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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Missmarie
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 15.11.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


gut

"Das Glück ging auf leisen Sohlen. Man musste sich die Fotos angucken, um es zu bemerken."

Hélène und Christophe kennen sich seit der Schulzeit. Während Hélène Karriere gemacht und ihren Heimatort Épinal verlassen hat, ist Christophe dort geblieben. Der einstige Star der Schule - ein erfolgreicher Eishockeyspieler und gutaussehend - lebt heute eher ein bescheidenes Leben. Von seiner Freundin hat er sich getrennt und er arbeitet als Vertreter für Tiernahrung. Hélène hingegen ist Unternehmensberaterin und auf dem besten Weg, Juniorchefin zu werden. Auch wenn sie gerade erst wieder in ihre Heimat zurückgekehrt ist, hat sie ganz andere Ziele erreicht als ihr Jugendschwarm Christophe. Doch dann trifft sie ihn zufällig bei einem missglückten Tinder-Date wieder. Und obwohl Hélène verheiratet ist, beginnt eine Affäre mit dem gealterten Herzensbrecher.

In Nicolas Mathieus neuem Roman steht das Leben in der französischen Provinz im Vordergrund. Die Handlung spielt zwischen Eishockeystadion und Kneipe, zwischen Imbiss am Möbelhaus und billigem Hotel an der Autobahnausfahrt. Irgendwie scheint alles trostlos zu sein, inklusive des dort gebliebenen Christophes. Man trifft sich mit alten Freunden, die ebenfalls hängengeblieben sind und fragt sich, was aus all den alten Plänen geworden ist. Denn die gab es durchaus, wie der Leser immer dann erfährt, wenn die Handlung 30 Jahre und mehr in die Vergangenheit wechselt. Hélène wollte raus aus dieser Tristesse und der Weg führte für sie - zum gleichermaßen Erstaunen und Unbehagen der Familie - über die Bildung. Dennoch kehrt auch sie verheiratet und mit zwei Kindern nach Épinal nahe Nancy zurück. Ein Leben in der Einbahnstraße. Mathieu scheint davon erzählen zu wollen, dass es aus der Melancholie keinen Ausweg gibt. Passend dazu der Titel des Buches, eine Anspielung auf das schwermütige Lied "Les Lacs du Connemara".

Insgesamt lassen sich im Roman viele Anspielungen auf die französische Alltagskultur in der Gegenwart und vor 30 Jahren finden. Wer sich hier auskennt, findet sich bald in einem Poproman wieder. Wer hingegen wenig Erfahrung mit französischen Stars, Liedern und Filmen hat, der wird stellenweise eher verwirrt als mit einem heimeligen Gefühl abgeholt.

Neben Melancholie und Popkultur ist auch die Sexualität ein großes Thema. Interessanter Weise erzählt Mathieu diese überwiegend aus Hélènes Perspektive. Das gelingt manchmal gut, manchmal gerät der Blick dann aber doch zu männlich. Gut erkennbar immer dann, wenn Hélènes Erfahrungen gleich aufgebaut werden wie Christophes erste Schritte in die Sexualität.

Obwohl Mathieu das Kleinbürgertum in all seinen Facetten und feinen Zwischentönen gut zu beleuchten weiß, hat mir der Roman nur wenig geben können. Zu eintönig und unbedeutend sind die vielen Alltagsepisoden, die nebeneinander stehen und sich zur Tristesse des Provinzalltags verbinden. Der Roman wirkt langatmig, bis etwas von Bedeutung geschieht, vergehen gut mal 50 Seiten. Das mag zwar genau das von Mathieu beabsichtigte Gefühl von Monotonie auslösen, ist dem Lesevergnügen aber nur bedingt zuträglich.

Bewertung vom 25.10.2022
Alle_Zeit
Bücker, Teresa

Alle_Zeit


ausgezeichnet

Von Zeitwohlstand und Zeitnot

"In der dominanten Zeitkultur verwechseln viele Menschen die schiere Dichte ihres Lebens mit Anerkennung, Erfolg oder Freiheit. Wirkliche Freiheit würde jedoch bedeuten, dass wir auch weniger tun, weniger wissen und weniger mitteilen könnten und trotzdem noch jemand wären."

Sind wir die Person, die wir acht Stunden des Tages in unserem Job glauben zu sein? Ist unsere Identität tatsächlich an eine Vollzeitstelle gebunden? Machen uns Beruf und Leistung aus? Und was wäre, wenn die Antwort auf all diese Fragen zu mindest in Teilen "Nein" lauten würde? Teresa Bücker schreibt mit "Alle_Zeit" das vielleicht wichtigste Sachbuch des Jahres - über Zeit. Was auf den ersten Blick philosophisch und abstrakt klingt, hat ziemlich viele konkrete Auswirkungen. Denn die Autorin sinniert hier nicht über das Wesen der Zeit im Allgemeinen. Viel mehr geht es ihr darum, was wir mit unserer Zeit pro Tag anstellen, wie wir unterschiedliche Tätigkeiten bewerten und welche Konsequenzen unser Umgang mit Zeit für die Gesellschaft hat.

Im Fokus steht bei Teresa Bücker die Rolle der Erwerbsarbeit. Anhand vieler Studien und Referenzen auf ältere Forschungen verdeutlicht sie, dass der klassische Achtstunden-Tag und das Ideal einer Vollzeitstelle zu einer mehrfachen Entwertung führen. Entwertet werden nicht nur diejenigen, die in Teilzeit arbeiten, sondern auch die Zeit, die wir nicht mit Arbeit im kommerziellen Sinn verbringen: Pflege, Beziehungen, Sport und Erholung. Anhand überzeugender Rechnungen stellt sie dar, dass unsere Überzeugungen von "richtiger" Arbeit nicht nur uns, sondern auch dem Klima schaden. Auch Gleichberechtigung und falsch verstandener Karriere-Feminismus werden von ihr unter die Lupe genommen. Denn Zeitwohlstand ist nicht gleichzusetzen mit einer Fülle von Beschäftigung und auch Arbeitslose können Zeitnot empfinden, obwohl sie auf den ersten Blick nichts tun. Zeit, die Verteilung von freier Zeit und das Freikaufen, z.B. mithilfe von Haushaltshilfen, wird somit auch zu einer Frage der Gerechtigkeit.

Außerdem diskutiert Bücker verschiedene Zeitmodelle für die Arbeit von morgen. Wie würde sich zum Beispiel eine 20-Stunde-Woche auswirken? Was könnten Menschen mit der Zeit tun, die ihnen nun zur Verfügung steht? Wie sollte bzw. könnten wir Care-Arbeit angemessen wertschätzen?

Bückers Talent liegt darin, die Ergebnisse nicht nur darzustellen und zu verknüpfen, sondern auch ihnen immer wieder Appelle an die Politik aber auch an unseren eigenen Umgang mit Zeit und gewertschätzter Arbeit zu formulieren. Man wünscht sich, diese Buch lese jeder Politiker, der im Bereich der Arbeit etwas ändern kann. Denn Bücker schreibt mit "Alle_Zeit" nicht weniger als einen Wegweise in eine gesunde, ausgeglichenen und gerechte Zukunft.

Bewertung vom 16.10.2022
Die Pestinsel
Hermanson, Marie

Die Pestinsel


sehr gut

"Was war sie eigentlich für eine Art von Frau? Vor ein paar Jahren hätte sie geantwortet, sie sei ein Exemplar der Neuen Frau, zeittypisch und modern, mit Erfahrung sowohl im Berufs- als auch im Liebesleben und mit einer Karriere als Journalistin im Blick. Dann war aus ihr ein Mädchen geworden, das in eine Haushaltsschule ging und das sich auf eine bürgerliche Ehe vorbereitete. Und jetzt, wer war sie jetzt?"

Obwohl in "Die Pestinsel" in erster Linien Kommissar Nils Gunnarsson ermittelt, spielt Ellen (von der die obrigen Gedanken stammen) eine wichtige Rolle in diesem Roman. Die junge Frau ist mir mit ihrer Unerschrockenheit und ihrem forschen Auftreten fast mehr ans Herz gewachsen als der Ermittler. Denn sie ist es, die in Nils Auftrag auf der alten Pestinsel ermittelt. Dort, wo früher die Seemänner darauf warten mussten, dass ihre Quarantäne-Zeit ablief (da werden doch Erinnerungen an die aktuelle Pandemie wach), wird 1925 nur noch ein Gefangener vom Personal betreut. Doch da scheint etwas nicht ganz zu stimmen, denn eine Leiche weist Verbindungen zum Inhaftierten auf der Insel auf. Da Nils als Polizist wenig herausfinden kann, schickt er Ellen als Dienstmädchen vor, die bald mehr herausfindet, als ihr lieb gewesen ist.

Marie Hermanson gelingt in ihrem Roman das große Kunststück, eine spannende und in Teilen wirklich nervenzerreißende Atmosphäre aufzubauen, ohne dabei auf die üblichen Thriller-Elemente zu setzen. Es wird weder besonders detailliert blutig, noch muss sie auf die üblichen Psycho-Elemente zurückgreifen, um ihre LeserInnen bei der Stange zu halten. Die Handlung an sich, die kleinen Andeutungen, die damit verbundenen Erwartungen reichen ihr aus, um einen echten Page-Turner zu verfassen. Gelungen sind dabei auch die vielen Perspektivwechsel. Über den Roman hinweg erhält der Leser Einblicke in die Gedanken mehrerer Figuren, sodass am Ende ein vielfältiges Bild entsteht. Dabei zeichnet die Autorin ihre Romanbesetzung so liebevoll, dass man am Ende auf einen weiteren Teil hofft, nur um den Figuren noch einmal begegnen zu können.

Gefallen hat mir außerdem die subtil eingebundenen zeitgeschichtlichen Referenzen. "Die Pestinsel" spielt im Göteborg der 1920er Jahre, in einer Zeit zwischen Schnapsschmuggel und großer Armut. Ohne plakativ auf beides hinzuweisen, spielen diese Themen immer wieder eine große Rolle. Dadurch entsteht fast wie nebenbei eine historische Atmosphäre, in die man direkt eintauchen möchte. Regine Elsässer, der Übersetzerin, gelingt es wunderbar, diese Atmosphäre auch ins Deutsch zu tragen.

Bei all den gelungenen Elementen gibt es leider auch Kritik. Zum einen ist das Buch schlecht lektoriert. Zwar machen Titelbild und Gestaltung auf den ersten Blick einen hochwertigen Eindruck. Wenn aber immer wieder Buchstaben fehlen oder falsche Wörter durch Tippfehler entstehen, muss das einem Lektor vor der Veröffentlichung auffallen. Leider sind einige dieser Schnitzer im Buch.

Auch inhaltlich bin ich nicht gänzlich von der insgesamt unterhaltsamen Lektüre überzeugt. Man hat den Eindruck, die Autorin wollte stellenweise etwas zu viel. So gibt es mehrere Handlungselemente, die zwar am Ende alle zusammengeführt und logisch gelöst werden, die aber möglicherweise größere Wirkung hätten erzielen können, wenn sie reduziert und dafür detaillierter ausgearbeitet worden wären. So erschien mir zum Beispiel der Zusammenhang mit dem Krimi, den Nils gerade liest und von dem schon der Klappentext erzählt, sehr konstruiert.

Da ich mich aber insgesamt gut unterhalten gefühlt habe, würde ich den Krimi für dunkle Herbsttage weiterempfehlen - auch deshalb, weil die Autorin zeigt, wie man Spannung ohne (allzu) blutige Effekte hervorragend aufbauen kann.

Bewertung vom 09.10.2022
Unsterblich sind nur die anderen
Buchholz, Simone

Unsterblich sind nur die anderen


ausgezeichnet

"und da war der Kapitän gegangen
vielleicht war er an Deck
an Deck
eine rauchen
oder war noch da
doch noch da
es war nicht ganz klar, alles verschwamm."

Alles verschwimmt - die zeitliche Abfolge, die Wahrheit, die Jahrzehnte, sicher geglaubte Überzeugungen. Was ist real, was ausgedacht, was magischer Realismus und was eine Erzählung in der Erzählung? Simone Buchholz macht es ihren Lesern nicht unbedingt leicht und will das womöglich auch gar nicht. Dennoch legt sich - ähnlich einer Brotkrumenspur - Hinweise zwischen den Seiten aus, die die teilweise abgedrehte Handlung zu einer stimmigen Kernaussage verbinden können.

In Buchholz Roman "Unsterblich sind nur die anderen" suchen Malin und Iva nach ihren Männern, die auf der Überfahrt von Dänemark nach Island über die Faröer Inseln verschwunden zu sein scheinen. Wie ihre drei männlichen Vorgänger begeben sich die Freundinnen auf die MS Rjúkandi und merken schnell, dass sie hier in einer Art Parallelwelt angekommen sind. Irgendwann treffen sie tatsächlich auf die verloren geglaubten Herren. Aber irgendwie geht es da schon um etwas ganz anderes. Mehr über den Inhalt zu verraten, ist kaum möglich, ohne die gesamte Handlung zu erklären oder in unverständliche Schilderungen abzudriften. Denn in Buchholz Erzählung hängt alles miteinander zusammen: Nereiden, der zweite Weltkrieg, die Titanic, Mutterschaft, pastellrosa Häuser am Hafen und abgeranzte Hafenschenken.

Zu Beginn fällt es schwer, in die Geschichte hineinzukommen. Hat man sich aber erst auf die wirre Handlung eingelassen, wird Stück für Stück ersichtlich, welches Kunststück Simone Buchholz hier verbringt. Der Roman ist nämlich nichts anderes als die moderne Antwort auf die klassischen antiken Tragödien. Sogar drei Akte in schönster Dramenmanier sind im Buch untergebracht. Und wie kann es anders sein: Sämtliche Meerjungfrauen, Nymphen und Wasserwesen der antiken (sowie nordischen und asiatischen) Mythologie kommentieren chorartig die Handlung. Es bereitet große Freude, die Mosaiksteinen einzusammeln und zu einem großen Bild zusammenzusetzen. Hinzu kommt die raue Meer-Atmosphäre, die weniger mit Strandurlaub und mehr mit Ungestümtheit und Wildheit zu tun hat.

"Unsterblich sind nur die anderen" ist eine absolute Empfehlung für Liebhaber des magischen Realismus und der großen Meereserzählungen. Alllerdings sollte man bereit sein, sich anfangs auf viele Fragezeichen einzulassen.

Bewertung vom 03.10.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


schlecht

Ergüsse eines alten, weißen Mannes

"Ich würde mich nicht als Misanthropen bezeichnen, obwohl mehr als ein Kollege das glauben wird. Ich bin einfach müde. Sehr müde. Mich ermüden viele Dinge, vor allem der tägliche Kontakt mit Menschen, die mich nicht interessieren."

Wohlwollend mag man diese Haltung des Protagonisten Toni als satirischer Abgesang auf die Oberflächlichkeit der Gesellschaft lesen. Für mich wirkt Antiheld Toni aber definitiv wie ein Menschenhasser. Das ist auch - wenn man es unterbricht - der Grund, warum der 55-Jährige beschließt, sich umzubringen. Allerdings noch nicht sofort, sondern erst in genau einem Jahr. Bis dahin führt er eine Art Tagebuch, Tag für Tag ein Kapitel bis zum festgelegten Tag im Frühsommer. Einige dieser Kapitel nehmen direkt aufeinander Bezug und führen sich gegenseitig weiter. Andere sind Gedankensprünge oder kurze Anekdoten. Manchmal braucht Toni zehn oder mehr Kapitel bis er einen Faden wieder aufnimmt und der Leser muss erst einmal versuchen, den Handlungsstrang zu erinnern. In diesen Tagebucheinträgen berichtet Toni nämlich nicht nur von Drohbriefen in seinem Briefkasten und seinen tristen Alltag mit Hündin Pepa und Freund Humpel. Es geht auch um seinen Sohn, die demenzkranke Mutter, die gescheiterte Ehe, die Arbeit als Philosophielehrer. Dabei reist der Protagonist bis in seine Kindheit - und springt wirr durch die Zeiten hin und her.

Die Zeitsprünge wären vielleicht weniger schlimm, wenn Toni nicht so eine furchtbar unsympathische Figur wäre. In der Literatur gibt es eine Vielzahl sympathischer Antihelden, Toni zählt aber sicherlich nicht dazu. Zum einen störte mich beim Lesen seine Verantwortungslosigkeit enorm. Denn Schuld sind immer die anderen. Das Scheitern seiner Ehe? Liegt darin begründet, dass seine Frau nicht mehr mit ihm schlafen wollte. Der minderbemittelte Sohn? Wurde zu sehr von den Großeltern verhätschelt. Die Unlust, als Lehrer zu arbeiten? Liegt an den dummen Schülern und den geschwätzigen Kollegen. Nicht für eine einzige Sache ist Toni bereit, in vollem Umfang die Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht nur moralisch schwierig, sondern führt auch zu einem recht monotonen Erzählmuster.

Zum anderen ist Toni genau das, was ich als alten weißen Mann bezeichnen würde. Diesen Stereotyp kultiviert er geradezu ausschweifend. Frauen sind gefühlsgesteuerte Furien. Angst ist ihr Hauptmotivator und daher müssen sie sich zwingend einen männlichen Begleiter suchen. Die Schülerinnen, die Toni unterrichtet, sind auf ihre sexuelle Anziehung reduziert. Nicht mal einzelne Namen werden verwendet, stattdessen sieht sich Toni stets einer Masse aus Hot Pans, Unterwäscheblitzern und vollen Lippen ausgesetzt. Dann gibt es noch die alten Frauen - Mütter und Schwiegermütter - die entweder nicht mehr zurechnungsfähig sind oder das Klischee des Hausdrachen erfüllen. Ein wenig positiver kommen da die Prostituierten weg - denn die haben keine eigenen Handlungsmotive abgesehen vom Geld, das sie verdienen. Hinzu kommen sehr vulgäre Textstellen. Dauernd geht es um Geschlechtsteile und -verkehr. Auch hier dominiert der männliche Blick, die männliche Lust, die es zu befriedigen gibt.

Mir ist es unerklärlich, wie in Verlag heute ein Werk mit so viel misogynen Tendenzen überhaupt veröffentlichen kann - selbst wenn sie zur literarischen Ausgestaltung der Hauptfigur gehören.

Wie anfangs schon erwähnt, finden sich sicherlich auch viele satirische Anspielungen im Text. Auch die philosophischen Betrachtungen, die es stellenweise gibt, insbesondere mit Bezug auf den Nihilismus, sind intellektuell anspruchsvoll und interessant. Auch möchte ich dem Autor nicht absprechen, ein sehr feiner Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen zu sein. Die Haltung, mit der er seine Hauptfigur berichten lässt, ist meiner Meinung nach aber vollkommen unangemessen. Diesen Gedankengängen möchte ich als weibliche Leserin nicht folgen.

Bewertung vom 24.09.2022
Gespräche auf dem Meeresgrund
Leeb, Root

Gespräche auf dem Meeresgrund


weniger gut

Es plätschert so dahin

"Von denen, die mich zuhause kennen, sind viele nicht gut auf mich zu sprechen, sie sind neidisch und böse auf mich, dass ich gegangen bin. Und von denen, die mit mir aufgebrochen sind, sind die einen hier und können nichts tun, nicht für sich und nicht für mich, und die oben wissen wohl nicht, wo ich bin."
Diese Selbstreflexion stellt der Eine - ein Skelett auf dem Meeresboden - an. Dort verbringt er eine nicht näher definierte Zeit mit dem Anderen und der Dritten - ebenfalls zwei Menschen, die das Meer verschluckt hat. Zum Zeitvertreib beginnen sich die drei von ihrer Herkunft zu erzählen. Während die Dritte sich recht verschlossen gibt, wird schnell klar, dass zwischen dem Einen und dem Anderen Welten aufeinandertreffen. Der Eine stammt aus Gambia und hat sich aus einem Zwang heraus auf ein Boot begeben. Der Andere ist weiß, vermutlich Europäer und ehemaliger Gast eines Kreuzfahrtschiffes.

Hier deuten sich bereits die spannenden Konstellationen in diesem Kammerspiel an. Ein privilegierter Mensch trifft auf einen allem Anschein nach Geflüchteten. Fragen nach Gerechtigkeit, persönlichem Schicksal und menschlichem Leid in der Flüchtlingskrise drängen sich auf. Leider verpasst es Root Leeb aber, an dieser Stelle eine klare Position herauszuarbeiten. Zwar werden all diese Themen irgendwie schon thematisiert – die drei Gesprächspartner kommen aber zu keinem Schluss. Das liegt nicht zuletzt an der manchmal schon enervierend ausgleichenden Haltung des Einen. Der Leser bleibt am Ende ratlos, denn die angeschnittenen Diskurse bieten dann doch zu wenig Anknüpfungspunkte, um selbst tiefgehender zu reflektieren. Stattdessen werden hier Aspekte aufgewärmt.- z.B. die unfairen Asylverfahren – die man so schon sehr oft gehört hat.

Root Leeb hat sich vermutlich bewusst für einen kammerspielartigen Roman entschieden. Der Text ist dialoglastig, die Erzählerpassgen („Poseidon, der Mächtige des Meeres zieht vorüber“) klingen fast wie Regieanweisungen. Insgesamt lässt sich die Romanhandlung auch gut auf einer Bühne vorstellen, eine Installation mit Lichtspielen im Wasser im Hintergrund. Diese dichte Szenenbeschreibung ist die Stärke des Romans und gleichzeitig auch seine Schwäche. Denn für ein Kammerstück ist „Gespräche auf dem Meeresgrund“ zu voll gepackt, der Roman will zu viel. Denn neben der Migrationsthematik geht es auch um Femizide und Feminismus, um Privilegien, Critical Whiteness, den Klimawandel und fanatische Imame. Für knapp 150 Seiten ist das einfach viel zu viel, als dass man eine angemessene Tiefe erreichen könnte. Zumal immer wieder Passagen aus der griechischen Mythologie entlehnt auftauchen. Das ist schade, denn die Grundidee eines Zusammentreffen auf dem Meeresgrund gepaart mit einem Sprachstil, der an Beckett erinnert, hat mich eigentlich stark angesprochen.

Bewertung vom 20.09.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


ausgezeichnet

Wie wird man unverwundbar?

"Ich glaube, Männer sind nur deshalb mehr dafür gemacht, Soldaten zu sein, weil sie von klein auf lernen, ihre Verletzungen zu verstecken. Frauen dagegen tragen sie zur Schau, als würde es sich um Schmuckstücke handeln."

Diesen Satz fällt die Kriegerin, die lange namenlose Bezugsperson der Protagonistin Lisbeth. Beide kennen sich aus der Zeit der Grundausbildung beim Bund. Doch während die Kriegerin beim Militär geblieben ist, hat Lisbeth die Ausbildung nicht abgeschlossen und arbeitet als Floristin. Jeden Winter treffen sich beide für zwei Wochen in einem Bungalow an der Ostsee. Lisbeth braucht die Nähe zu Meer, weil ihre von Neurodermitis geplagte Haut dort heilen kann. Ob es die Meerluft ist oder die Ruhe, die ihrer Psyche gut tut, ist nicht klar. Ebenso wenig wird dem Leser klar, was die Kriegerin eigentlich antreibt, dass sie immer wieder zurück zu Lisbeth kehrt. Selbst die Frage, ob die beiden Freundinnen sind, lässt sich nicht so einfach beantworten.

Viel "mehr" an Handlung geschieht in dem Roman, der mitunter mit großer Zeitraffung erzählt wird, nicht. Doch das ist auch gar nicht nötig, steht doch das Innenleben der Figuren im Vordergrund. Denn Lisbeth und die Kriegerin scheinen beide nicht in eine Welt zu passen, in der Frauen sich anpassen und verletzlich sein sollen. Beide suchen nach einem Weg, unverletzbar, unbesiegbar zu werden. Den finden sich nicht nur im Sport, sondern auch in der Rüstung des Soldatin seins. Hart zu sich selbst, hart zu den anderen - das ist das Motto beider Frauen. Auf den ersten Blick will Helene Bukowski eine Emanzipationsgeschichte erzählen. Frauen erobern männerdominierte Räume wie die Bundeswehr, treffen selbstbestimmte Entscheidungen auch gegen die Familie und sorgen für ihren eigenen Schutz.

Doch das ist eben nur der erste Blick. Schaut man genauer hin, zeigt sich, das eigentliche große Thema des Romans: Was macht es mit einem Menschen, nach außen Härte zu zeigen, wenn er gleichzeitig töten muss, mittunter auch Zivilisten im Ausland erschießt? Ist dieser Widerspruch zwischen dem Zurschaustellung von Überlegenheit und innerer Verletztheit nicht erst recht ein Beschleuniger für Leid, für kaputte Persönlichkeiten? Diese Fragen sind nicht unbedingt neu. Mehrer Romane haben sich bereits in der Vergangenheit mit posttraumatischen Belastungsstörungen von Soldaten beschäftigt. Was neu ist, ist die Erzählstimme, die Bukowski wählt. Stellenweise fragt man sich beim Lesen, inwiefern der Roman genauso überzeugend wäre, wenn er aus Sicht eines Mannes verfasst worden wäre. Doch schnell wird dann klar, dass der Geschichte dann ein entscheidendes Element fehlen würde: Das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen weiblichem Gesellschaftsbild und männlichem Berufsfeld.

Somit ist Bukowskis Roman trotz der gescheiterten Figuren und dem durchweg trostlosen Bild, das sich über die Seiten zeichnet, ein feministisches Buch. Eines, das danach fragt, was mit Frauen passiert, die scheitern, weil sie sich nicht anpassen wollen. Die große Kunst Bukowskis liegt dabei darin, unglaublich eindrückliche Figuren zu schaffen. Die Kriegerin und Lisbeth sind nicht unbedingt sympathisch, dem Leser aber dennoch so nah und so echt, dass sie einen auch noch lange nach der Lektüre begleiten.

Durch die erzählerische Wucht, die neue Sicht auf ein (altes) Soldatenproblem und die Prise magischen Realismus ist "Die Kriegerin" für mich eine absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 10.09.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


sehr gut

"Linne ist ein Stein, der fliegen kann. Ein Felsen, der Höhlen verschließt und Menschen vergräbt."

Schon in diesen kurzen Sätzen entfaltet sich Stefanie vor Schultes mystisch-märchenhafte Bildsprache, die auf ungewöhnliche Analogien baut und an mittelalterliche Allegorien erinnert. Der Stil der Autorin zeichnet sich dadurch aus, dass die Realität märchenhaft erscheint und der Leser nicht weiß, wo die Gedankenwelt der Figuren endet und die fiktionale Wirklichkeit beginnt. Das macht es so schwer zu beschreiben, worum es in dem Roman eigentlich gilt. Denn die vielfältigen Bilder, Symbole, Anspielungen und Verweise lassen sich kaum vollständig nach einmaligem Lesen deuten. Demnach ist die nachfolgende Inhaltsangabe mehr als persönliche Deutung der Geschichte zu sehen als als eine Zusammenfassung, die Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Familie Mohn hat die Mutter bzw. Ehefrau verloren und steht nun mitten im Trauerprozess. Der Trauerbeamter Ginster hat eine ganz genaue Vorstellung, wie man richtig trauert und versucht, den Prozess zu überwachen. Doch die Mohns wollen sich nicht vorschreiben lassen, wie man sich von einem geliebten Menschen verabschieden - weder von Behörden noch von den Nachbarn. Und schon gar nicht wollen sie, dass jemand anderes entscheidet, wie sie sich an die verstorbene Johanne erinnern sollen. Denn Trauer - das sollte doch etwas Privates sein. Und so verspeist die Familie - welch Sinnbild - Stück für Stück die Tagebücher der Frau. An Stelle der Erinnerungen eines Lebens setzen sie Geschichten und Erinnerungen anderer. Ob diese zutreffen oder doch eher Ausdruck einer Art Rückeroberung des Trauerprozesses sind, bleibt offen.

Vor Schulte zeichnet eigenwillige Figuren, die sich dem Leser bis zum Schluss nicht vollständig erschließen. Bidlreich erzählt sie von einem Außen, dass immer mehr in sich zusammenfällt, während eine Familie nach der Stabilität im Innen sucht. Und während der Leser gerade denkt, er habe etwas verstanden, wechselt die Erzählung wieder rasant die Richtung. Und so gelingt es auch ihm nicht, die Verstorbene Frau und den individuellen Trauerprozess der Familie Mohn zu fassen. Das macht die Erzählung zum einen spannend. Zum anderen ist diese experimentelle Herangehensweise nicht gerade zugänglich. Schlangen im Garten ist daher kein Roman, den man zur Entspannung nebenbei lesen kann. Diejenigen, die nicht gut mit literarischer Offenheit und Ambiguität umgehen können, sollten lieber zu einem anderen Werk greifen. Schriftstellerisch ist das Buch aber ein Kunstwerk.

Bewertung vom 03.09.2022
Auf See
Enzensberger, Theresia

Auf See


ausgezeichnet

"Sie sagte nicht, was sie dachte, dass nämlich die Firmen, denen die Theater und Ausstellungsräume gehörten, genau diese Art von entleerter Kritik wollten, gerade weil sie jede politische Positionierung vermied."

Private Theater, in denen gesellschaftskritische Stücke nur deswegen aufgeführt werden, weil sie zu entpolitisierter "Toll, dass sowas aus gezeigt wird"-Kritik wird. Wirbel um eine Frau, die per Social Media Prophezeiungen verbreitet, die eigentlich als Witz gemeint sind, und so unfreiwillig zum Orakel wird. Investoren, die gläserne Bürotürme und Businesslunch-Restaurants finanzieren, während die, die sich keinen Wohnraum mehr leisten können, im Berliner Tiergarten die Zelte aufschlagen. Eine Dystopie der wirtschaftsliberalen Future Simple - wie die Zukunft bei Enzensberger heißt? Oder doch ein sehr fein gezeichnetes Bild unserer Gegenwart - einen kleinen Hauch überzeichnet vielleicht?

Die Grenzen zwischen aktueller Gesellschaftskritik und Science Fiction Roman verschwimmen in Theresa Enzensberges "Auf See", das zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises zu finden ist. Geschickt zeichnet sie das Bild einer nicht all zu fernen Zukunft, in der Europa laut Yadas Vater zerstört wurde. Eine in Teilen postapokalyptische Welt, die für andere ein Zuhause darstellt. Dabei verknüpft sie zunehmend in den "Archiv-Kapiteln", die immer wieder im Buch auftauchen, Recherchen über nicht-fiktionale Aufschneider und Betrüger mit der Romanhandlung. Die fiktionalen Geschehnisse sind nur immer einen Denkschritt von der Realität entfernt und so passierte es öfter, dass ich Freunden von der future simple erzählt und ein "Das ist doch jetzt schon so" als Antwort erhielt. Die Metallenen verknüpft die Autorin hier also sehr gelungen.

Obwohl der Roman damit durchaus als experimentell gelten kann, zeichnet er sich durch eine wahnsinnig gute Zugängigkeit aus. Die Geschichten der Künstlerin Helena und von Yada, das Mädchen, das in der Seestadt - einem Utopieprojekt - aufwächst, lesen sich auch ohne Realitätsbezüge äußerst spannend. Ob die Seestadt als Gegenentwurf taugt und ob sie wirklich der utopische Ort sein bzw. werden kann, als der sie entworfen wird, muss der Leser entscheide.

Besonders gut gefallen hat mir, dass in diesem Roman (fast) nur Frauen zu Erzählerinnen und Handelnden werden. Gerade Yada wächst dem Leser als junges, selbstbewusstes Mädchen schnell ans Herz. Dieser feministische Aspekt zeigt sich auch in der Sprache: Subtil wird hier immer wieder von Ärztinnen, Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen gesprochen.

"Auf See" zählt zu den Romanen, die durch ihre erzählerische Kraft genauso wie durch ihre kluge Machart überzeugen. Im Nachhinein zeigen sich noch so viele Metallenen und Anspielungen, dass man immer wieder etwas Neues darin finden kann. Eine große Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.08.2022
Intimitäten (eBook, ePUB)
Kitamura, Katie

Intimitäten (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Hauch von Unglaubwürdigkeit, und in der Aussage des Zeugen erstanden feine Risse, die sich zu Spalten weiteten, was schließlich die ganze Person, als die sich jemand vor Gericht präsentierte, in Frage stellt.
Diese Unglaubwürdigkeit durch schlechte Übersetzungen verhindern - das ist die wichtigste Aufgabe der namenlosen Ich-Erzählerin, die als Übersetzerin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag arbeitet. Seit nicht mal einem Jahr ist sie in der Stadt, kennt kaum jemanden und soll nun als Schwangerschaftsvertretung im Verfahren gegen einen Ex-Präsidenten aus einem afrikanischen (nicht näher benannten) Staat dolmetschen. Im Gerichtssaal stellt sich bald heraus, dass etwas moralisch falsch, aber rechtlich richtig sein kann. Und die Protagonistin verliert darüber mehr und mehr ihre innere Distanz, fragt sich, um welchen Preis ihre Kolleginnen die Gleichgültigkeit wahren.

Im Vordergrund des Romans steht für mich die Frage: Was sind Stabilität und Sicherheit? Denn nicht nur innerhalb ihres Jobs scheint die Hauptfigur auf der Suche zu sein, sondern auch in ihrem Privatleben. An vielen Stellen wird zwischen den Zeilen deutlich, dass sie sich ausgeschlossen fühlt. Auch wenn das nie direkt in ihren Gedanken zur Sprache kommt, die beklemmende Stimmung bleibt. Auch die Gepflogenheiten der Niederländer kennt die Figur noch nicht gut genug, als dass sie Verhalten eindeutig deuten kann. So bleibt das ein oder andere Treffen mit potentiellen Freunden oberflächlich. Und während Jana - die einzige Freundin der Protagonistin - in ihrer neuen Wohnung Stabilität findet, ist die Hauptfigur noch immer auf der Suche nach selbiger.

Was diesen Roman so gut macht, ist seine Abstimmung von Inhalt und Sprache. Unsicherheit, Beklemmung und Distanz werden nie direkt thematisiert, sondern über die Art des Erzählers kunstvoll aufgebaut. Oft fragt sich der Leser, wieso sich die Situation gerade unwohl anfühlt. Woher die Beklemmung kommt. Das leistet Katie Kitamura über das Erzählen. Ebenso gut gelingt es ihr, Sprache und Haltung der Hauptfigur zueinander zu bringen. Als Dolmetscherin fühlt sie sich oft wie ein Medium, wie ein Gefäß, durch das die Worte hindurchgehen, so die Erzählerin. Daher wertet sie im Gerichtssaal nicht, vergisst oft sogar, worum es eigentlich geht. Stattdessen sitzt sie in ihrer Beobachterkabine, fast unbeteiligt, aber zumindest außerhalb des Geschehens. Genau mit dieser Haltung wird auch die Romanhandlung erzählt. Am Anfang fand ich diese große Distanz irritierend, je besser ich die Protagonistin kennengelernt habe, umso besser habe ich die Haltung mit der Erzählweise in Verbindung bringen können.

Auf den ersten Blick scheint Intimitäten ein ruhiger Roman zu sein, der allenfalls durch die spannenden Einblick in die Verfahren am Gerichtshof (die übrigens recht genau recherchiert wurden) an Fahrt gewinnt. Doch auf den zweiten Blick kann das Buch durch seine gelungene Verquickung von Erzählweise, Sprache und Inhalt absolut punkten.