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Benutzername: 
galaxaura
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 27.12.2024
Die blaue Stunde
Hawkins, Paula

Die blaue Stunde


ausgezeichnet

Brillanter Psychothriller-Pageturner mit Tiefgrund

„Die blaue Stunde“, nach dem unglaublich erfolgreichen Bestseller „Girl on the Train“ der neue Roman von Paula Hawkins, erschienen Anfang 2025 bei dtv, ist ein packender psychologischer Thriller, der die Spannung untergründig durchführt und sich neben den Abgründen, die in Menschen wohnen, auch mit der Rolle der Künstlerin in der heutigen Zeit beschäftigt, was der Story eine größere Dimension verleiht.

Auf der Oberfläche der Handlung geht es um einen Erbschaftsstreit: Die Künstlerin Vanessa Chapman, an Krebs verstorben, hinterlässt ihr gesamtes Werk überraschend der Fairburn Stiftung, überraschend deshalb, weil sie mit dieser zuletzt zerstritten war und alle Verbindungen gekappt hatte. Ihre Freundin und Nachlassverwalterin Grace gibt sich zögerlich beim Zusenden aller Werke sowie Notizen und Tagebüchern. Als nun in einem der skulpturalen Werke von Chapman ein menschlicher Knochen auftaucht, kommt eine Lawine ins Rollen, die weit flächendeckender ist als am Anfang erahnt.

Hawkins nutzt viele formale Mittel, um die Chronologie der Ereignisse aufzubrechen, Rückblenden, Zeitungsartikel, Briefe, Tagebucheinträge, E-Mails, Ausstellungskataloge bringen den Handlungsstrang immer wieder gelungen in Diskontinuität, so dass sich erst nach und nach ein Puzzle aus Vergangenheit und Jetzt-Zeit zusammensetzt. Die Schreibe ist gewohnt flüssig und dynamisch, Hawkins schreibt lebendig und detailreich, ohne je zu überfrachten. Die Charaktere sind greifbar und konkret, die Atmosphäre ist dicht gewoben, die Kargheit und Einsamkeit der Insel Eris, der Haupthandlungsort, ist jederzeit spürbar, genauso wie das Grollen von Eifersucht und Ehrgeiz, das unter der Handlung liegt und sich immer wieder in Unwettern, auch ganz realen, entlädt. Das Ende ist irgendwann einerseits erahnbar, in seinem Ausmaß dann aber doch sehr verblüffend.

Ein großer Pluspunkt ist die feministische Perspektive, die Hawkins bei der Betrachtung der Kunstwelt und auch der Welt generell einnimmt. Immer wieder webt sie geschickt und plausibel Anmerkungen in die Erzählung ein, die mehr als deutlich machen, wie sehr weiblich gelesene Menschen in der (Kunst-)welt noch immer viel härter um Erfolg kämpfen müssen als ihre männlich gelesenen Kollegen. Auch analysiert sie treffend die Überinterpretation von Kunstwerken, die manchmal schlicht aus einer Notwendigkeit geboren werden. Damit verleiht Hawkins diesem packenden Roman eine größere Dimension als sie sonst oft in Suspense-Prosa zu finden ist.

Unter allem wohnt auch eine große Liebe zu den einsamen Menschen dieser Welt, den vielleicht etwas skurrilen Menschen, die es nicht schaffen, einen Mainstream zu bedienen oder das vielleicht auch gar nicht wolle, den Verletzten, sozial ausgegrenzten, für die unsere Gesellschaft kaum Aufmerksamkeit übrighat. Hawkins verurteilt nicht, sie konstruiert ein folgerichtiges System des verletzten Hassens, in dem eine große indirekte Solidarität unter Frauen herrscht, die jede auf ihre Art gegen Misogynie kämpfen.

Ein Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite begeistert und verdient erneut zum Bestseller werden wird. Volle Punktzahl für ein mehr als spannendes Leseerlebnis, das das Jahr 2025 perfekt eröffnet und die Messlatte hoch setzt.

Bewertung vom 26.12.2024
American Mother
McCann, Colum;Foley, Diane

American Mother


gut

Ein vielleicht nicht lösbarer Konflikt

„American Mother“, von Colum McCann und Diane Foley, erschienen 2025 bei Rowohlt, beschäftigt sich mit der Entführung, Geiselhaft und Hinrichtung des Kriegsjournalisten James Wright Foley in Syrien 2012-2014 – und vor allem mit dem emotionalen Kollateralschaden, den diese Entführung bei seiner in den USA zurückbleibenden Familie und hier insbesondere seiner Mutter Diane, der Co-Autorin des Buches, anrichtet.

McCann hält sich schriftstellerisch weitestgehend zurück und versucht, so scheint es, vor allem Diane Foley eine Stimme zu geben für diese Geschichte, die deren Leben in den letzten 15 Jahren vollkommen bestimmt hat. Das ist einerseits ein sehr nobler Zug von McCann, andererseits hätte dem Buch mehr Außenperspektive und analytische Einordnung sehr gutgetan.
Der Fall erzeugte seinerzeit großes öffentliches Interesse aufgrund eines viral gehenden Videos, in dem die Enthauptung Foleys als tragisches Finale seiner Entführung und Geiselhaft live dokumentiert wurde. Die Familie erfuhr von diesem Video durch Journalisten mit Interviewanfragen – eine Situation, die ganz sicher niemand so erleben sollte.
In „American Mother“ folgen wir über knapp 270 Seiten dem Erleben, der Erinnerung und den Gedanken und Fragen von Diane, der Mutter von James, und ihrem Hadern mit dem Handeln oder besser Nicht-Handeln der amerikanischen Regierung. Sie stellt vehement die moralische Frage, wer für zivile Journalisten, die sich als Freelancer in Kriegsgebiete begeben, um von dort zu berichten, Verantwortung übernehmen sollte und inwiefern es Aufgabe des Staates ist, hier schützend eine Hand über diesen Personenkreis zu halten.
Ausgang und Endpunkt des Buches ist eine Begegnung von Diane mit Alexanda Kotey, einem der Entführer von James, in der sie einerseits versucht, mehr Erkenntnis über die Motive der Entführer und James Zeit in der Geiselhaft zu gewinnen, andererseits in sich danach sucht, ob sie einen Weg finden kann zu vergeben. Diane ist äußerst christlich geprägt und ihr Glauben ist für sie eine wichtige Richt- und Halteschnur im Leben. Diese starke Gläubigkeit hat mich im Verlauf des Buches schon an Grenzen meiner eigenen Toleranz geführt, in Momenten, in denen Diane beispielsweise die Frage, ob James beten konnte, vor die Frage, ob er genug Nahrung bekam, stellt, konnte ich nicht mehr folgen. Andererseits eine attraktive Ausgangsituation, dass sich hier letztlich zwei fanatisch gläubige Systeme gegenüberstehen, die nur unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Dass dieses Fakt nicht ein einziges Mal analysiert und reflektiert wird, ist für mich ein großes Manko des Buches.
Diane stellt heraus, wie sehr sie die Zeit, die James in der Geiselhaft verbringt und ebenso die Zeit danach, versucht, möglichst keine Gefühle zu zeigen und die Fassung zu bewahren. Mich hat das verwundert, was mag ihr so wichtig daran sein, woran liegt es, dass sie Emotionalität so verdammt? Gerne hätte ich mehr über Dianes Leben erfahren, um ihre Reaktionen und ihren starken Glauben besser einordnen zu können, doch leider erfahren die Leser:innen hier nur sehr wenig.
„American Mother“ heißt das Buch – und genau als solche zeigt sich Diane für mich auch: Politisch naiv – aber sehr schützend und kämpferisch. Ihr Patriotismus ist eher eine Begründung bei der Suche nach individueller Hilfe. Großen Respekt habe ich vor ihrer Lösungsstrategie: Sie gründet eine Stiftung, die sich seither aktiv für in Geiselhaft geratene Menschen im Ausland einsetzt und schon viel bewirkt hat. Davor kann man nur den imaginären Hut ziehen.
Dieses Buch final zu bewerten ist sehr schwierig, weil es einen mit vielen Fragen an die eigene Ethik und Moral konfrontiert und die Bewertung unter Umständen massiv abhängig ist von den eigenen Urteilen, die wir fällen. Eine schriftstellerische Bewertung erscheint mir dagegen kaum möglich, weil ich den Eindruck habe, der Autor verschwindet bis auf wenige Stellen weitestgehend im Hintergrund, er geht in Diane auf. Sie formuliert in der Danksagung, er wäre ein Freund geworden – für mich stellt das ein Problem dar, denn diese Haltung ist einem Sachbuch oder auch einer Biografie nicht dienlich. Dem Buch fehlen Fokus und Einordnung, es fehlt an Reflektion und Objektivität. Der zugrundeliegende Fall und die ethischen Fragen, die dieser aufwirft, sind sehr spannend. Aber insgesamt konnte mich das Buch leider nicht überzeugen. Es bleibt daher für mich bei 3 Sternen und der Empfehlung, sich zusätzlich unbedingt die Doku „Jim Foley – Die Realität des Terrors“ begleitend anzuschauen.

Bewertung vom 08.12.2024
Die Tochter der Drachenkrone
Qunaj, Sabrina

Die Tochter der Drachenkrone


ausgezeichnet

Perfekt geglückter Reihenauftakt mit Suchtfaktor

„Die Tochter der Drachenkrone“, von Sabrina Qunaj, erschienen 2024 im Aufbau Verlag, ist der packende Auftakt zu einer neuen Reihe über die kämpferischen Zeiten im Wales des 12./13. Jahrhunderts – und lässt mich jetzt schon dringlich auf Band zwei warten. Für alle Fans von Rebecca Gablé ein Muss, denn von der Qualität der Recherche, des Schreibstils und des Plots befinden wir uns hier absolut auf Augenhöhe.

Im Zentrum des Geschehens steht die junge Fürstentochter Gwenllian, die Tochter der Drachenkrone, die nach dem Tod ihres Vaters immer wieder um ihre Unabhängigkeit und ihre Heimat kämpfen muss und geworfen ist zwischen die Loyalität zu ihrem Heimatland und den Briten, ihrer Familie, die immer weiter in Lager zerbricht und ihrer Liebe und damit einer neuen Gruppierung von Menschen und Volk. Wir folgen ihr in diesem Band von ihrer Jugend bis über die erste Lebenshälfte hinaus – so dass wir ihr im zweiten Band sicher noch wiederbegegnen werden.

Qunaj schreibt einfach großartig, sie bannt die Lesenden von der ersten Seite an und webt in eine durchgebundene, spannende und immer wieder mit Wendungen versehene, intensive Handlung sehr geschickt eine Menge historische Informationen über diese Zeit in Wales ein, ohne dass dieses jemals aufträgt. Die Figuren sind lebendig und identifikationsfähig, die Zerrissenheit zwischen Pflicht und Neigung wird immer wieder in allen Figuren sehr deutlich. Wie sehr das Land in seine Einzelteile zerlegt wurde, was Besatzermacht mit Menschen macht, wie hart und durchweg kriegerisch geprägt diese Zeit war, und wie Kinder und Frauen als Mittel zur Macht genutzt wurden mit hoher Grausamkeit – all das macht Qunaj mehr als deutlich. Es ist ein entpsychologisiertes Zeitalter, was man auch daran festmachen kann, wie schwer es den Figuren fällt, über ihre Gefühle zu sprechen. Dass Qunaj das mit ins Zentrum ihres Romans stellt, ist für mich ein großer Verdienst, zu oft wird hier in historischen Romanen die Gefühlsskala des 21. Jahrhunderts angelegt, was wenig glaubwürdig ist – eine Falle, die Qunaj souverän umgeht und uns dennoch beim Lesen ständig das Herz aus dem Leib reißt.

Gwenllian ist eine starke Frauenfigur mit einer seherischen Gabe, die aber die Handlung nicht dominiert, so dass es in dem Sinne kein phantastisches Element gibt, es ist eher gute Wahrnehmung, die diese Figur auszeichnet, was sie auch zum Dreh- und Angelpunkt prädestiniert. Dass Qunaj ihrer Heldin dennoch auch Schwächen zuschreibt und Fehler, macht sie zugänglich und komplex, was auch für die weiteren Hauptfiguren zutrifft. Hier ist niemand nur schwarz oder weiß. Dabei wird vor allem auch beleuchtet, wie mit mehr Macht auch mehr Verantwortung einhergeht – und dass Verantwortung zu Kompromissen nötigt und zu Handlungen und Entscheidungen, die man gar nicht so treffen möchte – im Sinne des Gemeinwohls aber muss. Ein wichtiger Aspekt, der immer wieder herausgearbeitet und so deutlich selten in historischen Romanen sichtbar wird. Das Thema der Fremdheit und der Vereinzelung von Gruppierungen innerhalb einer Bevölkerung, das Formen von Lagern und der Kleinkrieg untereinander, der eine Nation schwächt – leider wieder sehr aktuell.

Der Roman ist als Reihenauftakt in sich abgeschlossen und ohne Cliffhanger geschrieben – was ich sehr begrüße, das macht das Warten auf den nächsten Band sehr vorfreudig aber ohne Zeitdruck. Ein wirklich von vorn bis hinten gelungener erster Band, den ich schnell verschlungen habe und der genau das richtige Buch für packende Lesestunden ist. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 29.11.2024
Der längste Schlaf
Raabe, Melanie

Der längste Schlaf


ausgezeichnet

Alles andere als verschlafen

„Der längste Schlaf“, der neue Roman von Melanie Raabe, erschienen 2024 bei btb, ist ein intensives und packendes Leseerlebnis, ein Buch, das man kaum aus der Hand legen mag und das einem deshalb, entgegen zum Titel, komplett den Schlaf raubt.

Mara lebt in London und hat ein Problem: Schon seit ihrer Kindheit neigt sie zu intensiven und prophetischen Träumen. Träume, die sich vor allem um ein Thema ranken: Sie sieht den Tod von Menschen voraus. Dabei hat sie nie erlebt, dass sie in das Geschehen eingreifen könnte – und so sah sie sogar den Tod ihrer Eltern voraus, ohne ihn verhindern zu können. Inzwischen erwachsen leidet Mara unter massiver Schlaflosigkeit – was insofern ironisch ist, als dass sie beruflich über Schlaf forscht und niemand mehr über Schlaf weiß, als sie selbst. Inmitten einer neuen Phase verwirrender, kaum zu greifender Träume erreicht sie eine E-Mail aus Deutschland: Eine ihr nicht bekannte Person, Richard Conrad Hallberg, vermacht ihr als Erbe ein Herrenhaus in Limmerfeldt. Nach ihrem ersten Impuls, das Erbe abzulehnen, ist Mara, die gebürtig aus Deutschland stammt, dann doch zu neugierig und reist zurück in das Land ihrer Kindheit – wo eine ganz andere Reise beginnt, die ihr Leben komplett auf den Kopf stellt...

Raabe schreibt von Anfang an dicht und atmosphärisch, die Charaktere sind greifbar und nahbar, eine zunächst subtile und dann immer stärker werdende Spannung zieht sich durch die Handlung, die sich in zwei verschiedene, auch durch die Schriftart abgesetzte, Handlungsstränge teilt: die Geschichte um Mara und die Geschichte um ein Geschwisterpaar, Kai und Lucy. Quantenphysik und paranormale Phänomene spielen eine zunehmend große Rolle – keine Sorge, Wissenschaft ist nicht vonnöten. Immer atemloser wird das Geschehen und immer näher rücken einem beim Lesen die Figuren, das Buch ist sinnlich und alles andere als papieren, Limmerfeldt saugt einen ein und man wird irgendwie Teil dieser kleinen Ansammlung von Häusern und Menschen. Der Schlaf, die Träume, die Erinnerung, das Leben, der Tod, das Dazwischen – all das Felder, die wohl jeden Menschen beschäftigen und die in diesem besonderen Roman ihre Wirkung entfalten dürfen. Dass wir uns dieser Welt und den Menschen mehr öffnen dürfen und daran reich werden können, ist eine leise Botschaft dieser irgendwie magischen Geschichte, die es schafft, am Ende alle Kreise perfekt zu schließen und dennoch Zukunft offen zu lassen. Ein Buch wie gemacht für eine lange schlaflose Nacht – oder einfach für ein ganz langes genüssliches Lesen. Es hinterlässt etwas Wehmut und Schmerz – aber auch ganz viel Liebe und Herrlichkeit.
Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 26.11.2024
Das perfekte Grau
Jamal, Salih

Das perfekte Grau


sehr gut

Ohne zuerst bei sich selbst anzukommen, entdeckt man keine neue Welt

„Das perfekte Grau“, von Salih Jamal, erschienen 2024 bei btb, ist ein verblüffender Boat-Trip mit vielen soziologischen und philosophischen Einschüben, der durchaus als „Tschick für Erwachsene“ durchgehen kann. Salih Jamal gelingt über knapp 240 Seiten das Kunststück, weitestgehend die Waage zwischen Handlung und Gesellschaftsanalyse zu halten – und das mit einer mehrheitlich wirklich großartigen und besonderen Sprache.

Vier Outcasts des Lebens, Dante, Mimi, Novelle und Rofu, treffen jobbend in einem Hotel aufeinander. Jede dieser Personen für sich ist so eigen und sperrig, aber irgendwie gehen sie einem auch sofort ans Herz. Schräge, verschlossene Menschen, die offenkundig eine Geschichte mit sich herumtragen, die tiefe Wunden geschlagen hat. Nachdem es zu einem Zwischenfall kommt, machen die vier sich als Zweckgemeinschaft auf den Weg, egal wohin, vor allem weg. Als Fluchtfahrtzeug dient ihnen ein geklautes Boot und je weiter die Reise geht, desto mehr verschränken sich ihre Gedanken, Seelen und ihr Reiseziel. Erzählt aus der Ich-Perspektive von Dante erleben wir von Anfang an eine morbide Stimmung, die sich natürlich immer mehr als das Innen der Figuren erklärt. Gepaart ist diese Stimmung aber mit sehr viel Humor. Einfach ein gelungener Mix.

Während der lesende Mensch dem bunten Quartett auf seiner Reise folgt, beglückt der Autor mit vielen sehr wahren Gedanken über das Leben und die Schwierigkeiten, die dieses mit sich bringt. Ich fand viele gesellschaftlich-philosophische Ansätze, die ich teile oder die noch einmal etwas zusammenfassen, was ich ähnlich sehe, aber noch nie so gebündelt gelesen habe. Beeindruckend genau hingeschaut. Manchmal waren es mir allerdings fast zu viel Gedanken, es ist ein bisschen so, als würde wirklich jeder Handlungsmoment für eine soziologische oder philosophische Ausweitung genutzt. Ähnlich verhält es sich mit der literarischen Qualität, auch hier übertreibt der Autor manchmal und benutzt dann fast in jedem Satz noch ein Sprachbild, noch eine Analogie, noch eine Ladung Adjektive – so dass die Sprache manchmal ins schwülstige abrutscht. Da drängte sich mir der Vergleich zu Hermann Hesse auf – was einerseits unbedingt die besondere Qualität betonen soll, andererseits aber auch die Ausschweifung beinhaltet.

Problematisch im Buch sind leider auch misogyne Äußerungen, Bodyshaming, unmotivierte Gewalt. All das ist Teil der Realität und ergibt auch Sinn, da wir aus einer bestimmten Perspektive auf das Geschehen schauen. Es hätte mich aber gefreut, wenn eine andere Figur dieser Perspektive etwas entgegengesetzt hätte. Zumal der Autor an anderer Stelle verblüffend sensibel ist, ich habe glaube ich noch nie eine durch eine männlich gelesene Person geschriebene, so gute Beschreibung der Bedrohung und Gewalt gelesen, der weiblich gelesene Menschen in unserer Welt von Kind auf ausgesetzt sind.

Nach einer umfassenden Reise durch das Innen und Außen findet das Buch neben Freundschaft auch ein sehr ungewöhnliches und für mich genau passendes Ende. Es geht viel und in vielen Facetten um Identität in diesem Roman. Die Reise zu dieser ist immer auch eine Lebensreise. Ohne zuerst bei sich selbst anzukommen, entdeckt man keine neue Welt, so wird es an einer Stelle auf der Reise des Quartetts gesagt. Salih Jamal hat viel Welt in sein perfektes Grau geladen, viele wunderschöne Farben, die sich dort drin verbergen und entdeckt werden können. Ein ziemlich gutes Buch, das sich zu lesen lohnt! Vor allem sprachlich und soziologisch-philosophisch über weite Strecken beeindruckend mit wenigen Ausreißern.

Bewertung vom 17.11.2024
When Women were Dragons - Unterdrückt. Entfesselt. Wiedergeboren: Eine feurige, feministische Fabel für Fans von Die Unbändigen
Barnhill, Kelly

When Women were Dragons - Unterdrückt. Entfesselt. Wiedergeboren: Eine feurige, feministische Fabel für Fans von Die Unbändigen


gut

Und wenn wir doch einfach losfliegen würden?

„When Women Were Dragons“, der neue Roman von Kelly Barnhill, auf Deutsch erschienen 2024 bei Cross Cult, bringt uns dem Matriarchat einen kleinen Schritt näher und zeigt dabei in einer nur scheinbar phantastischen Geschichte, in was für einer Fesselung weiblich gelesene Menschen in der heutigen Welt jeden Tag nach wie vor stecken.

Alex Green wächst als junges Mädchen in einem eindeutig patriarchalen System auf, in der ihre Zukunft klar vorgezeichnet ist: Heiraten, Kinder bekommen, einem Mann zur Seite stehen. Dass sie die Schule besuchen darf – eigentlich unnötig, dass sie naturwissenschaftlich hochbegabt ist – geschenkt. Viel zu früh in ihrem Leben erkrankt ihre Mutter an Krebs und wird durch ihre Tante Marla ersetzt. Doch als es 1955 zum Großen Drachenwandelns kommt und xxx Drachinnen in den Himmel steigen, verschwindet auch Tante Marla – zurück bleibt deren kleine Tochter Beatrice, die zu Alex Schwester wird. Über die Drachinnen wird zuhause geschwiegen. Die gesamte Gesellschaft versucht, das Ereignis zu ignorieren – auch als immer wieder und immer mehr Drachenwandlungen auftreten, während Alex immer mehr Verantwortung für Beatrice übernehmen muss und zeitgleich um ihren Platz in der akademischen Welt kämpft.

When Women Were Dragons ist ein eindringliches Buch über das Potenzial des Matriarchats, über die Frage, was mit der Welt wohl passieren würde, wäre sie nicht männlich, sondern weiblich regiert – und, da bin ich mit der Autorin einig: Die Welt wäre eindeutig ein besserer Ort. Klug zeigt Barnhill auf, an wie vielen Punkten weiblich gelesene Menschen von außen wie von innen überreglementiert und unterdrückt werden – und dass nur die Wut uns befreien kann. Wenn wir sie denn zulassen.

Das Buch erzählt lebendig und emotional, es schafft eine komplexe und doch zeitlich sehr nahe phantastische Welt. Durch eine zweite wissenschaftliche Ebene, das eingebundene Werk „Eine kurze Geschichte der Drachinnen“, können charmant zusätzliche analytische Informationen eingestreut werden. Der Kampf der Frauen um ihre Freiheit und Schwierigkeiten, sich für diese und die Konsequenzen zu entscheiden wird durch die Wandlung sehr deutlich. Barnhill stellt viele kluge Fragen über unsere Zeit, ohne dabei belehrend zu sein.

Leider ging es mir jedoch so, dass insgesamt viel zu weitschweifig erzählt wird und das Buch für seine knapp 500 Seiten mit zu wenig Handlung aufwartet. Es verfängt sich in redundanten Gedankenkreisen und kommt vor allem im ersten Drittel eigentlich gar nicht in den Gang. Was sehr schade ist, da ich die Grundidee wirklich hervorragend finde und viele Gedanken sehr teilen konnte – dennoch musste ich immer wieder pausieren, weil einfach kein richtiger Lesesog aufkam. Ich hätte mir auch gewünscht, dass das Thema weibliche Wut genauer herausgearbeitet wird, insgesamt blieb mir das Buch zu allgemein und dadurch etwas harmlos. An einer Stelle im Buch wird gesagt: „Sie müssen die Kleine im Auge behalten, sonst wachsen ihr eines Tages noch Flügel und sie fliegt davon.“ Dieses starke Bild für patriarchale Unterdrückung hätte ich gern mit mehr Details im ganzen Buch erlebt, genauso wie ich gerne mehr darüber erfahren hätte, wie die Drachinnen nach ihrer Wandlung leben, was genau für sie Freiheit ausmacht. Und auch die im Buch eingeführte Knotenmagie wird leider nie entziffert – was für mich auch ein großes Manko ist.

Ein starker Ansatz also, der sich leider in sich wiederholenden Endlosschleifen verheddert, ohne in die Tiefe zu gehen. Ich hatte mir mehr von diesem Buch erwartet, mehr Mut, mehr Radikalität. Das Patriarchat wird nicht mit sanften Worten aufgehoben werden, im Gegenteil, es ist gerade wieder im Aufwind. Wenn wir dem etwas entgegensetzen wollen, müssen unsere Drachinnen Feuer speien, nicht nur Kerzen anzünden.

Bewertung vom 08.11.2024
Frevel
Kain, Nora

Frevel


ausgezeichnet

Spannung pur und starke Figuren im historischen Frankfurt

„Frevel“, ein historischer Thriller, erschienen 2024 bei dtv und geschrieben von Nora Kain, laut Verlag ein Pseudonym für eine deutsche Bestsellerautorin, wartet auf jeden Fall mit Bestsellerqualitäten auf und ist ein hervorragender – ich würde eher sagen Historienkrimi, der mit Atmosphäre, großartig gestalteten Figuren, einer spannenden Story mit so einigen Plottwists und genau der richtigen Dosis Zeitkolorit besticht und bestens unterhält.

Situiert in Frankfurt am Main im Jahr 1800 geschehen in kurzer Abfolge mehrere bestialische Morde und die Spur von Zeitungsredakteur Johann und, eine tolle feministische Figur, Rechtsmedizinertochter Manon führt immer mehr in eine Richtung, die nach allen Gesetzen der Logik einfach nicht sein kann. Und bei ihren Nachforschungen geraten die beiden immer mehr selbst in Gefahr.

Kain schreibt flüssig und schwungvoll, mit einem guten Maß an Humor und einer immer guten Spannungskurve, die einen beim Lesen nie loslässt. Ich liebe den Eröffnungssatz des Buches: „Ich darf mich nicht übergeben, dachte Johann verzweifelt.“ Der setzt schon gut den Ton und zeigt etwas, was den Thriller sehr ausmacht: Die Hauptfiguren haben charmante Schwächen. Johann hat seinen Magen einfach nicht im Griff und Manon ihre Zunge genauso wenig. Das führt immer wieder zu herrlichen Situationen inmitten des aufregenden Geschehens um die Morde. Souverän bindet die Autorin in dieses auch Themen aus der Zeit ein, den Judenhass, den großen Aberglauben, der herrschte und absurde Blüten trieb, die Rolle der Frau, die Grausamkeit in Gefängnissen, um nur einiges zu nennen. Das geschieht ganz selbstverständlich, ohne dass Kain ihren Handlungspfad dafür verlassen muss. Und auch Frankfurt wird wunderbar beschrieben und mit kleinen historischen Informationen und Anekdoten lebendig gemacht.

Besonders gut aber hat mir gefallen, dass es immer wieder für mich unvorhersehbare Wendungen gab, die aber plausibel waren und wirklich herzuleiten aus dem Geschehen. Das macht für mich einen guten Thriller aus. Dieser war für mich deshalb eher ein Krimi, weil es doch sehr klar um den Kriminalfall geht und auch wenn das Tempo hoch war, ist es doch nicht atemlos, die Spannung ist wirklich gut gearbeitet, lässt einem aber immer Zeit zum Denken und Fühlen. Darum stimmt das Genre für mich nicht ganz – was aber nichts an einer Top-Bewertung und absoluten Leseempfehlung ändert. Ein auf allen Ebenen gelungenes Buch! Ganz großer Pluspunkt noch, dass die Autorin am Ende nicht auf der Erfüllung einer sich anbahnenden Romanze besteht, sondern die starke Manon, die ein so großartiger Charakter ist, in die Freiheit führt und ihr somit ihre Stärke wirklich lässt. Das habe ich so lange nicht gelesen und das hat mich wirklich begeistert. Also schnell einen Tee kochen und das Buch dann an kalten Abenden ganz wunderbar in einem Rutsch verknuspern.

Bewertung vom 03.11.2024
Nach uns der Himmel
Buchholz, Simone

Nach uns der Himmel


ausgezeichnet

Ein Buch mit Flügeln

„Nach uns der Himmel“, der neue Roman von Simone Buchholz, erschienen 2024 bei Suhrkamp Nova, übertrifft alle eh schon hoch gesteckten Erwartungen.

Zunächst mal ein Lob für das großartige Buchdesign des Designbüro Lübbeke Nauman Thoben: Modern, klar, von außen bis innen komplett durchdacht und einfach richtig schön – ein graphischer Hingucker, dem ich gern einen Preis verleihen würde, so geht Cover- und Innencoverdesign 2024. Top!

Viel kann über den Inhalt nicht verraten werden, ohne zu spoilern – was immer ein gutes Zeichen ist. Acht Menschen, Claudius, Elisabeth, Benedikt, Annike, Marc, Sara, Vincent und Heidi, landen nach einem turbulenten Flug auf einer griechischen Insel und beginnen ihren Urlaub. Doch die Insel verhält sich merkwürdig, am Himmel erscheint ein schwarzes Loch und das große Vergessen greift immer weiter um sich. Parallel sitzen in einem Büro in Los Angeles die Inspektorin und der Mitarbeiter und verhandeln seinen Case. Als sie das Bürogebäude zum ersten Mal seit langem verlassen, ist klar, dass hier ein Fall von großer Tragweite entstanden ist. Die Dinge müssen korrigiert werden, wenn das System nicht crashen soll.

Als großer Fan der Chastity Riley-Serie hatte ich High Hopes auf diesen neuen Roman und ich wurde nicht enttäuscht, sondern über die Maße begeistert. Buchholz schreibt hier ein unglaubliches Meisterstück, das lange Rätsel aufgibt, dabei aber viele Spuren legt, bis sich der Plot zunehmend entschlüsselt. Dabei ist die Sprache durchweg gewitzt und voller Herrlichkeit, die Charaktere sind genial gezeichnet, das ganze Setting wunderbar beschrieben, die mythologischen Bezüge clever und erheiternd für Kenner:innen, der ganze Roman eine brillante Gesellschaftskritik unserer Zeit, der „Dreifaltigkeit des Bösen: Religion, Patriarchat, Kapitalismus.“ Wofür leben wir? Was ist der Daseins-Sinn? Warum verlieren wir uns so in Alltag und falschen Zielen? Buchholz lässt einen beim Lesen das Leben einatmen und aufsaugen, sie zeichnet ein klares Bild unserer Endlichkeit und lässt humorvoll im Geist ganz viele Fragen entstehen. Am Ende geht man mit neuem Blick auf den Horizont aus diesem Buch hervor – und mit einem sanften Lächeln und weniger Angst.

Ich konnte das Buch keine Sekunde aus den Händen legen, ich musste es in einem Rutsch durchlesen (was auch gut gelingt, denn es ist extrem kurzweilig). Dieses Buch trägt Flügel an seinen Seiten – und ein bisschen etwas davon kann die lesende Person mitnehmen in den Alltag. Es ist wie ein Blick auf das Meer, das auf ihm abgebildet ist, glitzernd, ruhig, aber doch immer in Bewegung, voller Verheißung, ein warmer Sommertag, keine Pflichten, nur Atmen.

Ein großartiger Wurf, vielleicht das Beste, was ich von Simone Buchholz gelesen habe. Unbedingt kaufen, lesen, darin versinken und sich ein paar Flügel abholen.

Bewertung vom 31.10.2024
Parts Per Million
Hannig, Theresa

Parts Per Million


weniger gut

Ihr seid Millionäre. Wir sind Millionen.

„Parts Per Million“, der neue Roman von Theresa Hannig, erschienen 2024 bei TOR/S. Fischer, beschäftigt sich mit einem brennenden Thema, der (notwendigen?) Radikalisierung der Klimabewegung, die seit Jahren auf der Stelle tritt, weil Lobby und Politik ihrer Stimme nicht zuhören.

Im Zentrum des Romans steht Johanna, eine Autorin auf der Suche nach einem neuen Stoff, die auf die Klimabewegung aufmerksam wird und im Rahmen ihrer Recherche von der Beobachterin zur Mitstreiterin wird, die am Ende entscheidend für die Radikalisierung der Bewegung ist und miterleben muss, wie sie selbst sich immer weiter verändert – und die Bewegung mit ihr bis zur Eskalation.

Hannig hat eine enorme Recherchearbeit geleistet und bereitet die gefundenen Informationen meist sinnvoll auf – gerade im ersten Teil noch etwas trocken, später besser in die Handlung integriert. Ihre Nahe-Zukunft-Prognose ist erschreckend realistisch und brutal – hier muss sich niemand vormachen, dass es sich um Fiktion handelt. Über jedem Kapitel finden sich reale Klimameldungen unserer Zeit und auch die politische Entwicklung in Deutschland ist leider nur konsequent gedacht. Und auch die Protestbewegung stellt Hannig wirklich gut dar. Hier könnte also ein Knallerroman entstanden sein – wäre da nicht die Hauptfigur Johanna und ihre Entwicklung, die ich leider von vorn bis hinten unglaubwürdig fand. Innerhalb von kürzester Zeit durchläuft sich eine Blitzentwicklung von der das Klimathema weitestgehend ignorierenden Person zum Kopf der Aktivist:innenszene, die sich radikalisiert und zur Klimaterroristin wird. Dabei verhält sie sich immer wieder maximal pubertär und entwickelt am Ende auch noch einen Kink auf Gewalt – ich persönlich konnte diese Figur leider zu keinem Zeitpunkt ernst nehmen, ebenso wie ich auch mit so einigen Zufällen in dem Roman oder wirklich aberwitzigen Konstruktionen (klauen wir doch mal eben drei scharfe Fliegerbomben aus dem Rhein) überhaupt nicht mitgehen konnte. Schade auf, dass viele anentwickelte Themen sich im Nichts verlieren, die Familie von Johanna verschwindet ab der Mitte des Romans letztlich und auch ein Mensch, zu dem sie sich am Anfang des Romans extrem hingezogen fühlt, ist auf einmal doch nicht mehr relevant. Und auch das Ende hat mich eher verstimmt, da ich auch hier das Handeln einer Figur nicht glaubhaft finden, denn es ist nach der ganzen Geschichte nicht vorstellbar, dass diese wirklich denkt, mit ihrem Tun ihr Ziel zu erreichen. Ihr seid Millionäre. Wir sind Millionen. So sehen es die Parts Per Million und so wichtig und wahr ist dieser Satz. Ich befürchte nur, mit diesem Buch wird er nicht dazu führen, dass Menschen ihn Realität werden lassen.

Und so kann ich leider nicht mehr als 2 Sterne vergeben, was ich wirklich schade finde, aber Johanna blieb für mich durchweg ein Konstrukt. Für die dargestellten Informationen würde ich gerne 5 geben, aber die Handlung und vor allem die Figuren hat mich zu keinem Zeitpunkt gecatched. Vielleicht klappt das besser bei Menschen, die nicht feministisch und nicht vorgebildet im Bereich Klima sind. Für die Fakten ist es allemal ein lesenswertes Buch.