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lust_auf_literatur

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Insgesamt 34 Bewertungen
Bewertung vom 31.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


gut

Zeitgeistig, aber inhaltlich unverbindlich

„Tasmanien“ konnte nicht an meine Begeisterung über Giordanos „Den Himmel stürmen“ (2018) anknüpfen. Dieser Roman und „Die Einsamkeit der Primzahlen“ waren für mich eindrückliche Lese- und Hörerlebnisse, was ich über „Tasmanien“ nicht sagen werde.

Ich kann nicht einmal sagen, ob ich „Tasmanien“ für ein gutes Buch halte, zu undifferenziert ist meine Meinung darüber. Es entzieht sich meinem Zugang auf mir ungewohnte und unübliche Weise.

Paolo Giordano schreibt über seine Figur Paolo, die genauso alt ist und einen ähnlichen Beruf hat, wie er selbst. Das lässt mich spekulieren, wie ähnlich Giordano seinem Ich-Erzähler wirklich ist.

Paolo steckt in einer tiefen individuellen und globalen Sinnkrise. Seine Ehe ist am Scheideweg, der gemeinsame Kinderwunsch bleibt unerfüllt.
Klimaveränderungen, Terroranschläge und der unbedingte Zerstörungswille der Menschheit, das sind die globalen Themen, die Paolo beschäfftigen.
Sein einziger Coping Mechanismus: Flucht und Verdrängung. Paolo vermeidet jegliche Stellungnahme und Verantwortung.
Paolos Verhalten scheint mir nicht das eines erwachsenen Mannes, es scheint mir das eines heranwachsenden Kindes.
Das mag alles sehr zeitgeistig sein, ich persönlich kann dieser Erzählart nicht viel abgewinnen. Wahrscheinlich liege ich mit meiner Interpretation daneben, aber mir deucht das schon sehr nach detaillierten Beschreibungen von Vermeidungsstrategien in Kombination mit fragiler Männlichkeit.
Ja, es ist unleugbar ein universales Problem, dass wir uns angesichts unserer privaten und globalen Krisen gerne abwenden und entziehen, doch in Giordanos Bearbeitung des Themas finde ich nichts neues. Zudem ist er mir seiner mutmaßlichen Aussage zu unverbindlich und deutungsoffen. Das sehen die vielen italienischen Leser*innen auf jeden Fall anders, denn „Tasmanien“ gilt als das meistgelesene Buch des vergangenen Jahres.

In den Passagen, in den denen Giordano über die historische Atombombe und seine Entwickler schreibt, spüre ich meine alte Faszination für den Autoren. Sie sind fesselnd und spannend geschrieben und bieten die Parallelen in unsere heutige Zeit deutlich an. Auch handwerklich beherrscht Giordano sein Werkzeug, das wiederkehrende Thema der Wolken (sowohl symbolisch als auch konkret) sowie das allegorische Tasmanien ziehen sich als roter Faden durch den Roman und schaffen so ein anspruchsvollen und literarischen Roman im typischen Giordano Stil.

Ich möchte keine Empfehlung für oder wieder den Roman aussprechen. Meine Enttäuschung ist zu einem gewissen Teil meiner hohen Erwartungshaltung geschuldet und die schwache Ausarbeitung der Themen hat vielleicht seinen eigenen Sinn und Reiz, der mir verschlossen blieb.

Bewertung vom 30.08.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


sehr gut

Unterhaltsam, sexy und kaputt: Eine Liebesgeschichte aus New York

Ich wollte den Roman unbedingt lesen. Und er hat meine Erwartungen nicht enttäuscht, ich mochte ihn ziemlich gerne.
Ein richtiger Page Turner.

Die spoilerfreie Kurzzusammenfassung könnte lauten: ein kaputter, mittelalter Mann und eine kaputte, junge Frau verlieben sich in einander, haben tollen Sex und heiraten spontan. So weit, so Romance.
Doch natürlich beginnt nach jeder Verliebtheit der Alltag und die Pheromone können bestehende Probleme nicht auf ewig überdecken…

Stimmt, der Plot hört sich jetzt nicht nach was noch nie Dagewesenem an und die Grundstory habe ich schon in verschiedenen Romanen und Filmen mit unterschiedlichem Ausgang gesehen.
Aber es ist eben auch einfach ein tolle Geschichte und ich will sie noch öfter in den verschiedensten Varianten lesen.
Vorausgesetzt die Rahmenbedingungen passen und das tun sie bei Coco Mellors ausgezeichnet.
Ihr Schreibstil ist sehr eingängig aber dabei ungewöhnlich und abwechslungsreich genug um einen gewissen Anspruch zu befriedigen. Die Nebenfiguren und Handlungen genau richtig in ihrer Anzahl um zusätzliche Themen einzubringen ohne die Haupthandlung zu überfrachten.
Auch die Sexszenen gefallen mir richtig gut, sie sind nicht zu glatt aber nicht kinky genug, um Anstoß zu erregen.

Wirklich very, very nice.

Hätten mir die oben genannten Benefits nicht so viel Freude gebracht, dann könnte ich einige Kritikpunkte anbringen. Die Feministin in mir stört sich etwas am Ausgang der Frank-Plotline, aber gut, bestimmt bin ich einfach nur neidisch. Außerdem, warum immer diese mittelalten Männer? Kann mensch seine junge weibliche Selbstzerstörung nicht mit gleichaltrigen Männern ausleben?

Aber ich will gar nicht kritisieren. Ich will sagen, dass mir der Roman trotz möglicher fragwürdiger Punkte einfach richtig gut gefallen hat und mir gute Lesestunden ohne Alltagssorgen bereitet hat.

Und das reicht definitiv für eine Leseempfehlung!

Bewertung vom 16.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Leuchtende Sprache und stark erzählt!

Dieser Roman war ein reiner Cover Griff und zwar ein äußerst glücklicher.
Ich fand hier überraschend ein kleines, leuchtendes Juwel.
Und den Beweis, dass große Familienromane nicht zwangsläufig viele Seiten brauchen.

Valery Tscheplanowa beschreibt in ihrem ersten, teilweise autobiografischen Roman, die Geschichte von vier Generationen russischer Frauen. Sie spannt einen großen Bogen vom blauen Linoleumboden in einer kleinen Wohnung im russischen Kasan bis nach Deutschland, wo die Ich-Erzählerin heute lebt.
Es ist die Geschichte ihrer Spurensuche in die Vergangenheit ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter. Die Geschichte von stolzen und unabhängigen Frauen, die vom harten Leben zu unbeugsamen Stahl geformt wurden um zu überleben.

„Das Leben ist ein Kampf und es gewinnen nur die Starken.“

Anhand von verschiedenen Episoden zeichnet Tscheplanowa ein intensives Bild dieser Familie, in der zwar geliebt wird, aber der Stolz verhindert es zu zeigen oder auszudrücken.

„Und dort wird sie auch mit ihm am Tisch sitzen. Und nur mit ihm. Dem Stolz.“

Jenseits der starken Geschichte und Charaktere ist Tscheplanowas Sprache ist für mich ein wahrhaftes Highlight. Sie leuchtet und strahlt in jeder Zeile voller Kraft und ist erfüllt voller Weisheit und Tiefe. Das erfüllt mich mit großer Freude und ich liebe es wirklich sehr!

Kurz: für diesen unglaublich starken Roman gibt es von mir eine deutliche und dringliche Empfehlung!

Bewertung vom 15.08.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


sehr gut

Emotional, wertvoll und lesenswert!
Nach dem Beenden des Romans durfte ich den beigelegten, geheimnisvollen Brief lesen. Er war vom Autor Jaap Robben selbst und sehr bewegend. Darin schreibt er über die Enstehungsgeschichte des Romans und die real zu Grunde liegenden Hintergründe und Menschen.
Seine Protagonistin Fieda Tendeloo ist fiktional und steht stellvertretend für viele Frauen ihrer Generation, nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in seinen Nachbarländern.

Frieda ist heute 81 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim, da sie seit dem kürzlichen Tod ihres Mannes nicht mehr alleine leben kann. Ihr einziger Sohn, der selbst kurz davor steht das erste Mal Vater zu werden, ist einer ihrer wenigen verbliebenen Sozialkontakte. Frieda ist keine rüstige thoughe alte Dame, wie ich sie aus anderen Romanen kenne. Robben beschreibt sehr einfühlsam aus Friedas Sicht, wie es sich anfühlt, selbst bei intimsten Verrichtungen auf bezahlte Hilfe angewiesen zu sein und wie sie immer mehr die Kontrolle über sich selbst und ihr Leben verliert.
Aber ich lerne auch eine ganze andere Frieda kennen, eine ganz junge Frieda, voller Träume, Liebe und Hoffnungen. Es ist die Frieda der Vergangenheit, der, trotz der geschlechtervorgegeben Bergrenzungen der damaligen Zeit, viele Wege offen stehen.
Bis sie sich in einen verheirateten Mann verliebt, mit ihm eine Affäre beginnt und ungeplant und ungewollt schwanger wird…

Ich finde die Passagen aus dem Heute sehr gelungen. Die unausgesprochenen Themen zwischen Mutter und Sohn, die langsam an die Oberfläche drängen, fangen einen ganzen Generationenkonflikt ein.
In den Erzählsträngen aus der Vergangenheit thematisiert Robben unter anderem die strengen gesellschaftlichen Konventionen denen v.a. Frauen unterworfen waren. Mir als glücklich unverheiratetes Elternteil macht das deutlich wie viel sich seither geändert hat.
Die Eingangs erwähnte Universalität seiner Figuren macht den Roman zu einem Spiegel dieser Zeit. Diese Universalität lässt den Figuren auf der anderen Seite für mich zu wenig Raum für Indiviualität. Sie wirken manchmal wie Spielbälle ihrer Zeit und ihres Schicksals und dadurch sehr determiniert. Das wirft die Frage auf, wie frei wir (auch heute) wirklich in unseren Handlungen sind oder doch durch die Umstände und unser Umfeld gezwungen sind.
Spannend finde ich die Frage, wie und ob trotz tragischer Vergangenheit ein glückliches, gutes Leben möglich ist und welche Rolle Schweigen und Verdrängung in diesem Kontext spielt.
Der Erzählstil ist konventionell und hält trotz der am Ende etwas zu gewollt erzeugten Suspense wenig Überraschungen bereit. Das kann je nach persönlichen Vorlieben als angenehm zu lesen oder als vorhersehbar aufgefasst werden.

Unabhängig davon erzählt Robben mit Friedas wertvoller Geschichte entlang der Kontur eines Lebens und schafft dabei einen sehr lesenswerten und zu Herze gehenden Roman.

Bewertung vom 03.08.2023
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


sehr gut

Bewegend und intensiv - ein tolles Romandebüt

Die Leseprobe übte einen derartigen intensiven Sog und Faszination auf mich aus, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte.
Das Eingangskapitel ist gleichzeitig klassisch und neuartig. Und verdammt catchy.
Klassisch, weil sich Öziri an einem bekannten Stilmittel der Literatur bedient, das ich kenne: der Abrechung oder Aussprache per Brief auf dem Sterbebett
Neuartig, weil Öziri dieses Stilmittel so modern, wütend und verletzlich neu interpretiert, das es für mich zu einer neuen Leseerfahrung wird.

Öziri lässt seinen todkranken Ich-Erzähler Arda abrechnen, und zwar mit seinem Vater Metin, der die Familie früh verlassen hat und immer nur eine Leerstelle in seinem Leben war.
Es ist mehr als nur eine Abrechnung. Arda erzählt von seinem Aufwachsen, seiner Jugend und seinem jungen Erwachsenenleben.
Und er erzählt von seiner Familie. Es ist auch die Geschichte von Ümran, Ardas Mutter und Aylin, seiner Schwester. Von den Frauen der Familie, die ebenfalls vom Vater und Ehemann verlassen wurden.
In Öziris Roman stecken unglaublich viele Aspekte, angefangen vom Leben der in Deutschland geborenen Kinder türkischer Einwandererfamilien und die rassistischen und bürokratischen Hürden auf die sie treffen. Die Suche nach Identität, die jedes Erwachsenwerden begleitet, und ungleich schwieriger ausfällt, wenn die Familie zerrissen ist und die Menschen, die Halt und Orientierung geben sollten, selbst am kämpfen sind.

Was mich aber am meisten berührt und was mir auch noch länger bleiben wird, ist der laute und dringliche Ruf Ardas nach seinem Vater in den schwersten und verzweifelten Stunden seines Lebens. Dieser Mann, den er nie kennengelernt hat, dem er nur das Schlimmste wünscht und den er doch auch in seiner ganzen Fehlbarkeit als Menschen erkennt.
Das ist ein zeitloses, generationen- und kulturenübergreifendes Thema, das Öziri mit „Vatermal“ in eine literarische und intensive Form gießt.

Für den Kulturschaffenden Necati Öziri ist es der erste Roman und „In seinen Texten ist natürlich immer alles wahr“ (Umschlagtext).
Ob wahr oder nicht, ein tolles und dringend empfehlenswertes Debüt!

P.S.: schaut euch auch den Wahnsinns-Buchtrailer dazu an….

Bewertung vom 23.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


sehr gut

Atmosphärisch und abgründig

Der Debütroman „The Girls“ von Emma Cline hatte mich ziemlich begeistert (2016? Shit, gefühlt gestern!), darum wollte ich den neuen Roman „Die Einladung“ auch ziemlich dringend lesen.
Und ich muss sagen, es ist ein Roman, der ziemlich genau meinen Lesevorlieben entspricht. Es ist zeitgenössische amerikanische Literatur, Männer sind Waschlappen, Frauen auch meistens nicht besser und jede*r ist sich selbst der/die nächste.
I like!

Natürlich stecken mehr Nuancen und Abgründe in diesem gesellschaftskritischem wie unterhaltsamen Buch, als ich es hier kurz zusammenfassen kann.
Die Protagonistin Alex ist jung und schön und nutzt diesen Umstand als Eintrittskarte in die männliche Welt der Reichen und Schönen. Einen anderen Lebensplan hat sie nicht. Aber als ihr aussichtsreicher aktueller Sugar Daddy sie nach einer kleinen Party Eskalation abserviert, ist sie mittellos und weiß nicht wohin.
Glücklicherweise hat Alex noch „Die Einladung“ zur Simons großer Gartenparty und hofft dort bei einem Wiedersehen mit ihm, ihn wieder für sich gewinnen zu können.
Denn nur der reiche und mächtige Simon scheint die Lösung für all ihre Probleme und das Ticket für ein sorgloses Leben.
Die Zeit bis zur Party überbrückt sie bei verschiedenen Menschen, bei denen sie sich selbst einlädt und wo sie verbrannte Erde hinterlässt.

Das Thema Selbstbetrug und Manipulation zieht sich als Grundthema durch den ganzen Roman. Cline montiert komplexe Abhängigkeitsverhältnisse und Machtstrukturen zu einem tiefgründigen Gesellschaftsporträt einer reichen und abgestumpften Elite Amerikas. Hier ist alles zur Ware geworden. Wer wie Alex die Schwächen der Menschen erkennen kann, nutzt das skrupellos zum eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf Verluste. Aber auch Alex hat Schwachstellen und ist letztendlich verwundbar…

Sprachlich wie auch inhaltlich gefällt mir dieser neue Roman von Emma Cline wieder sehr gut! Cline schafft es genauso wie in „The Girls“ mich mit ihren Figuren zu faszinieren und gleichermaßen Abstoßung wie Mitleid zu erregen.

Ein intensiver und spannender Sommerroman, der mir direkt ein gewisses morbides Lebensgefühl vermittelt.

Bewertung vom 06.07.2023
Elternhaus
Mank, Ute

Elternhaus


sehr gut

Wunderbar wehmütiger Roman über den Abschied vom Elternhaus
Eigentlich wollte ich diesen Roman, trotz des Mega-Covers, an mir vorbei ziehen lassen. Der Klappentext hat mich spontan nicht besonders angesprochen. Doch dann die Leseprobe umso mehr!

Ute Mank schafft es mit ihrem wirkungsvollen Schreibstil, dass ich sofort in die Geschichte eintauchen kann und es sich ein plastisches Bild des Elternhauses der drei Schwestern Sanne, Petra und Gitti aufbaut.
Und damit meine ich nicht nur ein visuelles Bild, sondern vor allem ein Emotionales.

Die Eltern der längst erwachsenen Schwestern sind alt geworden und sollen aus dem Elternhaus in eine kleine, pflegeleichte Wohnung umziehen. So hat es Sanne, die älteste der drei Drei und die in nächster Nachbarschaft zu den Eltern wohnt, beschlossen. Sanne ist es auch, die regelmäßig nach den Eltern sieht und ihnen bei den Alltagsverrichtungen zur Hand geht.
Die beiden anderen, vor allem Petra, sind von dem Umzugsplänen wenig begeistert. Zuviel verbindet sie noch mit dem Elternhaus und sie können sich die Eltern in keiner anderen Umgebung vorstellen.

„Dieses schmale Haus, ein Sehnsuchtsort, an dem sich nie etwas zu ändern schien. An dem sich nichts verändern durfte, weil sie immer noch nach etwas gesucht hatte, was sie nicht hätte benennen können.
Nun war dort nichts mehr zu holen und zu finden. Und die Eltern waren endgültig bedürftig geworden.“

Zwischen Sanne und Petra, die beide einen sehr unterschiedlichen Lebensweg eingeschlagen haben, entlädt sich an diesem Konflikt die schon lange gärenden Spannungen aus der Kindheit. Sanne, die Ältere, war immer die vorbildliche Tochter, die dem Lebensweg der Eltern nacheifert. Frühe Heirat, Kinder und natürlich ein eigenes Haus mit Garten.
Petra hatte den Ausweg aus der Kleinbürgerwelt gesucht und sich eine berufliche Karriere aufgebaut.
Beide Lebenswege haben ihre Schattenseiten und beide Schwestern sehnen sich nach den vermeintlichen Vorteilen der anderen.
Die Beschreibungen von Sannes toter und liebloser Ehe und ihr verzweifeltes Klammern an die eigenen Kinder, schmerzen mich beim Lesen.

Und dann sind da ja auch noch die Eltern. Wie gehen sie mit der Verpflanzung um?

Ute Mank hat mit „Elternhaus“ einen sehr schönen, gut schmökerbaren Roman mit viel Tiefgang geschrieben, der nicht nur für Kleinstadtleser*innen mit Schwestern viel Identifikationspotential bietet. Die wehmütigen Gefühle von verpassten Möglichkeiten und dem Entgleiten der eigenen Vergangenheit ist hier wundervoll eingefangen.
Ich persönlich hätte mir vielleicht einen schärferen feministischen Unterton gewünscht, denn es sind die weiblichen Lebenswege, die Mank in den Mittelpunkt ihres Romans stellt. Und ich könnte auch noch die vielleicht etwas platten metaphorischen Bilder bemängeln, die manchmal gefühlt etwas abgedroschen daher kommen.
Doch eigentlich hat mich das nicht gestört und ich fand in „Elternhaus“ einen gelungenen und unterhaltsamen Roman.

Bewertung vom 23.06.2023
Pageboy (MP3-Download)
Page, Elliot

Pageboy (MP3-Download)


ausgezeichnet

Ganz kurz habe ich gezögert, mir dieses Hörbuch zu holen, aus dem (dämlichen) Grund, dass ich dachte, alles was nach „I`m glad my mom died“ von Jennette McCurdy kommt, muss ja daneben abfallen.
Well…das tat es nicht.

Page schenkt mir mit seiner Autobiografie ein Wahnsinnshörbucherlebnis, von ergreifender Selbstoffenbarung und emotionalem Tiefgang.

Da ich die Klatschpresse und das Leben von Filmstars eher nicht so verfolge, sind mir viele Aspekte über Pages Leben neu. Z.b. dass er nicht, wie ich vermutete, ein amerikanischer Schauspieler ist, sondern in Kanada geboren und aufgewachsen ist.
Page geht in seinem Buch bis in seine frühe Kindheit zurück und zu den Anfängen seiner ersten traumatischen Erfahrungen, die sich im Laufe seines Lebens immer mehr häufen werden.
Seine Eltern trennen sich früh, und vor allem das Verhältnis zu seinem Vater und seiner dessen neuer Lebensgefährtin gestaltet sich schwierig und konfliktgeladen.
Auch das Umfeld, in dem Page aufwächst, ist zutiefst geprägt von zementierten Geschlechterrollen und heteronormativen Stereotypen.

„Ich verbrauchte meine ganze Energie, mein Unbehagen zu verstecken.“

Als die Schauspielkarriere von Page an Fahrt aufnimmt, wechselt er vom engstirnigen Provinzsetting in das Haifischbecken der Fernseh- und Kinoindustrie.

Page offenbart mit seiner Geschichte ein furchtbares frauen-, queer und transfeindliches System, das stellvertretende für Teile der ganzen Gesellschaft gesehen werden kann.

Die Autobiografie ist nicht linear erzählt, sondern Page greift auf der Zeitschiene vor und zurück, was es für mich abwechslungsreich macht und mir gut gefällt. Dadurch bekommen machen Erlebnisse eine zusätzliche, besondere Tiefe, weil sich die Bewertung und Deutung in der Retrospektive oder im Vorgriff ändern.

Die Fähigkeit und den Mut Pages so offen über seine verletzlichsten Zeiten zu schreiben, beeindrucken und bewegen mich sehr! Auch über seine Sexualität, seine Körperdysphorie und seine Missbrauchserfahrungen schreibt Page ausführlich und aufwühlend offen.
Er beschreibt eindrücklich welche Schwierigkeiten und Hindernisse er mit seinem queeren Outing überwinden musste. Die aber noch in keinster Weise mit den Beschämungen und Anfeindungen zu vergleichen sind, die Page nach seinem Outing als Trans erleben musste.

Pages Geschichte geht mir nahe und und unter die Haut.

Es berührt und inspiriert mich sehr, dass Page trotz dieser alarmierenden Anfeindungen, seine Stimme und Sichtbarkeit dafür nutzt, sich für Menschlichkeit, Toleranz und Liebe stark zu machen.

Für mich war „Pageboy“ erneut ein autobiografisches Highlight, das ich auf jeden Fall weiterempfehlen kann!

Eingesprochen wird das Hörbuch sehr authentisch und mitreißend von Jonathan Perleth.

Bewertung vom 19.06.2023
Die schönen Jahre
Ciabatti, Teresa

Die schönen Jahre


sehr gut

Mit „Die schönen Jahre“ von Teresa Ciabatti habe ich die Stimme einer bekannten und preisgekrönten Autorin in der Hand.

Und zwar einen äußerst wahrhaftigen, schonungslosen Roman mit einer äußerst zweifelhaften Erzählerin.

Ciabattis Erzählerin ist eine berühmte Schriftstellerin (zu oft wiederholt und betont um glaubhaft zu sein) Ende Vierzig, in den Wechseljahren und mit Vergangenheit.
Als Teenagerin ist sie mit Frederica befreundet. Die Freundschaft ist mit ambivalenten Gefühlen besetzt und eine Notgemeinschaft.

„Auf dem Teppich in deinem Zimmer will ich du sein, gib mir die Hand.“

Die beiden Jugendlichen, eine reich und eine arm, eint der Wunsch, attraktiv genug zu sein, um dazu zugehören.

So attraktiv wie Fredericas Schwester Livia, der feuchte Traum dreier Männergenerationen. Auch das mehrfach wiederholt.
30 Jahre später treffen sich die Wege der beiden einstigen Freundinnen wieder. Die Leben der beiden Frauen haben sich sehr verändert. Die arme Erzählerin ist eine berühmte, geschiedene Schriftstellerin geworden und hat eine erwachsen Tochter. Frederica kümmert sich um ihre mittlerweile geistig behinderte Schwester Livia.

Wie wurde aus dem einstigen Männertraum eine verwirrte Person, die ständiger Aufsicht und Pflege bedarf?

Eher langsam und unzuverlässig lässt Ciabatti ihre Erzählerin aufdecken, was damals geschah und wie die Freundschaft der beiden wirklich endete.
Ciabatti greift in ihrem Roman verschiedene Themen auf, doch nicht alle offenbaren sich sofort gleichermaßen. Da ist der Konflikt der Erzählerin mit ihrer erwachsenen Tochter, die sie nicht mehr sehen will. Zuviele Fehler machte sie einst als Mutter mit narzisstischer Neigung.
Vordergründig scheint die Erzählerin eine egomanische und im sich selbst kreisende Figur, doch Ciabatti lässt sie offen und schrittweise offenbarend erzählen, sodass ich dahinter eine große Verletztheit erahne. Und eine zutiefst menschliche Suche nach Liebe und nach einem gesehen werden, die allem zu Grunde liegt.

„Der Wunsch, vergewaltigt zu werden, entführt zu werden, die verzweifelte Sehnsucht, bei irgendetwas die Hauptperson zu sein.“

Schriftstellerisch und stilistisch finde ich hier großes Kino. Ich mag Ciabattis wiederborstigen und schwer eingängigen Schreibstil. Sie lässt ihre Erzählerin mich als Leser*in direkt ansprechen und erwischt mich kalt in meinen Gedanken.
Kleinere Abstriche muss ich beim Unterhaltungsfaktor machen. Ja, manche Stellen sind schwierig und erschließen sich nur durch freie Assoziation. Das ist anstrengend und einige Deutungsoptionen bleiben mir sicher verschloßen.

Ein lesenswerter, abgründiger Roman, in dem der Wahrheitsgehalt über die Vergangenheit und der Gegenwart faszinierend verschwimmt und nur noch meiner eigenen Deutung überlassen bleibt.

Bewertung vom 11.06.2023
Wo du mich findest
Barns, Anne

Wo du mich findest


gut

Luftige Geschichte vom Neuanfang und Loslassen

Und wieder ein Roman mit dem Cover Hype Schwimmen. Auch im Roman spielt das Wasser und das Schwimmen eine wichtige Rolle.
Nach meinem Leseverständnis steht es sinnbildlich für Loslassen und Neuanfang.

Und einen Neuanfang braucht Sophie dringend nach zwei großen Verlusten in ihrem Leben.
Bei einem kurzen Aufenthalt auf Rügen hat sie eine sehr kurze Zufallsbegegnung mit einem Mann, der sie danach in ihrem Träumen verfolgt.
Sie richtet all ihre unerfüllten Sehnsüchte auf diesen Mann, den sie nur wenige Augenblicke getroffen hat und von dem sie nicht einmal den Namen kennt.
Natürlich merkt Sophie, dass sie massiv projeziert, sie kann und will den Trost der Träume aber nicht aufgeben.
Währenddessen zerbricht ihre Ehe, die schon länger nicht mehr lebendig war und sie beschließt nach Rügen zu fahren und den unbekannten Mann ihrer Träume ausfindig zu machen.
Die Autorin arbeitet schön heraus, dass es bei dieser Suche nicht (nur) um eine romantische Schwärmerei geht.
Sophie ist auf der Suche nach sich selbst. Durch die letzten Schicksalsschläge fühlt sie sich aus der Bahn geworfen und kann sich selbst nicht mehr finden.

Trotz dieser vielversprechenden Ansätze bleibt „Wo du mich findest“ für mich nur eine leichte Urlaubslektüre und geht mir nicht unter die Haut.
Das liegt eher weniger an den (zu) sympathisch ausgearbeiteten Figuren, als an den eingestreuten…Kalendersprüchen der Lebensweisheiten („Du musst nur an dich glaube, Sophie“), was die Lektüre leider für mich manchmal ins Triviale abrutschen lässt. Auch die Geschichte an sich habe ich so oder ähnlich schon öfter gelesen und bietet mir außer netter Unterhaltung nichts wirklich Neues. Wenn ich meine strenge feministische Messlatte anlegen würden, hätte ich sicher noch weitere Kritikpunkte.

Der Schluss ist wunderbar rund und perfektioniert mit seinen zarten Andeutungen diese luftige Geschichte vom Neuanfang und Loslassen, reicht mir aber persönlich nicht, damit ich den Roman in bleibender Erinnerung behalten werde.
Aber das muss ja auch nicht immer sein.