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Snowbird

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Insgesamt 14 Bewertungen
12
Bewertung vom 20.09.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


sehr gut

In den Jahren 1845 bis 1849 wurde die irische Bevölkerung Opfer einer furchtbaren Hungersnot. Ausgelöst durch die Kartoffelfäule kam es mehrere Jahre hintereinander zu Missernten. Kartoffeln waren das Hauptanbauprodukt und demzufolge auch das Hauptnahrungsmittel der ländlichen Bevölkerung. Mangels Erträgen waren die Pächter bald mittellos und konnten den Mangel an Kartoffeln nicht kompensieren. Die Regierung hätte den Export von Weizen untersagen können, um die eigene Bevölkerung zu unterstützen - hat sie aber nicht. Über eine Millionen Menschen bzw 12% der Bevölkerung starben an Hunger. Weitere 2 Millionen wanderten aus, um diesen furchtbaren, ausweglosen Verhältnissen zu entkommen.

Eine davon ist die junge Honora, der außer ihrem Leben nichts geblieben ist. Doch das stand von Anfang an unter keinem guten Stern, denn bei ihrer Geburt starb ihre Mutter, und dies macht sie, kombiniert mit einem Aberglauben, zur lebenslangen Außenseiterin in der irischen Gesellschaft. Honora tickt anders als ihre Zeitgenossen, und das macht sie zusätzlich verdächtig. Auf dem Schiff nach Amerika trifft sie Mary, mit der sie sich zusammentut, zunächst in New York, später im westlichen Territorium. Nach schwierigen Jahren ordnet sich Honoras Leben, doch sie kann langfristig nicht aus ihrer Haut, was neue Konflikte hervorruft. Im Territorium ist es, wie schon in Irland, ihre besondere Beziehung zur Natur, die ihr Kraft und Halt gibt. Die Hinwendung Honoras zur indigenen Bevölkerung dieses weiten Landes ist für sie vor diesem Hintergrund nur noch ein kleiner Schritt.

Jacqueline O’Mahony bescheibt eine von Armut, Ausbeutung, Aberglauben und Bildungsferne geprägte Welt. Die Landbevölkerung hat nichts zu Essen, kann die Pacht nicht mehr aufbringen und ist den Mächtigen völlig ausgeliefert. Honora trägt diese Bürde wie ein Kainsmal durch ihr Leben. Sie kann zwar Irland verlassen, aber Irland lässt sie nicht los.

Die Autorin vermischt die Tragödie einer jungen Frau, eingebettet in historisches Geschehen, mit Elementen eines Abenteuerromans. Sie lässt ihre Protagonistin von Anfang an kritisch auf die Landnahme im Territorium blicken. Geprägt und sensibilisiert durch die Ausbeutung in Irland stellt sie die Frage nach den Besitzansprüchen für das Land. Dürfen die neuen Siedler ihre Parzelle ihr Eigen nennen? Wem hat das Land vorher gehört? Oder wem gehört es noch? Ein Pony mit unklarem Besitzerstatus wird zum Sinnbild für diese Fragen.

Ich habe den Roman ganz gerne gelesen, er ist spannend, traurig, zu Tränen rührend und liest sich flott weg. Allerdings konnte ich, ganz ähnlich wie ihre Zeitgenossen, Honora nur bedingt nahe kommen, und ich frage mich auch, ob die Autorin nicht ein wenig zu viel gewollt hat, erscheint mir die Handlung doch etwas überfrachtet mit der Geschichte der irischen Hungersnot einerseits und der ethisch-moralischen Frage nach der Landnahme in Amerika andererseits.

Die Autorin Jacqueline O’Mahony ist 1972 in Irland geboren und wurde bereits im Alter von 14 Jahren von der Zeitung Irisch Examiner als „Young Irish Writer of the Year“ ausgezeichnet. Dieser Roman wurde von pociao und Roberto de Hollanda aus dem irischen Englisch übersetzt.

Bewertung vom 15.09.2024
Akikos stilles Glück
Sendker, Jan-Philipp

Akikos stilles Glück


ausgezeichnet

Gleich vorweg: Akikos stilles Glück war ein großes Lese-Glück für mich. Japan, dieses so weit entfernte, lange Zeit in sich abgeschlossene Land, erscheint mir oft fremd, unzugänglich und unkompatibel. Sendkers Protagonistin Akiko hat es mir jetzt ein Stück näher gebracht.

Akiko ist eine junge Frau, Endzwanzigerin, Buchhalterin, ledig und ohne jeglichen Familienanhang. Damit entspricht sie ganz und gar nicht der Norm, doch Akiko kann gut mit sich alleine sein. Deshalb beschließt sie, inspiriert von einer Freundin, sich selbst zu heiraten. Was? Dachte ich, als ich das las. Das hatte ich noch nie gehört. Aber in Japan ist Solo-Wedding nicht unüblich. Gleichzeitig trifft sie zufällig den jungen Mann wieder, der in der High School ihre erste Liebe war. Kento ist heute ein Hikikomori. Noch etwas, das ich nicht kannte. Hikikomoris sind Menschen, die sich der Gesellschaft verweigern und die meiste Zeit ihre Wohnung nicht verlassen, weil ihnen alles zuviel ist - Menschen, Geräusche, Gerüche. Diese Wiederbegegnung ist es, die Akiko ins Grübeln bringt: wer ist sie? Mag sie sich? Was will sie, was erwartet sie von ihrem Leben? Woher kommt sie? Eine Phase der Selbstreflexion und des Rückblicks in ihre Vergangenheit mit ihrer alleinerziehenden Mutter beginnt. Doch anstelle von Antworten ergeben sich zunächst weitere Fragen.

Am Beispiel seiner Figur Akiko gewährt Sendker Einblicke in das japanische Arbeitsethos, in Familienstrukturen, in gesellschaftliche Konventionen. In mancherlei Hinsicht ticken Japaner völlig anders als wir, aber in bestimmten Bereichen unterscheiden wir uns nicht. Akiko lebt in der 40-Millionen-Metropole Tokio, könnte ihr Leben aber auch in Hamburg, Paris oder London führen. Ich konnte ihr nahe kommen, bin mit ihr U-Bahn gefahren, habe neben ihr an der Bar gesessen und konnte ihre Gedankengänge nachempfinden. Sendker hat mit ihr eine lebensechte Figur erschaffen, der ich gerne weiter auf ihrem Weg zur Selbstfindung folgen werde. Irgendwo las ich, dieses Buch sei der Auftakt zu einer Japan-Triologie. Nun warte ich gespannt auf die Fortsetzung und werde derweil andere Titel von Sendker lesen.

Im Anhang gibt es ein Glossar, welches im Text verwendete japanische Begriffe erklärt. Das Buch ist mit einem Lesebändchen ausgestattet und hat, wie ich finde, ein sehr schönes Cover, das auf mich sehr ausgeglichen wirkt und damit gut zu seiner Protagonistin Akiko passt.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.08.2024
Beale Street Blues
Baldwin, James

Beale Street Blues


ausgezeichnet

James Baldwin wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat der dtv-Verlag seine Romane und Essay-Bände neu aufgelegt. Miriam Mandelkow hat sie neu übersetzt.

„Beale Street Blues“ erzählt die Geschichte von Vonny und Tish, einem jungen Liebespaar im New York der 70er Jahre. Die beiden kennen sich von Kindheit an, und plötzlich war sie da, die Liebe. Alles könnte so schön sein, denn gerade haben sie einen Speicher in Harlem bezogen, in dem der bildende Künstler Vonny auch arbeiten kann, und sie wollen heiraten, denn Tish ist schwanger. Doch bevor es dazu kommt, wird Vonny von einem rassistischen Polizisten verhaftet und für eine Straftat angeklagt, die er nicht begangen hat.

Tish ist die Erzählerin dieser Geschichte, die so ausweglos erscheint und dennoch voller Hoffnung ist und voller Liebe. Die Freude auf das erwartete Baby zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung, dieses kleine Wesen ist der Hoffnungsschimmer am Horizont und der Motor, der die Familie kämpfen lässt. Baldwin wirft uns mitten hinein in die Handlung. Es gibt eine Erzählzeit und eine erzählte Zeit. Schicht um Schicht wird freigelegt, was zu Vonnys Verhaftung führte. Dabei hatte ich das Gefühl, immer bereits ein wenig mehr zu wissen, als er Tish berichten lässt. Es ist die immer gleiche Gesichte von weißer Überlegenheit, die Baldwin uns hier erzählt, sie könnte 1950 spielen oder 1910 oder heute. Beim Lesen hatte ich „I can’t breathe!“ im Ohr. Ein bisschen anders läuft es hier ab, der Polizist legt nicht selbst Hand an, aber er weiß, an welchen Schrauben er drehen muss.

Die Geschichte eines Freundes diente Baldwin als Inspiration für diesen Roman, zu dem Daniel Schreiber ein sehr schönes Nachwort geschrieben hat. Ich habe zum ersten Mal Baldwin gelesen und freue mich sehr, mit diesem wunderbaren Buch den Einstieg in sein Werk gefunden zu haben. Hiermit lege ich es euch dringend ans Herz.

Bewertung vom 16.08.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Reza ist 9 Jahre alt, als er in den 80er Jahren mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland flieht, wo er fortan in einer Plattenbausiedlung in Bochum lebt. Reza ist ein äußerst sensibler, kluger Junge und später junger Mann, dem Khani eine wunderbare, poetische, bildhafte und fein ziselierte Sprache in den Mund legt. Rezas Leben wird geprägt durch Erfahrungen, Herkunft, Erziehung und Umfeld. Seine akademisch gebildeten Eltern, die alles dafür tun, Land und Leute zu verstehen, ahnen wenig davon, wie vollkommen konträr zu ihrer inneren Haltung die Zustände draußen in ihrem Wohnviertel sind.

Khani lässt Reza und seine Eltern viele Beobachtungen über Deutsche machen, die sehr vielsagend und aufschlussreich, ja teilweise erschütternd sind, für die uns selbst aber die Feinfühligkeit fehlt. Es gibt eine Szene, in der Reza und seine Eltern Kornelkirschen pflücken, die sie aus dem Iran kennen, die in Deutschland nicht so verbreitet sind. Eine Menge Leute beobachten das und schauen seltsam, sagen aber nichts, bis eine Frau anmerkt, dass die Kirschen giftig seien. Später sagt Rezas Vater: „Warum haben die anderen (…) nichts gesagt? Sie glauben, dass die Kirschen giftig sind, sehen, dass wir sie (…) essen und sagen nichts.“ ( S. 59) Ja, warum? Ist das symptomatisch für Deutsche? Falls ja, dann lässt es tief blicken. Ich kenne Kornelkirschen nicht, aber an dieser Stelle schäme ich mich stellvertretend für alle, die geschwiegen haben. Die besondere Weisheit des Vaters, seine Sicht auf Dinge und die Art, wie Khani ihn diese in Worte fassen lässt, beeindruckt mich sehr.

Das einleitende Kapitel beginnt mit dem Satz „Du warst fünf.“ Ich denke, dass es an seinen Sohn gerichtet sein soll, denn Khanis Biografie lässt vermuten, dass er Reza seine eigenen, persönlichen Erfahrungen andichtet. Auf knappen 200 Seiten erschafft er einen Lebenslauf von der Kindheit bis ins Erwachsenalter. Da fehlt kein Satz, er bleibt keinerlei Erklärung schuldig. Kein Wort ist zu viel.

Behzad Karim Khani hat kein schönes, aber ein sehr gutes Buch geschrieben, an dem man sich abarbeiten kann, abarbeiten muss. Ein Buch, das sehr viel Stoff zum Nachdenken, Hinterfragen und zur Selbstreflexion liefert, und das ist nicht immer angenehm. Wer sich gerne mit zwischenmenschlichen Beziehungen, Migration und Fremdsein beschäftigt wird diesen Roman sehr gerne lesen.

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