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an_der_see

Bewertungen

Insgesamt 16 Bewertungen
12
Bewertung vom 13.04.2023
Tochter einer leuchtenden Stadt
Suman, Defne

Tochter einer leuchtenden Stadt


ausgezeichnet

Noch sehr von den Leseeindrücken von „Tochter einer leuchtenden Stadt“ von Defne Suman beseelt, versuche ich diese Zeilen zu schreiben und diesem Buch gerecht zu werden. So wie die Lektüre nicht immer leicht und flüssig war, so lassen sich diese Zeilen nicht flott formulieren.
Wie diesen Roman beschreiben, wie kurz den Inhalt zusammenzufassen?
Die Geschichte beginnt im Jahre 1905, an einem orangeglühenden Septemberabend in der Hafenstadt Smyrna. An jenem Abend wurde Scheherazade, die Erzählerin dieser Geschichte geboren, die nicht ihr ganzes Leben lang diesen Namen trug.
Der Leser erhält Einblicke in das Leben dreier Familien, einer levantinischen, einer griechischen und einer türkischen. Vor dem Zerfall des osmanischen Reiches leben sie als Nachbarn nebeneinander, jede Familie in ihren Alltag verstrickt, mit Problemen, Nöten, Freuden und Herausforderungen. Nach dem Zerfall des osmanischen Reiches ist ein solcher Alltag für keine der Familien mehr möglich. Verbunden sind diese Familien mit Scheherazade ohne das es ihnen bewusst ist.
Diesen Roman wirklich begreifen und greifen zu können, war für mich eine kleine Herausforderung, der ich mich mit großem Eifer gestellt habe und am Ende dieses Buches angelangt, kann ich aus tiefster Überzeugung sagen, das Lesen und Durchhalten hat sich gelohnt, dass dieser Roman sogar Potential hat, um mehrmals gelesen zu werden.
Im Laufe der Seiten, wird man mit griechischer und türkischer Geschichte konfrontiert, mit dem osmanischen Reich, mit dem Zerfall dieses Reiches, mit Leid, Schrecken und Not die ein Krieg mit sich bringen. Aber, ich möchte sagen, auf eine alltägliche Art und Weise. Was machen politische Umschwünge mit Menschen, wie reagieren sie, wie bereiten sie sich darauf vor, wie viel wird im Vorfeld verdrängt um sein normales Leben weiter leben zu können? Wie schleichen sich Veränderungen langsam in den Alltag? Es wird von Alltäglichkeiten erzählt, die fast jeder in seinem Leben auf die ein oder andere Art erlebt, die sich wiederholen und in der Gesamtheit ein Leben prägen. All diese Dinge, die vielen Menschen irgendwann zu viel sind, zu langweilig, weil immer gleich, der Trott des Lebens. Doch merkt man erst dann wenn dieser Trott wegfällt, nicht mehr gelebt werden kann, dass ein Stück des Lebens verschwindet, ein sehr großes und wichtiges Stück. Und es kann so schnell gehen, von einer Sekunde auf die andere, können sich Leben ändern und das erfährt man an vielen Stellen dieses Romans. Hoffnungen die zerstört, Familien die auseinander gerissen, Leben die getötet werden, Menschen die ihre Heimat für immer verlieren. Die Stadt Smyrna, so wie sie gekannt, wie in ihr gelebt wurde, verschwunden.
Man liest in diesem Roman aber auch über die verschiedenen Arten der Liebe. Über die große Liebe zwischen zwei Menschen, die niemals schwindet. Über die begonnene, noch ganz zarte Liebe, über nicht erwiderter Liebe, über die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, über die Liebe zur Heimat.
Ebenso kann man in die Gefühlswelt einer Mutter eintauchen, die ihr Kind verloren hat, in die Gefühlswelt eines Kindes, später dann einer jungen Erwachsenen, die nie einen Bezug zu ihrer Mutter aufbauen konnte, die sich in ihrer Familie immer fremd und sich ihr immer fern gefühlt hat.
Diese vielen verschiedenen Themen, in eine Zeitepoche gebettet, über die man kaum liest, haben mich tief bewegt. Dazu dieser wunderbare Erzählstil, mit wenigen Dialogen, mit ausführlichen Beschreibungen, der Bilder entstehen, der Düfte heran wehen lässt. Der orangeglühende Septemberabend, der Duft von Feigen, Zimt, Rosenöl, begleitete mich beim Lesen und denke ich an diesen Roman, steigen mir diese Düfte gleich wieder in den Sinn.
Anfangs schrieb ich, dass diese Lektüre nicht leicht und flüssig war. Das lag zum Einen an den teilweise sehr bewegenden Schicksalen und Beschreibungen. Auf den letzten ungefähr 80 Seiten des Buches werden Szenarien geschildert, die ich nicht einfach so runter lesen konnte, die mehr als schwer erträglich waren, besonders wegen des sehr detaillierten Erzählstils, die aber gleichzeitig auch mit zu dem Besten gehören, was ich seit langem gelesen habe. Zum Anderen lag es an den vielen verschiedenen Personen, an den Ereignissen die nicht immer chronologisch erzählt wurden. Besonders bei einer geschichtlichen Thematik, die sich meiner Kenntnis weitgehend entzieht, fand ich es schwierig die Geschehnisse in die richtige Reihenfolge zu bringen. Immer wieder habe ich den Lesefluss unterbrochen, um zu rekapitulieren, um zu sortieren, verstehen zu können und nicht selten kam ich mir dabei vor, als löste ich eine Schachaufgabe.
Wieder einmal habe ich die Leseerfahrung erleben dürfen, dass besonders die schwerer zugänglichen Bücher, mit die kostbarsten und nachhaltigsten für mich sind.

Bewertung vom 07.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Kennt ihr diese Bücher, die einen einerseits faszinierten und fesselten, die einen andererseits aber auch etwas irritiert zurück lassen? „Ein Geist in der Kehle“ von Doireann Ni Ghriofa gehört für mich zu diesen Büchern. Wobei es hauptsächlich das Ende dieses Romans ist, der mich fragend zurück ließ.
Als Kind begegnet die Protagonistin das erste Mal dem „Caoineadh Airt Ui Laoghaire“ der Dichterin Eibhlin Dubh Ni Chonaill, das selbige nach dem Tod ihres Mannes ungefähr im Jahre 1770 schrieb. Seit ihrer Kindheit sind die Verse der Dichterin ein Teil der Protagonistin. Die wir durch eine Zeit ihrer Kindheit, jungen und späteren Erwachsenenalter begleiten. Wir lernen sie als Mutter dreier Kinder kennen, es kommt ein viertes dazu. Sie kümmert sich um den Haushalt, die Kinder, fertigt To do Listen an, einzig um das Gefühl zu erleben, etwas geschafft zu haben, etwas abhaken zu können. Sie ist schwanger. Sie stillt. Sie pumpt Milch ab, die sie als Spende für Kinder auf Säuglingsstationen zur Verfügung stellt. Auf eine solche wird auch ihre neugeborene Tochter kommen. Jede freie Sekunde beschäftigt sich die Protagonistin mit Eiblin Dubd Ni Chonaill. Liest ihre Verse immer und immer wieder und beginnt das Leben der Dichterin zu verfolgen. Aus männlichen Quellen heraus. Denn die weibliche Spur der Dichterin verliert sich schon bald, nachdem sie das Gedicht geschrieben hatte. Wie viele weibliche Texte wohl in den letzten Jahrhunderten verschwanden, wie viele weibliche Leben vergessen? Diese Fragen begleiteten mich über das ganze Buch und stimmten mich traurig. Es fühlte sich wie ausgelöscht an und ich bewundere die Protagonistin für ihre Ausdauer immer weiter zu forschen, neue Wege zu finden, sich mit neuen männlichen Lebenslinien zu beschäftigen um auch nur ein winziges unbekanntes Detail aus dem Leben von Eiblin zu erfahren. Als wenn sich die Protagonistin damit selber am Leben gehalten hat, als wenn das Nachspüren von Eiblin´s Leben, der Protagonistin die Kraft gegeben hat, mit ihrer durch die Mutterschaft einhergehenden Erschöpfung existieren zu können.
Es gibt Andeutungen von Lebensverzweiflung im Leben der Protagonistin, von Phasen der Selbstfindung und des sich selbst Verlierens, von Aufopferung. Und immer wieder der Satz „Dies ist ein weiblicher Text“. Ein weiblicher Text der mir sehr nahe ging, der an etwas Elementarem rüttelt. Ich fühlte mich beim Lesen wie vernebelt von den Gedanken der Autorin, dem Leben der Protagonistin, dem Hier und Jetzt, der Geschichte, der Vergangenheit, wie in einem Fluss von Zeit, wie mit einer Nabelschnur verbunden. Ich habe selten einen so gefühlvollen Text gelesen, von Poesie durchzogen, ohne dass er selber an ein Gedicht erinnert. Es ist ein ruhiger und sehr aufwühlender Text zugleich. So viel Vergänglichkeit in diesem Text, so viel Nähe und Verbundenheit, Trauer, Zurücklassen, Hoffnung und immer weiter machen.
Dann kam das Ende. Das auch mit einem Ende im Leben der Protagonistin verbunden ist. Und mit einem Anfang. Ausgelöst durch eine Entscheidung eines Mannes. Ihres Mannes. Ich klappte das Buch nach der letzten Zeile zusammen und spürte einen großen Redebedarf, der sich auch jetzt noch nicht verflüchtigt hat.
„Ein Geist in der Kehle“ hat mich tief berührt, ich habe die Lektüre als eine große Bereicherung empfunden. Es ist ein Buch dem ich viele interessierte Menschen wünsche, bei dem ich hoffe, dass es nicht unter den Massen von Neuerscheinungen untergehen wird. Für mich ist es ein sehr besonderes Buch.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


gut

Ein neuer Roman von Arno Geiger erscheint und die Fangemeinde jubelt, die Kritiker sind voll des Lobes. „Das Glückliche Geheimnis“ heißt sein neuer Roman oder soll ich eher schreiben seine Biografie? Denn man kann es nicht genau wissen, wie viel Biografisches dieses Buch enthält oder ob letztendlich nicht doch das meiste Fiktion ist.
Arno Geiger erzählt in diesem 236 Seiten umfassenden Werk über seinen Weg zum Schriftsteller. Lässt den Leser an seinen schriftstellerischen Anfängen teilhaben. Nimmt ihn mit auf seinen wöchentlichen Runden durch Wien, auf denen er Bücher, Tagebücher, weggeworfene Aufzeichnungen sammelt, um diese dann wieder zu verkaufen. Der Leser taucht in die Beziehungswelt des Schriftstellers ein, lernt seine Eltern kennen, wird durch dessen Leben manövriert. Erfährt von Niederlagen, Herausforderungen, Verzweiflung, Krankheit, Trennungen, Erfolgen. Das sind alles Themen die mich sehr interessieren. Wie kommt jemand zum Schreiben? Was empfindet er beim Schreiben? Wie geht er mit Niederlagen um? Wann und warum fühlt er sich irgendwann in seinem Leben angekommen? Warum trennen sich Paare und warum finden zwei Menschen zueinander? Wie erlebt man es, wenn die Eltern krank, hilfe – und pflegebedürftig werden?
Man möchte meinen, dass ich mich in die Reihen der Lobenden begebe, habe ich doch gerade erwähnt, dass mich die Themen in diesem Buch sehr interessieren. Ich kann es leider nicht. Eigentlich kann ich dieses Buch weder loben und empfehlen, noch das Gegenteil. Ich habe das schon bei früheren Büchern von ihm bemerkt und bei „Das Glückliche Geheimnis“ wieder. So sehr mich seine Themen interessieren, so sehr spricht mich die Art und Weise wie er schreibt nicht an. Es wird so oft gesagt, dass Arno Geiger tief hinein in die Charaktere geht, ausführlich darstellt, die Psyche ergründet. Ich finde seine Texte und besonders „Das Glückliche Geheimnis“ zu perfekt. Das ist ein Text dem man das Feilen an den einzelnen Wörtern anmerkt, das häufige Korrigieren, das Nachgrübeln über das richtige Wort. Dieser Roman hat keine Ecken und Kanten. Ich hatte beim Lesen ständig das Gefühl ich würde an den Zeilen abrutschen, wie an einer Teflonschicht. Der Roman ist interessant, aber er berührte mich nicht, sprach mich emotional nicht an. Die Charaktere blieben für mich leblos und irgendwie kalt, das Perfekte dieses Textes ließ mich zwischendurch frösteln. Mir fehlte die Wärme in seinen Ausführungen, die auf mich auch irgendwie mechanisch wirkten. Vielleicht kann ein Schriftsteller sein Handwerk auch zu gut können und vielleicht geht das Authentische einer Geschichte dadurch etwas verloren? So ähnlich kommt es mir in „Das Glückliche Geheimnis“ vor.
Für mich ein Glück, dass dieser Roman nur 236 Seiten hat und somit recht schnell gelesen war. Für Zwischendurch ganz nett, bekommt man auf den Seiten dieses Buches sicherlich auch Lebensweisheiten mit auf den Weg, die man sich einrahmen könnte und das Cover bringt immerhin etwas Sommeranmutiges mit sich.
Ich kann es verstehen, wenn dieser Roman gefällt, ich kann es verstehen, wenn dieser Roman abgelehnt oder nicht gemocht wird. Ich denke, der Interessierte Leser sollte sich ein eigenes Urteil bilden und „Das Glückliche Geheimnis“ lesen.

Bewertung vom 05.11.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


ausgezeichnet

Nachdem Bird´s Mutter vor drei Jahren ihre Familie verlassen hat, findet Bird eines Tages einen Brief von ihr. In dem Brief nur eine Zeichnung von Katzen. Kein einziges Wort. Bird beginnt, diese Zeichnungen zu entschlüsseln, ihren Sinn zu deuten und geht zurück in die Zeit, als seine Mutter noch bei ihnen lebte, erinnert sich an die Märchen und Geschichten, die sie ihm erzählte. Er kommt hinter den Sinn der Zeichnungen und begibt sich auf den Weg seine Mutter zu suchen.
Bird lebt in einem Amerika der Zukunft, in dem es ein Gesetzt namens PACT gibt, das mehr oder weniger besagt, dass alles bekämpft werden sollte, was gegen Amerika spricht, gegen den Patriotismus. Dazu gehört auch, dass Kinder aus Familien genommen werden, von denen man der Meinung ist, sie würden ihre Kinder nicht im Sinne dieses Gesetzes, sie antiamerikanisch erziehen.
„Unsere verschwundenen Herzen“ erzählt von Diskriminierung, von Angst, Gewalt, manipulierte Meinungen, zeigt auf wie gewisses menschliches Verhalten entsteht, welche Auswirkungen es haben kann, wie leicht sich Menschen einspannen und manipulieren lassen, welch große Rolle Angst in einer Diktatur spielt, wie diese als Machthebel missbraucht wird. Der Roman erzählt aber auch von der Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn, die einen ungewöhnlichen Weg wählt, um ihn zu schützen, von der Liebe zweier Menschen, von Selbstaufgabe, Freundschaft und wie wichtig es ist, nicht nur das Große und Ganze zu sehen, sondern auf Einzelschicksale aufmerksam zu machen, diesen Schicksalen Namen zu geben, in der Hoffnung, dass dadurch ein Verständnis in der Bevölkerung entsteht, dass vielleicht sogar zur Wandlung der Geschehnisse führt.
Mich hat dieser Roman sehr bewegt, traurig gestimmt und gleichzeitig auch voller Hoffnung zurück gelassen. Hoffnung darauf, dass es immer Menschen geben wird, die mehr machen als andere, die einen Schritt weiter gehen, die sich selber nicht in den Mittelpunkt setzen, die ungewöhnliche Wege gehen und damit großes bewirken können. Bird´s Mutter ist ein solcher Mensch. Eine mutige und selbstlose Frau, die dafür kämpft, dass ihr Sohn nicht der Familie entrissen wird, dass er wenigstens bei seinem Vater bleiben kann.
„Unsere verschwundenen Herzen“ hat mir auch mal wieder die Wichtigkeit von Literatur, vom Umgang mit Worten aufgezeigt. Wie wichtig Wörter sein können, ihre Wahl, welche große Wirkung sie haben kann, im Positiven wie auch im Negativen. Und wie wichtig, das eigenständige Denken ist, das Hinterfragen, nicht nur hinnehmen, nachplappern ohne selber zu denken. Wie viel Unheil der Menschheit erspart bleiben könnte, wenn es mehr Menschen gäbe, die wirklich selbständig denken, die lieber einmal mehr hinschauen und nicht beginnen wegzuschauen, wenn es für sie unangenehm werden könnte.
Wie auch die beiden Vorgängerromane von Celeste Ng ist „Unsere verschwundenen Herzen“ für mich große und bewegende Literatur, die sich nicht nur tief in die Seele des lesenden Menschen eingräbt, sondern dazu auch noch spannend und fesselnd ist, hinter der ich stehe und die ich jedem an den Themen Interessierten sehr gerne weiter empfehlen möchte.

Bewertung vom 09.10.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


gut

Toni, 55 Jahre alt, geschieden, Vater eines erwachsenen Sohnes, Bruder, Freund, Sohn und Philosophielehrer ist seines Lebens müde und beschließt sich in einem Jahr das Leben zu nehmen. Die 365 Tage bis dahin schreibt er jeden einzelnen Tag seine Gedanken zu ganz unterschiedlichen Themen, aktuellen und vergangenen Begebenheiten seines Lebens auf. Soweit die Rahmenhandlung dieses 829 Seiten umfassenden Buches, welches mir einiges an Lesemotivation und Durchhaltevermögen gekostet hat. Das Buch „Die Mauersegler“ gehört zu den Büchern, bei denen ich mich beim Lesen immer wieder gefragt habe, warum ich es lese. Eine Mischung aus Faszination und fast so etwas wie Abscheu begleiteten mich beim Lesen. Weglegen, es nicht zu Ende lesen, konnte ich aber auch nicht, also arbeitete und wurschtelte ich mich durch die Seiten. Fand es zwischenzeitlich genial, dann wieder trivial, aber auch abstoßend. Aus voller Überzeugung kann ich sagen, dass ich noch nie einem Protagonisten wie dem Toni begegnet bin, selten war mir ein Protagonist so unsympathisch und in seiner Ehrlichkeit gleichzeitig wieder sympathisch. Denn ehrlich ist der Toni. Er hat ja auch nichts mehr zu verlieren, muss nichts beschönigen, keine Umstände glatt schleifen, kann frei heraus seine Gedanken offenbaren. In dem Glauben, dass seine geschriebenen Wörter nie jemand lesen wird.
So nimmt er den Leser mit in die Vergangenheit seines Lebens und in die Gegenwart. Er springt in den Zeiten herum, so dass man einiges an Konzentration benötigt um nicht die Übersicht zu verlieren. Szenen seiner Ehe vermischen sich mit Episoden aus der Gegenwart, sein Sohn ist klein und plötzlich ist er erwachsen, seine Eltern sind tot und dann wieder lebendig, ganz wie es ihm einfällt, woran er sich gerade erinnert. Er erzählt über die große Liebe seines Bruders zu ihrer gemeinsamen Mutter, dann wieder wie er seine Frau Amalia kennenlernte, wie er zum Philosophiestudium kam, vermischt das mit aktuellen und vergangenen politischen Geschehnissen, springt zum Leben seines Vater, zum Leben seiner Mutter, wie er in seiner Kindheit von seinen Eltern behandelt wurde, wiederholt dabei viel, betrachtet aus verschiedenen Richtungen, macht Zwischenstopp in der Gegenwart, erzählt von seinem Freund Humpel, der bei einem Terroranschlag einen Fuß verlor, von seiner Arbeit an der Schule, seinen Schülern, wie er zu seinem Hund Pepa kam. Irgendwie fühlte ich mich beim Lesen phasenweise als steckte ich in einer Zentrifuge, wovon mir drohte schwindelig zu werden.
Ein mittelalter Mann erzählt aus seiner Sicht und an nicht wenigen Stellen kam mir das Erzählen eher wie jammern vor. Er ist lebensmüde, weil das Leben zu anstrengend ist, die Schüler zu anstrengend, die Kollegen zu anstrengend, seine Frau ihn ungerecht behandelt hat, sein Sohn nicht seinen Erwartungen entspricht, er ihn dumm und unbeholfen findet, er ihn und seinen Bruder nicht lieben kann, er nur einen Freund hat, er seine Ruhe haben will, ihm übel mitgespielt wurde, er sich dem Leben ausgeliefert fühlt. Diese Aufzählung könnte ich noch weiter führen. Ich fragte mich immer wieder, ja aber warum genau fühlt er sich denn nun so, was genau hat seine Frau ihm angetan, woher kommt teilweise seine tiefe Abneigung gegenüber den Menschen, gegenüber den Frauen? Und da wäre ich auch schon bei dem Punkt, der mich an diesem Roman emotional sehr strapaziert hat. Seine Ansichten über Frauen, über Sexualität. Er unterscheidet zwischen hässlichen und schönen Frauen, Frauen sind da um ihm Lust zu bereiten, Frauen mit eigener Meinung, starke Frauen, wie es wohl auch seine Ehefrau war, sind ihm nicht recht. Es gibt Szenen in diesem Roman, Aussagen von Toni, die mich getroffen haben und die in mir das Wort „Misogynie“ aufblitzen ließen. Durchaus interessant solche ehrlichen Gedanken eines Mannes lesen zu können, ich hoffe nur sehr, dass sich solche Gedanken in immer weniger Männerköpfen befinden werden. Ich fühlte mich bei der Lektüre teilweise ohnmächtig und hilflos, wollte nicht so stehen lassen, was ich las.
An diesem Roman war nichts leicht und locker, beschwingt oder fröhlich. Ich möchte fast meinen, dass man aufpassen sollte, dass die eigene Stimmung nicht kippt im Laufe dieser 827 Seiten. Stellt sich mir natürlich die Frage, warum ich ihn dann doch zu Ende gelesen habe. Weil, wie schon angedeutet, ich es trotz allem interessant fand, in Toni´s Gedanken einzutauchen, mich seine Ehrlichkeit faszinierte, ich heraus finden wollte, ob er sich tatsächlich umbringen wird, mir der Schreibstil sehr zu sagte und mir die Grundidee des Romans gefiel. Ich kann nach der Lektüre sagen, dass ich sie zwar auf eine Art bereichernd und interessant fand, aber auch extrem anstrengend und belastend. Ich glaube, „Die Mauersegler“ wird nicht zu den Büchern zählen, die ich mehrfach lesen möchte, einmal reicht und vielleicht ist dieses eine Mal schon zu viel.

Bewertung vom 15.08.2022
Snowflake
Nealon, Louise

Snowflake


ausgezeichnet

Kennt ihr diese Bücher, in die man so sehr versunken ist, dass man nicht aus ihnen auftauchen mag, die nicht enden sollen? Solch ein Buch ist „Snowflake“ von Louise Nealon für mich. Die letzten 100 Seiten habe ich sehr langsam gelesen und immer wieder nachgeschaut, wie viele Seiten mir noch in dieser Welt bleiben. Die Welt von Debbie, ihrer Mutter Maeve, ihrem Onkel Billy, ihrer Freundin Xanthe, Debbie´s Leben auf einem Milchbauernhof auf dem Land und ihrem Stundentenleben in Dublin. Zwei Welten die sich überschneiden, sich nicht trennen lassen. So wie sich die Herkunft nicht von der Zukunft trennen lässt, so sehr man es auch anstrebt.
„Snowflake“ ist eine Geschichte von liebenswerten und eigenwilligen Menschen mit Problemen, Lebensunmut, Melancholie und trotzdem sehr viel Lebensfreude. Es sind unangepasste Charaktere die mir sehr nahe gegangen sind, mit denen ich mitfühlte. Es sind die kleinen Leseglücksmomente, solche Menschen in den Geschichten kennenlernen zu dürfen und sie ein Stück weit ihres Lebens zu begleiten.
Bei „Snowflake“ hatte ich das Gefühl immer nur einen kleinen, aber dafür einen um so kostbareren Einblick in das Leben der Charaktere zu bekommen. Das Buch ist in eher kurze Kapitel unterteilt, jedes Kapitel trägt eine eigene Überschrift. Es kam mir beim Lesen oft vor, als läse ich einzelne Episoden, die zwar zusammenhängen, aber auch unabhängig voneinander gelesen werden könnten, was das Leseerlebnis für mich intensiv werden ließ. Fast so als tauche man einmal kurz im Meer mit dem Kopf unter eiskaltes Wasser. Und das Meer spielt in diesem Roman auch eine Rolle, genauso wie am Strand gefundene Muscheln und Schnecken. Teilweise eine Traumwelt und die Frage wie viel von unseren Träumen findet sich in der Realität wieder, können Ereignisse geträumt werden, die dann Realität werden? So wie es Maeve erlebt, die sehr viel schläft, weil sie der Meinung ist, nur im Schlaf, in ihren Träumen lebendig zu sein. So wie es auch Debbie erfährt, als sie etwas träumt, dass in dem Moment des Traumes Realität wird. Die Frage, wäre es nicht geschehen, wenn sie es nicht geträumt hätte und wie viel Einfluss kann man auf´s Leben nehmen, was entzieht sich der eigenen Kontrolle? Wie sehr kann man geliebte Menschen schützen und wie viel darf das einem selbst abverlangen?
Auch Themen wie Freundschaft, Tod, Krankheit, Trauer kommen in diesem Roman vor. Themen die das Leben ausmachen. Begebenheiten mit denen jeder Mensch im Laufe seines Lebens in Berührung kommt, die jeder auf seine Weise erlebt, verarbeitet und hoffentlich dann auch überlebt.
Manche Szenen in diesem Buch habe ich so intensiv gefühlt, dass sie sogar den Weg in meine Träume gefunden haben. Kleine Motive, die ich sofort „Snowflake“ zu ordnen konnte. Dazu geführt hat sicherlich auch die Sprache, in der Louise Nealon diesen Roman schrieb. Ich habe die Sprache teilweise sehr direkt empfunden, dann wieder zurückhaltend, auch poetisch. Fast so als passte sich die Sprache den Charakteren und ihren Befindlichkeiten an. Sehr authentisch wie ich fand, sehr überzeugend.
„Snowflake“ von Louise Nealon möchte ich jedem empfehlen, der gerne tief in Geschichten eintaucht, der vielschichtige Charaktere mag, vor bewegenden Themen des Lebens nicht zurück schreckt, der einen Hang zum Träumen mit bringt und sich einer Geschichte, genauso wie dem Leben mit allen Höhen und Tiefen hingeben möchte.

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