muss, nach dem frühen Tod ihres Vaters und weil die Mutter allein für die sechs Kinder nicht mehr aufkommen kann als „Verdingkind“ (aus dem schweizerischen Sprachgebrauch – kommt von „verdingen“ und galt noch bis in die 1960er Jahre als eine gebräuchliche Art der Unterbringung und -Erziehung von Kindern) auf einem fremden Bauernhof schon früh für ihr Überleben schuften und sich ihre Portion Essen am Ende der Familientafel hart erkämpfen. Zeichen der Zuwendung werden ihr nur selten zuteil und so lernt sie früh, dass einzig Fleiß und Pflichterfüllung einen nach vorn bringen, dass es besser ist nicht aus dem Rahmen zu fallen, auch nicht mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz, und dass Kontrolle Überleben sichert.

Was sie nicht lernt: Körperkontakt und Nähe zu spüren, Gefühle und Lebensfreude auszudrücken, ja sie überhaupt zu erkennen und zuzulassen.

Sie wächst heran, heiratet, bekommt zwei Jungs und nicht nur in ihrem Leben, auch im Leben ihrer Söhne scheinen sich die Dinge immerfort zu wiederholen. Jeder lebt mit seinen Ängsten und ohne eine angemessene Sprache dafür zu finden. Der wachsende Wohlstand in der Stadt schafft neue Probleme – Isolation, Entfremdung, Existenzängste. Das Patriarchat und damit verbundene Glaubenssätze bleiben.

Der Schweizer 1944 geborene Autor Lukas Hartman erzählt hier von seiner Großmutter aus seine Familiengeschichte und erklärt im Nachwort, wie schwer es ihm gefallen sei, den nötigen Abstand zu schaffen. Man spürt, wie nah dem Erzähler die ProtagonistInnen sind, wie wichtig es ihm ist, die Motive, Entwicklungsschritte und komplexen Zusammenhänge fühlbar zu machen.

Er erzählt ohne Wertung, ohne Anklage, sondern als Versuch einer Erklärung, wie schwer es ist, sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen.

Die Geschichte entwickelt auf ihrer Fahrt durch drei Generationen bis auf eine kleine Flaute im Zentrum einen großen Sog. Sie ist linear und sprachlich einfach und fließend erzählt. Das Schwergewicht liegt für mich in dem WAS erzählt wird und das ist eine auf hohem Niveau gute, tiefgründige, psychologisch ausgeleuchtete und nachdenklich stimmende Geschichte.

Besonderes berührt hat mich, wieviel Einfühlungsvermögen Lukas Hartmann für die Frauen seiner Familie zeigt. Denn auch in den härtesten Zeiten sind es die Frauen, die die Dinge zusammengehalten haben, die wahren Stützen der Familien, diejenigen, die im Verborgenen für den Unterhalt der Familie sorgen mussten, wenn die Männer krank und/oder verbraucht waren. Es sind die Frauen, die den Weg ebnen. Unbewusst zunächst und später immer kämpferischer und aktiver, ihre Gleichberechtigung einfordernd.

Ein sehr beeindruckender Roman und eine Empfehlung für alle, die sich gern in Familiengeschichten vertiefen und sich literarisch mit Themen wie Herkunft, Identität, transgenerationale Traumata auseinandersetzen.

Bewertung vom 17.05.2024
Accabadora
Murgia, Michela

Accabadora


ausgezeichnet

„Es gibt Orte, an denen die Wahrheit gleichbedeutend ist mit der Meinung der Mehrheit und auf der geheimnisvollen Landkarte dieses Konsensprinzips war Soreni eine kleine moralische Hauptstadt.“ S.68

Ich war noch niemals auf Sardinien. Doch während ich diesen Roman lese, spüre ich den Boden der süditalienischen Insel unter mir. Ich tauche in das archaische Leben des kleinen Dorfes Soreni ein, in dem die Straßen nicht auf dem Reißbrett, sondern als schlingernde Verbindung zwischen Häusern entstanden sind. Ich werde Teil der Gemeinschaft, in der man zusammenkommt, um Traditionen zu pflegen, Geschichten zu erzählen, Gerüchte zu schüren und nach uraltem Brauch sardische Süßigkeiten herzustellen.

Eine der Traditionen, die hier schon seit langem gepflegt wird, ist die der fill’e anima (Kind des Herzens), einer inoffiziellen unbürokratischen Adoption, bei der im Einverständnis aller beteiligten Familien kinderlose Paare einer armen, kinderreichen Familie ein Kind „abnehmen“. Im besten Fall bleiben alle in engem Kontakt und einander zugeneigt.

Maria ist ein Kind, dass durch eine solche Adoption im Alter von 6 Jahren von Tzia Bonaria aufgenommen wird. Die schweigsame zurückgezogen lebende „Alte“ hat im großen Krieg ihren Mann verloren und ist kinderlos geblieben. Maria hat etwas in ihr geweckt, das sie bewogen hat, sie in ihre strenge, aber liebevolle Obhut zu nehmen und sie der Armut der Großfamilie, in der sie als jüngstes Kind kaum mehr als eine zusätzliche Belastung war, zu entreißen.

Wenn auch ohne Verständnis der Dorfgemeinschaft für die Entscheidung, in ihrem Alter, das irgendwo zwischen 50 und 60 liegen mag, noch ein Kind aufzunehmen, wächst Maria im Hause der Bonaria behütet und ohne Entbehrungen. Sie entwickelt sich zu einer aufgeweckten und interessierten jungen Frau. Als sie durch ein dramatisches Unglück auf ein dunkles Geheimnis ihrer Ziehmutter stößt, werden ihr Vertrauen und ihre Zuneigung bis in die Grundfeste erschüttert.

Es ist eine Geschichte wie ein Märchen, in dessen abgeschottete, traditionelle, von Aberglauben und Ritualen geprägte Welt etwas Neues einbricht. Sie erzählt von der Kraft der Gemeinschaft, aus der sich eine besondere Mutter-Tochter-Beziehung erhebt.

Michela Murgias Schreibstil ist fesselnd, von poetischer Kraft, fließend, lakonisch. Weiblich. Die Kraft geht von den Frauen aus, sie tragen die Traditionen weiter und verbinden sie in der Gegenwart mit der Zukunft.

Die Geschichte hat mich geweckt, gefesselt, fasziniert und erneut bewiesen, dass es literarisch soooo viel zu entdecken gibt. Nach den DREI SCHALEN ist das mein zweites, aber zum Glück nicht mein letztes Buch der 2023 leider viel zu früh verstorbenen Autorin.

Bewertung vom 07.05.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


sehr gut

So. Meine erste Fallwickl liegt neben meiner Tastatur. Gelesen, mit Notes beklebt, mit Ausrufezeichen, Fragezeichen, Notizen beschrieben, durchdacht, durchdiskutiert. Durch. Ich bin weniger wütend als gedacht, weniger literarisch begeistert leider auch, aber mehr als erwartet berührt, zerrüttet, erleuchtet, nachdenklich, austauschsüchtig. Und ich möchte eigentlich nicht mehr SO STILL sein. Doch worum geht’s?

Mareike Fallwickl führt als Erzählerin drei ProtagonistInnen ein – Elin, Nuri und Ruth. Elin lebt mit ihrer Mutter in deren Wellnesshotel und ist Influencerin. Ihr Selbst hat sich unter den fremden Blicken und Urteilen aufgelöst. Lebendig fühlt sie sich nur in den wenigen Minuten, die sie morgens im Schwimmbecken verbringt und wenn sie wahllosen Sex mit Männern hat. Nuri ist ein junger Mann mit Migrationshintergrund aus prekären Verhältnissen, der die Schule abgebrochen hat und mit vier verschiedenen Zeit- und Schwarzarbeitsjobs versucht über die Runden zu kommen. Immer hungrig, immer müde, immer schmutzig. Unwürdig. Ruth arbeitet in der Krankenpflege, ist Mitte 50 und hat vor 13 Jahren ihren schwerstbehinderten Sohn verloren, für den sie 18 Jahre lang alles geopfert hat. Seit seinem Tod hat sie jegliche eigenen Bedürfnisse in ihre Arbeit in unserem überlasteten gewinnoptimierten Gesundheitswesen geopfert.

Die Drei treffen bei einer Protestaktion aufeinander. Sie beginnt mit einer Gruppe von Frauen, die vor dem Krankenhaus der Stadt einfach stumm auf dem Boden liegen und weitet sich zu einem kollektiven weiblichen Burnout auf die gesamte Stadt und vielleicht noch weiter aus.

Bis hierhin hat mich die Geschichte, die ohne Rührseligkeit, aber mit offener Anteilnahme bildgewaltig und einfühlsam erzählt ist, komplett gefangen genommen. Die Perspektivwechsel, die auch die einer Gebärmutter und einer Pistole einschließen, haben ein gutes Timing und wirken im ersten Moment sogar humorvoll.

Im Zuge der Protesthandlungen ging ich dann irgendwie verloren. Auch wenn the Gender-Care-Gap im Mittelpunkt steht, kommt nahezu jedes gesellschaftlich diskutierte Thema unserer Zeit auf’s Tapez: Feminismus, Mysogynie, Rassismus, Ausbeutung, Ableismus, Pflegenotstand, Patriarchat, Klassismus, Onlinesucht, Hatespeech und und und. Das ging für meinen Geschmack zu Lasten der literarischen Qualität. Ich hatte einen Roman begonnen und bekam nun immer häufiger ein Manifest zu lesen. Dialoge und Handlung gerieten zu Trägerinnen von Botschaften, die ich mir eigentlich gern subtiler vermitteln lasse.

Und dann fing ich an zu denken: vielleicht bin ich ja auch einer falschen Idee aufgesessen. Vielleicht ist das der Switch. Vielleicht hat Mareike Fallwickl so viele Themen und Botschaften hineingepackt, damit wir den Überblick verlieren. Damit wir den Roman und die Unterhaltung vergessen. Und uns mitten im Desaster unserer Zeit wiederfinden. Es ist einfach zu viel. Zu viele Themen, zu viele Notstände, zu viele Informationen, zu denen wir uns eine Meinung bilden sollen. Und wir reden und reden und nichts passiert. UND DOCH: hier wird eben nicht mehr geredet, sondern GETAN. Und alle so still.

Ich denke an eine Szene, da findet ein Dialog vor dem Hintergrund einer Frauengruppe, die schweigend, die Gesichter zum Himmel gereckt, dasteht. Wie ein Mahnmal. Ich leuchte das Bild aus, lege Scheinwerfer von oben drauf, die die Gesichter gleißend hell machen und die Körper zu einer dunklen Masse verschmelzen lassen. Theatralisch. Vielleicht ist es die Absicht, sichtbar zu machen, was passieren könnte, wenn wir zusammenhalten würden, dass eine Kraft entstehen könnte, von der wir keine Vorstellung haben.

Vielleicht erzählt Mareike Fallwickl (auch) das. Träumt davon. Ein streitbares Buch, das mich mehr inhaltlich als literarisch anspricht. Macht Euch unbedingt selbst ein Bild!

Bewertung vom 25.04.2024
Die Schönheit der Rosalind Bone
McCarthy, Alex

Die Schönheit der Rosalind Bone


ausgezeichnet

Catrin, die 16jährige Tochter von Mary Bone, scheint die einzige in Cwmcysgod, dem kleinen walisischen Dorf zu sein, die sich für das Schicksal der vor Jahren verschwundenen Rosalind Bone interessiert. Was ist damals passiert und warum versteckt ihre Mutter Mary die einzige Fotografie ihrer Schwester Rosalind in der Küchenschublade?

Cwmcysgod wird beschrieben wie ein lebendiger Organismus, eine verschworene Gemeinschaft, deren DNA durch Klatsch und Tratsch, sorgsam gehütete Geheimnisse, Vorurteile und Leugnung dessen was nicht sein darf, gebildet wird.

„Wenn Hinter-Vorhängen-Hervorlugen eine olympische Disziplin wäre, würde dieses Dorf Gold holen. Aber sie waren ein ganz passabler Haufen. Auf ihre distanzlose Art und Weise“

Hier lebt Susan Bone mit ihrer Familie. Ein Kind, das so schön ist, polarisiert und weckt Widerstände. Die einen lassen ihm ihr Herz zufliegen, in den anderen weckt die Schönheit Neid, Missgunst und dunkle Begehrlichkeiten. Wenn dann der Vater - der Einzige, der seine schützende Hand über es hält - bei einem Grubenunglück stirbt, ist es vogelfrei. Jahre später begibt sich Susans Nichte Catrin auf Spurensuche.

Alex McCarthy fängt ganz harm- und schnörkellos an, die illustre Dorfgemeinschaft wird uns vorgestellt, wir schauen hinter Vorhänge, Fassaden und in die kleinen und großen Abgründe dahinter, während sich der Spannungsbogen langsam aufbaut. Bis es zu einem dramatischen Wendepunkt kommt, an dem die Handlung einen verstörenden nimmt.

Die Schönheit der Rosalind Bone ist der Auslöser. Als sie geht, sagt das Dorf, es sei kein Verlust und Schönheit sei eben doch nur etwas Oberflächliches. Nicht für Rosalind. Die Schönheit hat vielleicht ihr Leben zerstört.

Eine Erzählung über die fatale Kraft der Gemeinschaft und die Stärke einer Frau, die sich aus ihr erhebt.

Mit ihrem Sinn für feine Überzeichnungen, einem Gespür für Dramaturgie und das richtige Timing hat mich Alex McCarthys sprachlich dichtes knapp 160 Seiten-starkes Debüt total überrascht und voll überzeugt.
Große Empfehlung!

Bewertung vom 21.04.2024
Vor allem Frauen
Palmen, Connie

Vor allem Frauen


sehr gut

Als ich vor Jahren nach einem Burnout verletzt und orientierungslos am Boden lag, war es u.a. Connie Palmen, die mir zurück ins Leben half. Wie für Sylvia Plath, der sie den größten Raum in ihrer Essaysammlung einräumt, galt es auch für mich, der „Vernichtung des folgsamen, passiven Mitläufers in einem selbst, des schweigenden Kollaborateurs, der sich bereitwillig den Vorschriften einer verhassten Rolle fügt“ ins Auge zu sehen.

Silvia Plath stieg im Juni 1953 auf das Dach des Barbizon Hotel in New York und warf ihre „Kleider, die sie während ihres wochenlangen Praktikums beim Frauenmagazin Mademoiselle getragen hatte,“ in alle Winde (S. 150). Sie steht in Palmens erstem Essay für die WAHRHAFTIGKEIT, zu der das Abstreifen von allem Heuchlerischen, Unaufrichtigen gehört. Connie Palmen hat keinen Sinn für halbe Sachen und für Rührseligkeiten, sie plädiert für Polarisation und dafür, die Widersprüche zwischen den Polen auszuhalten. Sie nicht zu bekämpfen, sondern anzuerkennen.

„Und wenn man die Fiktion, die herrliche, raffinierte Verquickung von echt und unecht nicht erträgt, erträgt man das Leben nicht.“ S.152

Sylvia Plath hat sie nicht ertragen. ICH hatte die Romane von Connie Palmen, um mir ihrer bewusst zu werden. Sie hat mich AUTONOMIE gelehrt und dass das wichtigste Wort im Leben NEIN ist. Viele NEINs für ein JA zu der, die man sein will. Sie hat mich gelehrt, dass alles einen Preis hat, dass Autonomie den Gegenspieler zu Intimität bildet und sie es trotzdem wert ist.

„Ich wollte allein und zusammen sein.“ (S.13)

In diesen persönlichen Essays über Schriftstellerinnen und einen Schriftsteller offenbart sie Eigenschaften, „die in deren Werk besonders hervorstechen und die zusammen die Errungenschaften der Schriftstellerin formen, die sie am liebsten wäre.“ (Motiv)

Neben den genannten sind das u.a. die UNNAHBARKEIT der Joan Didion, die ERBARMUNGSLOSIGKEIT der Janet Malcolm und das REBELLISCHE des Philip Roth. Ihn als einzigen Mann hier auftreten zu lassen, halte ich für einen Geniestreich. Denn mit ihm trägt sie ihre Unabhängigkeit und ihre Standfestigkeit auf dem Präsentierteller in die Arena. Sie hält ihn für einen „anstandslosen, lüsternen, sexsüchtigen, zwanghaft masturbierenden, rachsüchtigen, des Frauenhasses bezichtigten, ehebrecherischen, durch und durch amerikanischen Schriftsteller“ (S. 116) und LIEBT ihn trotzdem, weil „er einer der intimsten, aufrichtigsten, unerbittlichsten und geistreichsten Schriftsteller ist, den sie kennt.“

Es lebe das Aushalten der Widersprüche!

Ich ende mit Connie Palmens „Motto“ und Philip Roth Worten:
„Ein Leben in konstanter Uneinigkeit ist die beste Vorbereitung auf den Tod, die er kennt. In seinem Unvermögen sich anzupassen, findet er seine Wahrheit.“ (S.113)

Bewertung vom 21.04.2024
Vom Krähenjungen
Kettenring, Sonja

Vom Krähenjungen


sehr gut

„Es war einmal …“ So beginnt das „poetisch-düstere Erwachsenenmärchen“ in einer unbestimmten Zeit im fiktiven bayerischen Dorf Moosbruck. Es liegt am Rande eines dunklen toten Waldes, der so dicht ist, dass der Schnee nicht bis auf den Boden dringt. In dem etwas Schreckliches passiert ist. Die Dorfbewohner schweigen, bekreuzigen und bemühen sich abergläubisch, nicht mit dem Vergangenen in Berührung zu kommen.

Viele Protagonist:innen betreten die Bühne und lassen ihren Blick über das Dorf schweifen. Es wird unübersichtlich. Weiß man doch nicht, wer eine Bedeutung für die Geschichte haben wird und wie sie zueinander in Verbindung stehen. Doch bald und immer schärfer richtet sich der Fokus auf Karolina, ihre kleine Tochter Emmi und auf IHN, den KRÄHENJUNGEN, der inzwischen ein Mann ist. Sie sind ANDERS. Vor allem Sam, der Krähenjunge mit den dunklen Augen bringt mit seiner Rückkehr auch düstere Vorahnungen ins Dorf. Ist nicht alles, was bisher an Unheil geschah seine oder die Schuld seiner Familie? Er ist der Einzige, der in dem See, der niemals zufriert, schwimmen geht. Es heißt, der See gebe niemanden, der mit ihm in Berührung kommt, wieder her. Und Karolina? Sie schwimmt auch – und ertrinkt - in seinen dunklen Augen.

„Geh nicht hin, sagen sie, aber hier bist du und du wirst wiederkommen, du weißt es. Der See hat seine Fäden um dich gesponnen, du bist ihm ins Netz gegangen.“ S.14

Und dann geschieht ein Verbrechen. Zwei Polizisten kommen ins Dorf. Beginnen zu ermitteln und sich zu verstricken. Wo ist die Grenze zwischen Gut und Böse? Gibt es sie überhaupt?

„Du tauchst wieder auf, denkst, dass man sie vielleicht doch abstreifen kann, die Dinge. Sich häuten. Aber das Messer, nie ist es scharf genug und alles was bleibt, sind Narben.“ S.46

Sonja Kettenring hat hier einen poetisch und reduziert erzählten Text geschaffen, der Heimatroman, Liebesgeschichte, Krimi und Schauermärchen, in einem ist.
Er erinnert mich an einen dieser dunklen, leisen „Tatort“e, in denen es mehr um das Zeigen archaischer Naturgewalten, zerrütteter Familien und konservativer ländlicher Rückständigkeit geht, als um den Fall.

Es bleibt unkonkret und entwickelt trotzdem einen Sog, dem ich mich irgendwann nicht mehr entziehen kann. Und doch bleib ich wachsam, um nichts zu verpassen. Und am Ende beschleicht mich das Gefühl, nichts geschnallt zu haben. Oder alles. Da bin ich echt unsicher.

Ich finde, es ist ein spannendes Debüt. Sonja Kettenring wird als Informatikerin, die heute als Postbotin arbeitet und „viel lieber Geschichten als Programme“ schreibt, vorgestellt. Was mich sehr neugierig gemacht hat. Es ist eine besondere Geschichte aus einem besonderen Verlag, der seit Februar 2022 am Start ist. „Mit Büchern, die mit den Mitteln des Erzählens politische Prozesse und gesellschaftliche Veränderungen begleiten. Vornehmlich von Frauen, die etwas zu sagen, besser: zu erzählen haben.“ – Verlags-Homepage

Bewertung vom 18.04.2024
In jedem Sturm ist ein Lied
Weißbach, Julie

In jedem Sturm ist ein Lied


ausgezeichnet

„Jede Herausforderung ist eine Erinnerung an das Versprechen, den Frieden in mir zu suchen und den Anker neu auszurichten.“ S.94

Kaum wage ich es, dieses kleine Kunstwerk durch Worte zu zerreden, ihm irgendetwas hinzuzufügen, das seinen Zauber zerstören könnte, den Bildern ihre Sprache zu rauben.

Ist es ein Zufall, dass IN JEDEM STURM IST EIN LIED in meinen Beiträgen bereits als Bild neben Gabriele von Arnim steht? Ja und nein. Denn nachdem Gabriele von Arnim meine Sinne für die Schönheit und die Zuversicht auf intellektueller Ebene geöffnet und auch um Erlaubnis gekämpft hat, sie in dieser schwierigen Zeit fühlen zu dürfen, malt Julie Weißbach diesen Raum nun mit Bildern, Illustrationen, Gedanken, Erinnerungen und Lyrik bunt aus.

In ihrem Gedankenbilderbuch führt sie uns an IHREM roten Faden durch ihr Erwachsen. Filtert die Essenz aus den Jahren heraus. Wie werden wir, was wir sind, welche Erinnerungen und Begegnungen bleiben?

Es scheint, als würde sie ein Tor schaffen, durch das ihre innere Welt mit der äußeren in Verbindung tritt. Sie lässt sich auf Menschen ein, hört ihnen zu, lässt sie zu Wort kommen und betrachtet sie mit einem mitfühlenden und wohlwollenden Blick. Schaut was sie bei ihr zurückgelassen haben.

Sieht das Gute. In Bildern. Blumen im langen Haar. Sanft geschlossene Augen. Träumen.

Verbindet. Pustet Ängste weg.

Feiert die Balance zwischen Leichtigkeit und Melancholie.

„Da war auch die Melancholie, die es mir ermöglichte, tief in die Gefühle einzutauchen wie in ein dunkles Schwimmbecken. Dort unten konnte ich meine Seele in ihrer ganzen Kraft spüren, wenn sie sich an den Begrenzungen meiner Existenz rieb.“ S.12

Doch wir bleiben oben und werden immer wieder leicht. Mit sanften Worten und zarten Bildern wandern wir durch eine Welt, in der es weniger gibt. Weniger Lärm, Kampf, Müssen. Die größer wird durch Sein, Ruhen, Fließen, Tanzen.

Mich berührt Julie Weißbachs 100%ige Authentizität. Sei es ihr Account @julieweissbach, ihre Homepage, ihre zarte und zugleich kraftvolle Stimme als Singer-Songwriterin, ihre Gedanken in ihrem philosophischen Podcast mit Synje Norland "wahrhaftig_und_vehement" . Sie ist die Frau, die sie zeigt.

„Facing myself.“ Ganz.

Ein schönes Geschenk, das man sich selbst oder jemandem, dem gerade etwas Leichtigkeit gut tun könnte, unbedingt machen sollte.

Bewertung vom 09.04.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


ausgezeichnet

Ein falsches Wort kann die sorgsam gehütete Oberfläche eines familiären Zusammenseins zum Bersten bringen und Misstrauen, Missverständnis und lang gewahrte Geheimnisse dringen durch die dünne Schicht aus Friedensabkommen und Ritualen nach oben.

Die Ich-Erzählerin Bergljot lebt in einer solchen Familie. Oder besser gesagt hat sich schon vor Jahrzehnten aus ihr zurückgezogen. Was damals passierte muss einer Detonation gleichgekommen sein und hat sie in eine schwere Krise gestürzt. Auch ihr Bruder Bård hält die Familie auf Distanz. Die zwei jüngeren Schwestern Astrid und Åsa scheinen unverletzt und den Eltern die Treue zu halten. Ein Erbstreit, den die Eltern mit der ungleichen Verteilung ihrer Ferienhäuser auslösen, durchschlägt die Oberfläche und verschiebt die Machtverhältnisse. Bård schließt ein Bündnis mit Bergljot. Die möchte eigentlich nur ihren mühsam erarbeiteten inneren Frieden wahren und drängt nach vielen Jahren der Kränkungen und des Unverstandenseins doch danach, der Familiengeschichte IHRE Deutung einzuschreiben.

Ohnmächtig schauen wir Bergljots verzweifelten inneren Kämpfen zu. Unsere Perspektive ist ihre Perspektive. Donnernd rollen ihre Wut, ihre Trauer, ihr Schmerz und ihre schweren Träume durch uns hindurch. Der Text ist von einer schweren Eindringlichkeit, Gedanken in langen Sätzen wiederholend. Vigdis Hjorth lässt wortwörtlich Bomben hochgehen, Kriegshandlungen vollziehen, Feuer niedergehen. Erst wenn sich das Unbehagen tief in unsere Eingeweide gegraben hat, lässt sie uns Luft holen. Eine Seite. Ein Satz. Pause.

In einem existenziellen Sinn schreibt sie sich schonungslos bis auf die Knochen in die psychologische Struktur einer Familie hinein. Tief werde ich in die schmerzvolle Geschichte hineingezogen. Doch auch wenn der Stoff schwer ist, bleibe ich angesichts der sprachlichen Schönheit, Klarheit und eines präzisen Timings euphorisch.

In dieser Familie scheint es wie auf den großen Schlachtfeldern der Welt zuzugehen. Verhandeln lässt sich an der Oberfläche. Frieden, Befreiung und Identität liegen jedoch darunter und sind nur durch Verstehen wollen, Empathie und Anerkennung des anderen zu erreichen. Doch lässt sich das nicht erzwingen. Oder doch?

Dieses Buch sorgte bereits 2016 für Vigdis Hjorths internationalen Durchbruch und in Norwegen für einen Skandal, da die autobiografischen Züge ihre Familie auf den Plan rief und ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ veranlasste. Diese Authentizität macht die Geschichte für mich noch etwas eindringlicher. Aber auch nachdenklicher und dankbarer, dass es nicht meine ist.

Große Empfehlung!

Bewertung vom 07.04.2024
Komm tanzen!
Seldeneck, Lucia Jay von

Komm tanzen!


sehr gut

„Das Beste bei einer Party ohne Ende ist, dass man Zeit hat. Endlos Zeit. Man kann sich auf einen Steg legen und sich in den Sternen verlieren, wieder zurückfinden und sich einen Drink holen. Und noch einen Drink.“ S.74

Ich bin in Berlin (wo ich schonmal sehr gern bin) am Wannsee (auch schön), es ist ein lauer Frühlingsabend, vor mir liegt eine Wiese, der Duft von Flieder hängt in der Luft, auf der Wiese lädt eine lange Tafel in der sinkenden Abendsonne zu Essen und Trinken ein, Musik läuft, zu deren Takt sich meine Freund:innen in entspannte Stimmung wiegen, während sie plaudern, lachen, trinken, mitsingen. Hey, ich fühl mich wohl. Gleich auf den ersten Seiten bin ich zu Hause, tauche ein in diese Atmosphäre.

Sich überlassen, sich verbinden, den Alltag vergessen, den Verheißungen einer durchfeierten Nacht ausliefern. Die Zeit anhalten, die immer so schnell rast, die wir verprassen, mit der wir so großzügig umgehen, als hätten wir Ewigkeiten davon.

Aber können wir das heute noch? Müssen wir uns nicht gerade in solchen Nächten gewahr werden, wie absurd das ist? Wie wir die Zeit versuchen zu vertreiben, anstatt sie zu nutzen, anstatt hinzuschauen wie die Welt, wie wir, den Boden unter den Füßen verlieren?

Diese eine Nacht in der Gemeinschaft guter Freunde schreitet von Kapitel zu Kapitel, von Stunde zu Stunde voran. Lucia Jay von Seldeneck lässt uns teilhaben an diesem „Dazwischen“ zwischen Alltag, Vergessen, Verdrängen und Weitermachen. Sie nimmt uns mit in die tiefe Dunkelheit außerhalb des Lichtkegels. Denn es gibt da noch den See, das Unergründliche, die Nixe und die Tiefe und von einem auf den anderen Moment ist jede Gewissheit verschwunden. Panik und Zuversicht diskutieren um den längeren Hebel.

Wie die Autorin in einem Interview selbst sagt, hat sie vor allem „ihre eigene Ratlosigkeit“ dazu getrieben, diesen kleinen Roman zu schreiben. Einen Roman, in dem sie auf eine Nacht verdichtet, was uns als Gesellschaft ratlos macht. „Wir haben Angst, dass sich etwas ändert, und wissen dennoch, dass sich etwas ändern muss. Und wird.“ Sagt sie selbst.

Ich hab mich sehr gern auf ihren jungen Stil, auf die Musik ihrer Sprache, auf diesen Tanz durch alle Facetten der Nacht, auch die mystischen, eingelassen, war auch manchmal ein bisschen ratlos, was grad passiert und wo es mich hinführen wird. Ich kann nur sagen: Komm Tanzen!