Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Betty Literatur

Bewertungen

Insgesamt 66 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2024
Der Flakon
Pleschinski, Hans

Der Flakon


sehr gut

Im Jahr 1765 überfällt die Preußische Armee Sachsen.
Der Premierminister Heinrich Reichsgraf von Brühl ist für die militärische Schwäche der Sachsen verantwortlich
Viele Sachsen fliehen, nach der Kapitulation auch der Kurfürst von Sachsen mit seinem Premierminister Brühl.
Friedrich August ist auch König von Polen und setzt sich mit Brühl nach Warschau ab. Die Frauen bleiben in Dresden.
Die Beschreibung des grauenvoller Belagerungszustands macht die Überlegenheit der preußischen Armee deutlich.
Detailreich und äußerst unterhaltsam wird das Leben bei Hof beschrieben, als wolle man mühsam den letzten Rest an Tradition bewahren.
Von der Marwitz, ein Adjutant Friedrichs begegnet der Gräfin Brühl und ihrer Hofdame im Schloss und die Gräfin entwickelt den Plan, Rache zu nehmen an dem Überfall Friedrichs des Großen auf ihr Land.
Sie erfährt durch von der Marwitz, dass Gellert und Godsched, die beiden großen Dichter, zu Friedrich vorgelassen werden sollen, er will sich der deutschen Literatur widmen.
Gemeinsam machen sie sich auf den Weg nach Leipzig, im Gepäck der Reichsgräfin 1 Flakon mit Gift, getragen von der Hoffnung, dass es durch jemanden, der zu einer Audienz vorgelassen wird, verabreicht werden kann. „Hier reisten Intrige, Verschwörung, Tod und Befreiung“.
Auf der spannende Kutschfahrt von Dresden nach Leipzig lernen die Reisenden sich besser kennen, aber sie begegnen auch den Grausamkeiten des Krieges, Verwüstung und Plünderung.
Die ungewöhnliche Charaktere führen humorvolle Dialoge, die Atmosphäre wird sehr fein und unterhaltsam aufgefangen. Immer wieder lassen ironische Nebenbemerkungen den Leser/die Leserin schmunzeln. Die historischen Details sind äußerst spannend und informativ. Bisweilen kommen Erinnerungen an Kehlmanns „Vermessung der Welt“ auf.
Ein sehr unterhaltsamer Roman mit einem anderen Blick auf die Geschichte und die Macht der Frauen, eine mögliche neue Interpretation des versuchten Attentats auf Friedrich den Großen.
Ich kann es sehr empfehlen.

Bewertung vom 04.02.2024
Das leise Platzen unserer Träume
Lohmann, Eva

Das leise Platzen unserer Träume


ausgezeichnet

Eva Lohmann erzählt in ihrem sehr authentischen, einfühlsamen Roman von den geplatzten Träumen einer Frau und ihrem ungewöhnlichen Neuanfang.
Jule und David, ein Ehepaar, erfüllen sich einen Traum. Sie ziehen von der Stadt aufs Land, kaufen ein Haus und beide träumen davon, dass in dem Garten bald Kinder spielen werden. David arbeitet weiter in der Stadt und er hat eine Geliebte, Hellen. Jule merkt recht schnell, dass etwas in ihrer Beziehung nicht mehr stimmt. „Wie waren sie in diese merkwürdige Starre gekommen, in diese Sprachlosigkeit, dieses Vermeiden und Wegschweigen, wann war das passiert?“ Sie braucht jedoch lange, bis sie die Wahrheit an sich heranlässt und handeln kann.
Auch als sie den Betrug ihres Mannes entdeckt. „Jule hatte einfach weiter gemacht, als wäre da nicht diese eine Sache zwischen ihnen, und genau das schien ja nun David schon seit einer Weile zu tun.“

In dem Roman kommen Jule und Hellen abwechselnd zu Wort, Hellen wendet sich in der Ich-Perspektive direkt an die Ehefrau und sie macht klar, dass sie die Geliebte bleiben will und keine ernsthafte Beziehung mit David plant. Helen hat bereits eine Ehe hinter sich und ist Alleinerziehend mit 2 kleinen Kindern. Sie hat sich und ihr Leben mühsam arrangiert und will keine feste Beziehung mehr mit einem Mann.

Die Begegnung der beiden Frauen führt Stück für Stück zu einer engen Verbindung zwischen ihnen.
Jule beginnt zu verstehen und kann loslassen von ihren Träumen einer heilen Welt.
Und sie schafft Platz für neue Träume.

Männer sind in diesem Roman hilflose Nebenfiguren, die anscheinend ohne eine Frau an ihrer Seite nicht klarkommen.
Davids Rolle ist die eines Statisten. Ebenso die des Nachbarn Olaf, der von seiner Frau verlassen wird. „Alte Frau weg, neue Frau da. Nur wenige Wochen waren vergangen.“
Die Frauen handeln und treffen ihre Entscheidungen.
Endlich. Es ist möglich, eine Frau nicht als Dauergefährtin eines Mannes zu definieren, die ohne ihn nicht existent ist, ihr Leben nach ihm ausrichtet, sondern als eigenständige Person, die über ihr Leben selber bestimmt.

Diese ungewöhnliche Geschichte zeigt die Freundschaft und den Zusammenhalt zwischen Frauen, aber auch das Bedürfnis nach Autonomie von Frauen.
Ich habe das Buch sehr gemocht und einige schöne Déjà-Vu-Momente erlebt.

Bewertung vom 01.02.2024
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


ausgezeichnet

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
„The wounded child inside many females is a girl who was taught from early childhood that she must become something other than herself, deny her true feelings, in order to attract and please others.”
Bell Hooks

In ihrem Debütroman setzt sich Sina Scherzant mit der Überanpassungsfähigkeit von Frauen, dem „People-Pleaser“-Phänomen auseinander.
Die Ich- Erzählerin Katha erzählt aus dem Blickwinkel einer Teenagerin, später dem einer erwachsenen Frau, sehr intensiv und genau beobachtend über wichtige Phasen ihres Lebens. Sie bezeichnet sich selber als „Lebenshandwerkerin“, die sich vor allem nach der Trennung ihrer Eltern aufopferungsvoll sowohl um ihre jüngere Schwester als auch um ihre Mutter kümmert. Auch während ihrer ersten Kontaktaufnahme mit einem Jungen ist nicht in der Lage, ihr Wünsche zu äußern, passt sich den Bedürfnissen des anderen an. „Und so saß ich da und tat, was von mir erwartet wurde, als Filip seine nach Knoblauch und Kippen schmeckenden Lippen auf meine drückte.“

Als sie die Mutter einer Klassenkameradin kennenlernt, beginnt sie, ihre Rolle zu beobachten und zu hinterfragen.
Angelica ist so ganz anders als die Erwachsenen, mit denen Katha in ihrer Familie zu tun hat, sie ist offen, selbstbewusst und stark. Die Nachmittage bei Angelica, die intensiven Gespräche, das Gefühl wahrgenommen und gesehen zu werden, lösen bei Katha starke Gefühle aus. In den Gesprächen mit Angelica lernt sie viel über sich und sie lernt, sich zu wehren, ihre Meinung zu vertreten, aufzubegehren, raus aus der Anpassung zu gelangen.

Der Verlust dieser wunderbaren Frau, die eine Stütze und auch ein Vorbild für den Kreis der Freundinnen ist, ist für Katha nicht zu ertragen.

Traurig und humorvoll beschreibt die Autorin die grauenhaften Besuche bei den Großeltern der Mutter, die „Arschgeigennachmittage“ (Was sich gehört und was sich nicht gehört.), ihren „Migrationsneid“ auf die Freundinnen, die in den Ferien zu Verwandten in andere Länder reisen, ihre große Liebe und Verantwortung für ihre Schwester, ihre Verachtung für ihre Mutter, die sich verliert. Wenn sie den Alltag nicht mehr erträgt, flüchtet sie in Phantasiewelten.
Sprachlich virtuos, in beeindruckenden Metaphern“ werden wir mitgenommen in die Welt dieser jungen Frau, die in „Stülprozessen“ immer wieder versucht, ihr Inneres zu verdrängen. Ihre atemlosen Gedanken spiegeln sich in atemlosen Sätzen wider.
Die tiefe Liebe zwischen Menschen erfährt eine starke Symbolik.
Ein geniales Buch, zutiefst berührend, unbedingt lesenswert.

Bewertung vom 26.01.2024
Frauen! Leben! Freiheit!
Mohammadi, Narges

Frauen! Leben! Freiheit!


ausgezeichnet

„Wir wurden im Namen Gottes gefoltert“ (Natali Amiri in ihrem Vorwort)

Narges Mohammadi, Menschenrechtsaktivistin, kämpft seit 44 Jahren gegen das Regime der islamischen Republik, im Jahr 2023 wird sie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Narges, selbst immer wieder Gefangene, veröffentlicht in ihrem im August 2023 erschienenen Buch 13 Interviews mit inhaftierten Frauen in iranischen Gefängnissen. Die islamischen Frauen kämpfen für ihre Rechte und nehmen in Kauf, inhaftiert zu werden, in Einzelhaft.
Die Interviews wurden im berüchtigtes Teheraner Evin-Gefängnis geführt.
Die Liste der Grausamkeiten, denen diese Frauen ausgesetzt sind, ist groß, die größten körperlichen und seelischen Schäden werden jedoch durch die Einzelhaft, auch „weiße Folter“, genannt, verursacht. „Bei der weißen Folter werden Menschen für lange Zeiträume alle Sinnesreize entzogen.“
Die künstliche Beleuchtung führt dazu, dass die Frauen kein Tag- und Nachtempfinden haben. Die Einzelhaft verursacht Angstzustände, sensorische Deprivation und weitere, nicht wieder zu korrigierende Schäden.
Die Frauen berichten, wie ihnen ihre Würde und ihre Kraft systematisch genommen wurde. Inhaftierung ohne Prozess, Peitschenhiebe, seelische Folter bei Vernehmungen, das Verbinden der Augen zum Toilettengang, Überwachung bei der Körperpflege, ungesundes Essen, fehlende Gesundheitsfürsorge, sexuelle Belästigung sind Menschenrechtsverletzungen, die diese Freuen ertragen mussten.
Die Familien der Frauen werden unter Druck gesetzt, Familienmitglieder verhaftet, die Wohnungen der Familien durchsucht.
Die Trennung von den Kindern ist für die Frauen kaum zu ertragen, ebenso der fehlende Kontakt zur Familie.
Viele Frauen finden Halt und Überlebenswillen durch ihren Glauben und ihre Gebete.
„Das Auseinanderfallen von Zeit, Gesellschaft und normalem Leben, dieses Erkennen, an einen unerreichbaren Ort gebracht worden zu sein, das ist die Definition von Einzelhaft.“
(Mahvash Shahriari, Angehörige der Bahai)

Dieses Buch ist ein erschütterndes Dokument eines grausamen Unrechtssystems, das Frauen jedes Recht auf eine eigene Meinung oder Existenz abspricht.

Übersetzt von: Monireh Kazemi, Manijeh Erfani-Far, Niloofar Beyzaie, Parastou Forouhar, Niloufar Rahi, Maliheh Sharifzadeh, Mahwash Sallehy, Golnaz Gabrae, Soheila Abtehi, Hellen Nahid Nosrat, Fahimeh Farsaie, Aghdas Shabani, Mihan Rusta, Golrokh Jahangiri, Ferdos Mirabadi, Anja Schünemann

Bewertung vom 24.01.2024
Ich hätte da ein paar Fragen an Sie
Makkai, Rebecca

Ich hätte da ein paar Fragen an Sie


sehr gut

Die Amerikanerin Rebecca Makkai hat ihren 4. Roman veröffentlicht, der in Deutschland im September 2023 erschienen ist und begibt sich mit ihrem High-School-Roman mitten in die MeeToo-Debatte und die unterschiedlichen Dimensionen sexueller Belästigung.
Die Ich-Erzählerin „Bodie“ besucht ihre ehemalige High-School und erinnert sich an den Todesfall einer Mitschülerin, Thalia, der sich vor 20 Jahren nach einer Theateraufführung ereignet hat.
Beschuldigt und verurteilt wurde ein farbiger Sporttrainer der Schule.
Bodie betreibt einen Podcast über ungeklärte Mordfälle und unterrichtet nun an ihrer ehemaligen High-School Schüler*innen, die selber Podcasts zur Geschichte der Schule erstellen.
Britt und Alder, nehmen den Fall der getöteten Mitschülerin wieder auf und die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verurteilung des Täters wachsen immer mehr.
Es gelingt, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken.

Die Ich-Erzählerin spricht in ihren Erinnerungen, die durch die Ereignisse und ihre eigen Recherchen wachgerüttelt werden, mit „Mr Bloch“, dem Musiklehrer. Sie erinnert sich, dass er eine enge Beziehung zu Thalia hatte und fragt sich, welche Schuld ihn trifft.
Bodie hat als Teenagerin keine angenehme Zeit an-der High-School erlebt, in der Begegnung mit den ehemaligen Mitschüler*innen im Laufe des Verfahrens wird ihr jedoch deutlich, dass viele von ihnen eine Geschichte mitbringen und merkwürdige Verwicklungen in dem Fall aufweisen.
Der Roman ist mit seinen 560 Seiten an einigen Stellen recht langatmig, nimmt aber zum Ende hin deutlich an Fahrt auf und gewinnt an Spannung.
Männer und Jungen, die sich schuldig machen im Umgang mit Mädchen und Frauen, Wut, Rache und der Wunsch nach Gerechtigkeit sind jedoch so wichtige und zentrale Themen, dass man die kleinen Exkurse in die Campus-Welt gern verzeiht.

Bewertung vom 29.12.2023
Wenndann (#Wert!)
Söht, Heike

Wenndann (#Wert!)


ausgezeichnet

wenndann(#Wert!)

Auch der 2. Teil der Romantrilogie von Heike Söht hat mich in seinen Bann gezogen.
Kalea, die „Vernunftsfrau“, leidet darunter, dass sie so früh ihre eigene Mutter verloren hat, ist nun selber schwanger und hat schwerwiegende Entscheidungen zu treffen.
Sie ist weiterhin hin- und hergerissen zwischen Mark und Tim, diesen beiden wunderbaren Männern an ihrer Seite.
Trotz ihrer starken Gefühle, versucht sie, klug und vernünftig zu handeln und sorgt für viel Stress in ihrem Inneren und auch dem der beiden Männer.
Am Ende könnte man denken, „nun ist alles gut“, aber dann könnten wir uns nicht auf den dritten Teil freuen.
Kales ist und bleibt eine sympathische Protagonistin, die auch hier, wie bereits in Band 1, im Dialog mit ihrer inneren Stimme viel Humor zeigt. Sie entwickelt sich, bekämpft ihre Ängste, übernimmt Verantwortung und lernt, ihre Gefühle zuzulassen.

Der Wechsel der Erzählperspektiven, Kalea als Ich-Erzählerin, die Perspektive der beiden Männer in personaler Erzählform, lässt lief ins Innere aller beteiligter Personen blicken.

Die Autorin schafft es, Erotik und Sinnlichkeit, Liebe und Begehren sprachlich so perfekt zu verpacken, dass es weder kitschig noch übertrieben sexualisiert ist.

Sehr intensiv und bewegend sind die Rückblicke aus der Perspektive des kleinen Kindes, ihre zerbrochene Seele, ihre Einsamkeit, ihre vielen Fragen.

Und nicht zuletzt spricht in dieser schönen Liebesgeschichte auch die Gesellschaftskritik. Eine Schwangerschaft hat für eine Frau immer noch negative berufliche Auswirkungen, eine alleinerziehende Mutter ist im Fokus und wenn dann noch über den Kindsvater spekuliert wird, braucht sie viel Kraft.

Ich freue mich auf den 3. Teil!

Bewertung vom 06.12.2023
Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23
Bernard, Caroline

Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23


weniger gut

„Ich kann nur malen, was ich fühle. Die Bilder kommen aus mir, sie wollen heraus. Ich kann mich nicht verbiegen. Ich male mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf.“

Mexiko 1938, Frida ist Anfang 30, steht im Schatten ihres Mannes, dem berühmten Maler Diego Rivera. Ihre eigene Kunst leidet, Diego benötigt viel Aufmerksamkeit, auch von anderen Frauen. Und Frida leidet unter der fehlenden Beachtung, sowohl Ihrer Kunst als auch ihrer Person.
In dieser Zeit entsteht ihr berühmtes Bild „Was ich im Wasser sah“, in dem sie mit intensiver Symbolik ihr Leben betrachtet.
Frida entscheidet sich, ihrer Kunst mehr Aufmerksamkeit zu schenken und nimmt eine Einladung nach New York zu einer Ausstellung an.
Dort findet sie die Beachtung, die sie sich wünscht, als Künstlerin und als Frau.
Die leidenschaftliche Beziehung zu dem Fotografen Nick Muray tut ihr gut, aber sie kann sich auch nicht vorstellen, sich von Diego zu trennen. So lebt sie in der Zerrissenheit der Liebe zu 2 Männern.
In Paris, wo unter schwierigen Umständen eine weitere Ausstellung geplant wird, lernt Frida Frauen kennen, die komplizierte, aber auch unkonventionelle Beziehungen führen. Sie beginnt zu verstehen, wie wichtig ihr Freiheitsbedürfnis ist, und dass sie IHR Leben leben muss.
In diesem 2. Buch der Autorin Caroline Bernard setzt sie sich intensiver mit der „erwachsenen“ Frida auseinander, die sich emanzipiert und befreit.
Die Hintergründe zur Entstehung zahlreicher Bilder, die in dieser Zeit entstehen, sind spannend, ebenso die Begegnungen Fridas mit zahlreichen KünsterInnen dieser Zeit. Fridas Zerrissenheit, nicht nur in der Liebe, ihre Suche nach ihren Wurzeln, ihr exzessiver, fast selbstzerstörerischer Lebensstil sind spürbar.
Der berichtende, biografische, personale Erzählstil führt jedoch zu einer Außensicht auf die Künstlerin. Ich hätte mir noch mehr Innensicht von Frida gewünscht, die inneren Monologe bleiben etwas hölzern.
Auf jeden Fall ein lesenswertes Buch.

Bewertung vom 27.11.2023
Ein heißes Jahr
Djian, Philippe

Ein heißes Jahr


ausgezeichnet

Ein heißes Jahr - Philippe Dijan
Das Jahr 2023 wird europäischen Wissenschaftlern zufolge das wärmste seit 125000 Jahren werden. So kommt das neue Buch von Philippe Dijan gerade zum richtigen Zeitpunkt.

Der Protagonist Greg lebt im Jahre 2028 bereits mitten in der Klimakatastrophe,
als er einen alten Film aus dem Jahr 2018 sieht, „…über den Bildschirm flimmerte gerade eine Jugendliche, die vom Klima sprach, sich um die Zukunft sorgte und jeden Freitag die Schule schwänzen wollte.“
Greg ist von seinem Schwager Anton, der ein chemisches Labor betreibt, zu einem Deal genötigt worden und hat geholfen, die Schädlichkeit des Pflanzenschutzmittels Montrazol, das auf dem Markt ist, zu verharmlosen. „Anton, wir helfen, Zeug zu vertreiben, das wir hätten verbieten müssen.“ Anton hat keinerlei Skrupel, er sorgt sich eher um die Zerrissenheit, in der Greg sich befindet.
Gregs 14-jährige Nichte Lucie ist Klimaaktivistin und trifft sich zum Interview mit Greta Thunberg (die Jugendliche mit den Zöpfen).
Er lernt Vera kennen, die auch aktiv in der Umweltszene tätig ist und verliebt sich in sie.
„Ich hatte plötzlich Lust, Sie zu sehen, sagte er. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Und wenn ich Ihnen nun erzählte, wie oft mir so etwas passiert, antwortete sie und hielt seine Hand fest. Diese unbändigen Bedürfnisse. Widerstand zwecklos, versteht sich.“
Seine Zerrissenheit wird immer größer. Nachdem es den ersten Todesfall durch das Pflanzenschutzmittel gibt, kann Greg die Situation nicht mehr ertragen, er verliert die Kontrolle. Bis zu einem tragischen Ende.
Vertrocknete Landschaften, unerträgliche Hitze, Wasserknappheit, das Stromnetz bricht wegen der Klimaanlagen zusammen, Wettervorhersagen funktionieren nicht mehr, Waldbrände und Überschwemmungen, Hitze- und Kälterekorde bestimmen den Alltag der Menschen.
Die politische Lage ist angespannt, Wut und Gewalt finden auf der Straße statt.
In fast atemloser Erzählweise nimmt uns der Autor mit in diese apokalyptische Welt, die schon so nah ist.
Die Dialoge fliegen ohne Nebensätze ineinander, Erzählstränge vermischen sich.
Ein auktorialer, aber doch reduzierter, fast sachlicher Erzähler bietet den Außenblick auf das Geschehen.
Dieser Roman ist intensiv und erschütternd, ein Blick in unsere Zukunft.

Aus dem Französischen von Norma Cassau

Bewertung vom 04.11.2023
Alles, was wir uns nicht sagen
El-Wardany, Salma

Alles, was wir uns nicht sagen


ausgezeichnet

Drei besondere Freundinnen, alle muslemischen Glaubens, leben in England und erleben gemeinsam eine unbeschwerte Zeit als junge Erwachsene, ihre Freundschaft wird jedoch auf eine harte Bewährungsprobe gestellt.
Malaks Familie ist aus Ägypten, sie ist heimlich mit dem Engländer Jakob zusammen. Sie hadert mit ihrem Glauben, fühlt sich heimatlos, will ihre Wurzeln finden. Sie beschließt, sich von Jakob zu trennen, in ihre Heimat Ägypten zu gehen, um vielleicht dort den „passenden“ Ehemann zu finden. Malak möchte die Erwartungen der Eltern und der moslemischen Gemeinschaft nicht enttäuschen.
Jenna Palästinenserin, mit britische Mutter, sucht heimlich Abenteuer in Dating-Apps, will aber ihre Jungfräulichkeit bewahren. Sie spürt ihre große Einsamkeit und ist auf der Suche nach dem richtigen Weg für sich.
Kees, farbige Pakistani, hat einen weißer Freund, den sie vor der Familie verbergen muss und spielt ihrer Familie die „brave“ Tochter vor. „Es wird außerdem immer schwieriger, die richtige Version von ihr selbst herauszufiltern, die sie mit nach Hause bringen kann.“ In der Familie wird über Sexualität oder Gefühle nicht gesprochen, das ist tabu.
Sie versucht mit Harry die Balance zwischen ihren beiden Welten hinzubekommen.

Es sind zwei verschiedene Leben, denen die jungen Frauen ausgeliefert sind, moderne, europäische Werte, versus muslemischer Tradition. Sie studieren, haben zahlreiche soziale Kontakte, gehen feiern, kleiden sich modisch, trinken Alkohol und haben sexuelle Erlebnisse. Aber sie müssen die Balance zwischen Rebellion und Religion hinbekommen. Der Erwartungsdruck eines „richtig“ gelebten Lebens ist groß.
Der Ehepartner muss Muslim sein, egal, ob er zu der Frau passt, die Ehe wird arrangiert, die Rollen von Mann und Frau sind traditionell. Eine Frau, die nicht verheiratet ist, hat keinen Wert.
Selbst wenn eine Frau sich aus diesen engen Erwartungen befreien würde, so bliebe die Schande für die Eltern und die Familie.
Nach einem Streit zwischen den Freundinnen um die Frage, wie sie sich für ihre Zukunft entscheiden werden, gehen sie getrennte Wege.
Sie leben ihre geplanten Lebensmodelle, stoßen immer wieder an ihre Grenzen und erleiden jede für sich furchtbare Schicksalsschläge. Sie brauchen einander und finden sich wieder.

Ich bin der Autorin, die selber Halb-Ägypterin und Halb-Irin ist, dankbar für den Einblick in diese Welt der jungen muslemischen Frauen, die ihre Grenzen täglich ausloten müssen, um nicht alles zu verlieren.
Sehr sensibel trifft die Autorin die Gedanken und Gefühle ihrer Protagonistinnen und berührt die Leser*in. Der Schmerz dieser Frauen ist spürbar. Ich habe das Buch nicht aus der Hand legen können.
Wunderbar ist der Wechsel der Sprache, die poetische Beschreibung des Lebens in Kairo aber auch die Konfrontation mit der harten politischen und gesellschaftlichen Realität in dem Land.
Eine starke, kraftvolle Sprache, einfache Sätze, die doch allen Schmerz beschreiben.
Dann wieder Szenen, die an Drehbücher erinnern oder das Zusammenfügen der „Welt“ in der Beschreibung alltäglicher, banaler Dinge.
Unbedingte Leseempfehlung!

Penguin Random House Verlag 2023
Aus dem Englischen übersetzt von Melike Karamustafa und Bettina Hengesbach

Bewertung vom 01.11.2023
Die Möglichkeit von Glück
Rabe, Anne

Die Möglichkeit von Glück


ausgezeichnet

Ein großes Stück Vergangenheitsbewältigung

„Meine Kindheit bleibt ein dunkler Traum, aus dem ich nicht aufwachen möchte.“

Die Erzählerin Stine, geboren 1986 in der DDR, erinnert sich an ihre Kindheit, die letzten Jahre der DDR, die neue Zeit, die „Möglichkeit von Glück“.
Es ist eine besondere Zeit, die prägend für die Kinder der Wendezeit war.
Sie erkundet die Geschichte der Familie, der beiden Brüder (Großvater und Großonkel), die nach dem 2. Weltkrieg unterschiedliche Wege gingen, der eine im Osten, der andere im Westen.
„Wo kommen wir her? Wo kommt diese Familie her?“, möchte sie wissen.
Sie taucht tief in ihre Kindheit ein, die Eltern beide SED-Anhänger, die Mutter zelebriert grausame, erniedrigende Erziehungsrituale. „Ich weiß nicht mehr, wann das anfing. Wann der Wunsch in mir aufkam, mich selbst zu zerstören.“
Stine beginnt mit selbstverletzendem Verhalten und bricht nach endlosen Leidensprozessen den Kontakt zur Familie ab. In ihren inneren Monologen wird deutlich, wie sehr die Menschen, die sich eigentlich um sie hätten kümmern müssen, ihre Seele und ihren Körper verletzt haben. Und es wird ihr großer Wunsch in jeder Zeile spürbar, es bei ihren Kindern anders zu machen.
Die Erzählerin enttarnt die menschenverachtende Macht des DDR-Regimes. „Wir haben uns an das Schweigen um uns herum gewöhnt und an die Geschichten, die wir nicht verstanden haben. Wir wussten, wann wir besser nicht nachfragten, auch wenn hinten und vorne nichts stimmte.“
Und sie kritisiert die fehlende Auseinandersetzung mit dem System in der Zeit nach der Wende. Rechtsextremismus, Gewalt, werden nicht aufgearbeitet, sondern dem Westen zugeordnet.
Sie beschreibt eine traurige Jugend, in der Alkohol, Verrohung, Mobbing an der Tagesordnung sind.
„Dieses System ist in die Menschen gekrochen, hat sie geformt und unser Miteinander deformiert.“
Erschütternd ist, was die Recherchen über den geliebten Großvater zu Tage bringen.
Opa Paul ist das Beispiel eines Menschen, der als Kind im Proletariat der Weimarer Republik aufgewachsen ist, als Soldat den Nationalsozialismus erleiden musste, dann für die Propaganda der SED zuständig war, und dennoch von dem System der DDR enttäuscht wurde.
Er hat so viele Leben gelebt, die er teilweise verstecken oder „neu schreiben“ musste. „Er hat geglaubt, auf der Seite der Sieger zu stehen. Auf der richtigen Seite der Geschichte. (…) Und er hat sich geirrt.“ Das ist das traurige Fazit der Erzählerin über den Mann, den sie so geliebt hat.
Bei ihrer Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit aber auch den Rückschauen auf den Nationalsozialismus bedient sich die Autorin Anne Raabe historischer Quellen, aber auch eindringlicher Zitate aus literarischen Quellen.
So ist dieses Buch nicht nur ein persönliche Familiengeschichte, sondern ein erschütterndes Buch deutscher Geschichte. Keine DDR-Nostalgie. Zu Recht nominiert auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.