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Leselampe
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Osnabrück

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Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 16.04.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


weniger gut

Finistère

Wer hier eine leichte Sommerlektüre mit Liebe und Herz erwartet und erhofft, dürfte wahrscheinlich enttäuscht sein, zumindest aber falsch liegen. Über dem gesamten kurzen Roman liegt eine melancholische Grundstimmung. Insoweit passt das Cover mit seinen gedämpften Farben dazu.

Die jugendliche Hélène, die weltoffene Lehrerin Marguerite und die verwitwete Ladenbesitzerin Odette treffen in einem kleinen bretonischen Dorf aufeinander. Hélène sucht noch nach ihrem Weg im Leben, ist begeistert von Marguerite, die ihr literarisches Talent fördert und sie unterstützt. Zudem fühlt sie sich zu Marguerites Ehemann und Schriftsteller Raymond stark hingezogen. Die Lehrerin bringt Pariser Flair in das abgelegene Dorf und sucht dort heimlich nach ihrer Mutter. Odette wiederum wurde als junges Mädchen in Paris von ihrem Dienstherrn vergewaltigt und kehrte einst traurig und enttäuscht in ihr Heimatdorf zurück. Die Schicksale der Hauptpersonen werden über verschiedene Zeitebenen zusammengeführt.

Die Eigenheiten des abgelegenen französischen Landstrichs hat Claire Léost gut herausgearbeitet, auch ihr Sprachstil gefällt mir. Das Finistère, das Ende der Erde, mit seinem regnerisch verhangenen Himmel, mit seiner schroffen Landschaft hat auf seine Bewohner abgefärbt und sie eigenbrötlerisch, aber auch stolz werden lassen. Yannick, Hélènes Freund, verkörpert das Aufbegehren gegen den französischen Zentralismus und hängt einem manchmal gefährlichen Nationalismus an, Alexine, Hélènes Großmutter steht als Druidin und Kräuterfrau für das Geheimnisvolle und Mystische. Ansonsten erscheint die gesamte Geschichte wie der bloße Entwurf für einen Roman, Vieles bleibt nur angerissen und nicht ausgearbeitet, und das Handeln der Personen wirkt oft nicht plausibel auf mich. Je weiter ich gelesen habe, desto weniger konnte das Buch mich begeistern.

Bewertung vom 22.03.2024
Das Opernhaus: Rot das Feuer / Die Dresden Reihe Bd.2
Stern, Anne

Das Opernhaus: Rot das Feuer / Die Dresden Reihe Bd.2


sehr gut

Dresden - Zeit der Umbrüche

Dresden im bewegten Jahr 1849: Die Romanhandlung umfasst nur wenige Monate und zeigt damit, wie ereignisreich und umwälzend sich die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland darstellt. Die Stimmen der Arbeiter und Bürgerlichen nach größeren Freiheitsrechten und der Frauen nach Gleichberechtigung verschaffen sich zunehmend Gehör.

Eingebettet in die historischen Zusammenhänge nehmen wir weiterhin Anteil am Schicksal Elise Spielmanns (jetzt Jacobi) und ihres Mannes Adam, dazu der Adoptivtochter Netty - eine Fortführung der Ereignisse des ersten Teils der Romanreihe. Während der Komponist und Journalist Adam Jacobi den traditionsbewussten und konservativen Part verkörpert, der weiterhin an Monarchie, Obrigkeit und Vorrangstellung des Mannes festhält, regen sich in Elise fortschrittliche Denkweisen. Sie fühlt sich zunehmend gefangen in der Rolle der bürgerlichen Gattin, der es vom Ehemann lediglich zugestanden wird, hin und wieder bei kleineren Konzerten ihr Talent als Violinistin zu zeigen. Ein zufälliges Wiedersehen mit dem Kulissenmaler Christian Hildebrand lässt die Liebe zwischen beiden erneut aufflammen.

Entschieden für die Revolution und demokratische Rechte kämpfen die Arbeiter und Hausangestellten, aber auch Künstler am Theater und andere Intellektuelle. Christian fungiert als Bindeglied zwischen den Arbeitern am Theater und den Bürgerlichen in der Belegschaft. Sie alle wollen gemeinsam für die Rechte und Werte eintreten, die ihren Ausgang in der Französischen Revolution genommen haben.

Geschickt hat Anne Stern die fiktive Romanhandlung um Elise, Christian und interessante Nebenfiguren in die historischen Gegebenheiten der Maiaufstände eingebunden. Reale Persönlichkeiten wie der Kapellmeister Richard Wagner, der Erbauer der Semperoper Gottfried Semper und Louise Otto als Vertreterin der aufkommenden Frauenbewegung machen den Roman authentisch. Eingestreute Briefe und andere Dokumente untermauern diesen Anspruch. Mit ihrem Epilog bietet uns die Autorin vertiefend eine genauere geschichtliche Einordnung, die ich sehr hilfreich fand.

Einzig der gut fünfunddreißig Jahre früher spielende Prolog mit den tragischen Ereignissen um Clementine bleibt in der weiteren Romanhandlung lange Zeit unverbunden und rätselhaft stehen. Für diese spannende Frauengestalt hätte ich mir mehr Raum, Einfluss und sinnvolle Verknüpfung gewünscht.

Als nette Beigabe im vorderen Umschlag bietet der historische Stadtplan Dresdens Orientierung zu den Schauplätzen. Das prägnante Cover hat hohen Wiedererkennungswert: Das gleiche Frauenportrait wie beim ersten Band in anderem Anschnitt, der glänzend-farbige Kreis mit identischem Titel und jeweils gleichartigem Untertitel. Auch der letzte Band der Trilogie wird so gestaltet sein; auf sein Erscheinen im August freue ich mich.

Bewertung vom 15.03.2024
Annas Lied
Koppel, Benjamin

Annas Lied


ausgezeichnet

"What are you doing the Rest of your Life?"

"Ich liebe dieses Lied. Das ist mein Lied. Aber Du darfst es gern haben." (S. 525).

So äußert sich Anna - im Roman Hannah genannt - kurz vor dem Ende eines langen Lebens zu ihrem Großneffen Benjamin Koppel. Erst spät durfte und konnte Hannah ganz für sich selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollte und die Musik in den Mittelpunkt stellen.

Aufgewachsen ist Hannah im Kopenhagen der Zwischenkriegszeit, in einer weitverzweigten, lärmenden und lebensfrohen Familie mit starken jüdischen Traditionen. So war ihr Weg vorbestimmt und zeigte Grenzen auf. Während ihre älteren Brüder aus den Vorschriften des Glaubens ausbrechen konnten, konzentrierten sich die Hoffnungen vor allem ihrer Mutter Bruche auf die Tochter, das "kleine Bufkele". Und dieser Mutter, die zu Gewaltausbrüchen neigte, konnte Hannah sich nicht widersetzen. Für sie galten "andere Regeln, weil sie ein Mädchen war. Andere Regeln, weil die Religion und die Familientradition etwas anderes, etwas mehr von ihr forderten." (S. 501). Die Eltern suchten den passenden Ehepartner Francois aus, Hannahs erste (und einzige) Liebe Aksel hatte keine Chance gegen eine arrangierte Verbindung im jüdischen Glauben. Während die Brüder ihre erfolgreichen Musikerkarrieren starteten, musste die ebenfalls sehr begabte Hannah sich in Paris einem Ehemann unterordnen, der ihr die Musik und das Musizieren quasi untersagte. Da sie ihm statt des erwünschten Stammhalters drei Mädchen gebar, bekam sie häufiger schmerzhaft seine Hand zu spüren, wurden die Töchter vom Vater kaum beachtet.

Aufleben konnte Hannah so erst nach dem Tod des Ehemanns, und während sie ihr von Musik erfülltes Leben aufnimmt, den Kontakt zu anderen Familienmitgliedern nicht mehr sucht, macht sie ihr Großneffe Benjamin Koppel ausfindig, der Autor und "Kompositeur" dieses Romans. Liebevoll, mit großer Achtung vor Anna und in wunderschönem Rhythmus erzählt er von diesem Leben, geprägt von Pflichten, Enge und Unterdrückung. Dennoch hat Anna sich ihre Träume, ihren Glauben an die Liebe und die Musik bewahrt und ist nicht verbittert geworden.

Sprachlich vermittelt Koppel Einiges aus der jüdischen Kultur, und wer sich beim Lesen die Mühe macht, einige jiddische Begriffe nachzuschlagen, wird mit einem tieferen Verständnis der Geschichte belohnt.

Das Cover mit Edward Hoppers "Room in New York" ist perfekt gewählt, um die Protagonistin zu charakterisieren: die teils melancholische Grundstimmung, das Alleinsein, die Sehnsucht, die Kraft der Musik.

Für mich eine wunderschöne Lektüre!

Bewertung vom 06.02.2024
Stars In Your Eyes (eBook, ePUB)
Callender, Kacen

Stars In Your Eyes (eBook, ePUB)


sehr gut

Traumfabrik begegnet dem Leben

"Stars in your eyes" hatte ich sehr bewusst ausgewählt; der Reiz für mich lag darin, etwas zu entdecken, was so völlig außerhalb meiner eigenen Lebenswelt liegt. Eine Geschichte, die in der glitzernden Filmwelt Hollywoods spielt, New-Adult-Protagonisten, homosexuelle Beziehungen junger Männer. Und ebenso bewusst hatte ich mich für die Hörbuchfassung entschieden, um zu erfahren, wie sich die Rezeption eines Romans im Gesprochenen verändert bzw. wie gut die Umsetzung unter dem Einfluss von Sprechern funktioniert.

Vorweggenommen: Weder vom Plot noch vom Medium bin ich enttäuscht worden, im Gegenteil! Eine so mitreißende Story mit Tiefgang hatte ich keineswegs erwartet.

Die beiden gegensätzlichen Charaktere Matthew Cole und Logan Gray werden für einen gemeinsamen Film engagiert. Beide sind homosexuell und farbig. Sie erzeugen von Beginn an eine anhaltende Spannung, die mich als Leserin/Hörerin fasziniert hat. Da ist Mattie, der nette, liebenswerte und unbedarfte Sunnyboy: Er wirkt noch sehr jung, unsicher, schaut zu allen Schauspielerkollegen am Set auf und kämpft mit seinem Lampenfieber. Sein Counterpart ist Logan, der den Bad Boy zu seinem Markenzeichen gemacht hat und die Öffentlichkeit stets mit neuen Geschichten um Sex, Drogen, Alkohol versorgt. Beide werden zu einer Fake-Beziehung für eine bessere PR der gemeinsamen Filmproduktion gedrängt. So lernen sie sich zunächst gezwungenermaßen besser kennen und schließlich schätzen und lieben und entwickeln sich in ihren Persönlichkeiten weiter.

Sie haben auf mehreren Ebenen mit Herausforderungen zu kämpfen: Die Filmrollen, in denen sie glaubwürdig ein Liebespaar verkörpern sollen, die weitere Rolle der Fake-Beziehung in der Öffentlichkeit, durch allgegenwärtige Social Media und Paparazzi stets unter Beobachtung, Kommentierung und Bewertung. Am herausfordernsten gestaltet sich ihr eigentliches privates Leben, denn hier kommen die Traumata, Verletzungen und der Schmerz hervor, die dem Roman letztlich wirklichen Tiefgang verleihen und die ihn richtig gut werden lassen. Wahrlich keine 0815-Love-Story!

Das Hörbuch gewinnt durch die Sprecherstimmen und deren Interpretation der Charaktere eine weitere Ebene hinzu: Lukas von Horbatschewsky und Alexander von Kalff verleihen Mattie und Logan ihre Stimmen, kapitelweise übernimmt jeweils einer von beiden die Ich-Erzähler-Perspektive. Dadurch wirken die Hauptakteure authentischer und eindringlicher. Mattie kommt stimmig herüber, mit teils atemloser, teils unsicherer oder stockender Stimme, manchmal meint man das Lächeln des Sunnyboys förmlich zu hören. Logan wiederum klingt dunkler, flüssiger, distanzierter, resigniert. Julia Kothe ist für alle Beiträge mit Pressestimmen, Twitterposts, Blogs, Videobeschreibungen, Fan fiction etc. zuständig und macht das absolut treffend. Kacen Callenders angenehmer Sprachstil tut ein Übriges.

Der einzige Nachteil des Hörbuchdownloads ist für mich, dass ich - im Gegensatz zum gedruckten Buch - das Cover nicht im Original anschauen und anfassen kann. Das dunkle Blau, das glitzernde Gold und die beiden miteinander verschmelzenden Gesichtsanschnitte der Abbildung gefallen mir aber sehr gut. Noch kurz zur Triggerwarnung: Bereits im ersten Track wird darauf verwiesen, dass es im letzten Track eine ausführliche Warnung gibt. Ihr sollte auf jeden Fall Beachtung geschenkt werden, wenn die angesprochenen Themen belastend sein könnten.

Bewertung vom 30.01.2024
Spur und Abweg
Tallert, Kurt

Spur und Abweg


gut

Mahnung

Kurt Tallerts Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Familiengeschichte ist nicht leicht zu lesen und zu verdauen. Der Autor ist Jahrgang 1986, durch seinen Vater, der bei der Geburt des Sohnes bereits 58 Jahre alt war, aber der Generation der Kriegsenkel zuzuordnen. Der Vater Harry Tallert wurde als "Halbjude" im Nationalsozialismus verfolgt, überlebte, war aber Zeit seines Lebens auf besondere Art beschädigt, suchte vielfach im Alkohol Zuflucht und konnte die Haltung vieler Mitbürger in Westdeutschland nicht verstehen, sich mit der Vergangenheit so gar nicht auseinanderzusetzen. Wer waren die Täter, wer die Opfer, wer gehört wohin und wo verschwimmen die Grenzen?

Weit nach dem Tod des Vaters - Kurt ist zu diesem Zeitpunkt erst zwölf Jahre alt - begibt sich der Sohn auf eine Reise zu den Orten der Vergangenheit, zu Vernichtungslagern und Gedenkstätten, nutzt hinterlassene Dokumente des Vaters, um sich ihm, seiner Familie, der Verfolgung, den Qualen und Demütigungen anzunähern. Schließlich wendet er sich brieflich an seine jüdische Urgroßmutter Berta, die er natürlich nie kennenlernen konnte.

Mit Kurt Tallerts Stil hatte ich doch häufig Schwierigkeiten. Soweit er eigene Kindheitserinnerungen an den Vater ansprach, Notizen, Fotos und Dokumente heranzog und insgesamt anschaulich blieb, konnte ich seine Gedanken gut nachvollziehen. Zudem konnte ich vermittelt durch Briefe und schriftliche Erinnerungen seines Vaters auch diesen kennenlernen - einen Zeit seines Lebens politisch aktiven Menschen, der sich mit der NS-Vergangenheit aktiv auseinandersetzte. In weiten Teilen wurde mir das Sachbuch jedoch zu theoretisch und philosophisch, teils nahezu unverständlich. Das ist schade, denn das Thema ist so ungeheuer wichtig, gerade heute und für jeden von uns. Wo und wie begegnen wir aktuell Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierung?

Bewertung vom 30.11.2023
Lindy Girls
Stern, Anne

Lindy Girls


gut

Frauenaufbruch, der swingt

Berlin, Ende der 1920er Jahre: Es ist die Glanzzeit der Tanzrevue-Girls, der Varietés, der sich emanzipierenden Frauen, doch düster zieht bereits der Nationalsozialismus auf, mit Gewalt gegen Andersdenkende, mit dem Verlust vieler Freiheiten. In diesem Spannungsfeld siedelt Anne Stern ihre Geschichte um die "Lindy Girls"an, eine zusammengewürfelte Truppe von acht Frauen, die von ihrer Choreografin Wally Kaluza zu einer modernen Charlestongruppe geformt werden. Zwei der Tänzerinnen, Alice und Thea, dazu Wally und die Schreibkraft Gila aus einer Zeitungsredaktion werden in den einzelnen Kapiteln näher vorgestellt: ihre Persönlichkeit, ihr jeweiliger familiärer Hintergrund, ihre Probleme, ihre Wünsche an ein eigenständiges Leben, ihre mutigen Ziele. Gleichzeitig wird die eigentliche Handlung - die Entwicklung und die Fortschritte der Tanzgruppe - vorangetrieben.

Die Schnelllebigkeit der "Goldenen Zwanziger" mit neuen Musikrichtungen, motorisiertem Verkehr, Hunger nach Vergnügungen, Drogenabhängigkeit - all das hat die Autorin historisch treffend eingefangen. Zudem hat sie reale Schauplätze - wie das "Nelson Theater" und damals lebende Personen in die Handlung eingebunden, was den Wert der genauen Recherche zeigt. So weit hat mir der Roman wirklich gut gefallen.

Irritierend fand ich es, die Perspektive nicht auf die vier Frauen zu beschränken, sondern ab Kapitel acht auch drei Männer mit ihren Sichtweisen in eigenständigen Abschnitten zu berücksichtigen: Da sind Jo, der Eintänzer, Toni, der sich als Manager in die Tanzgruppe drängt, und schließlich Friedrich, ein junger Straßenbahnschaffner. Dieser Aufbau hat dem Roman nicht gut getan; es hätte völlig ausgereicht, die drei Männer weiterhin in den Frauen-Kapiteln zu erwähnen. Für mich hat die gewählte Form den Spannungsbogen und Lesefluss gestört, und ich war stets froh, wenn eine der Frauen wieder an der Reihe war. Als etwas befremdlich empfand ich es zunächst, dass bei Gila zur Form der Ich-Erzählerin gewechselt wurde, doch die erfrischende Art dieser Schreibkraft mit schriftstellerischen Ambitionen kam dadurch gut zur Geltung.

Mein persönliches Fazit bleibt damit gemischt: Einerseits ist Anne Stern ein Roman von mitreißendem Rhythmus gelungen, andererseits hätte es dem Plot viel besser gestanden, den Fokus deutlicher auf die Frauen zu legen.

Bewertung vom 03.11.2023
Florence Butterfield und die Nachtschwalbe
Fletcher, Susan

Florence Butterfield und die Nachtschwalbe


ausgezeichnet

Very nice to meet you, Florrie

Schauplatz der Geschichte ist die Seniorenresidenz Babbington Hall. Hier lebt seit kurzem Florence Butterfield, die Hauptfigur des Romans - 87 Jahre alt, klein, füllig, Rollstuhlfahrerin, wach, interessiert und herrlich selbstironisch. Ich musste sie einfach gern haben. Trotz aller Höhen und Tiefen in ihrem Leben, trotz aller Schicksalsschläge, Verluste und Verletzungen hat sie sich ihre lebensbejahende Grundeinstellung bewahrt: "Sie neigt [ohnehin] dazu, glücklich zu sein" (S.46). Vielleicht kann sie gerade deshalb nicht glauben, dass ihre Heimleiterin Renata Green einen Selbstmordversuch unternommen haben soll. Etwas anderes muss dahinterstecken. Und so beginnt Florence in der Residenz nachzuforschen, unterstützt von Mitbewohner Stanhope.

Die eigentliche Krimihandlung spielt in der Gegenwart auf dem weitläufigen Gelände des Seniorenheims. Bestimmte Ereignisse, Gegenstände, Gedanken sind für Florrie immer wieder Anlass, auf ihr wahrlich ereignisreiches Leben zurückzublicken: Da gab es die beste Freundin, die Familie mit Mutter, Tante und Bruder, sechs Männer, die jeweils eine Lebensphase begleiteten, und zahlreiche weite Reisen.

Susan Fletcher ist ein Krimi gelungen mit zwei sehr eigenwilligen Ermittlern, die sie liebevoll mit vielen Details beschreibt und charakterisiert. Man merkt der Autorin an, dass sie selbst ein Faible für ihre Romanfiguren hat. Gelungen ist zudem weit mehr als ein Krimi, nämlich die Lebensgeschichte einer wunderbaren, liebenswerten und Liebe schenkenden Frau, die bis in ihr hohes Alter unerschütterlich optimistisch und voller Lebensmut geblieben ist.

Bewertung vom 28.10.2023
Das Buch Eva
Clothier, Meg

Das Buch Eva


sehr gut

Ein Buch mit Fantasie

Das wunderschön gestaltete Cover, der feministisch zu deutende Titel und der verheißungsvolle Untertitel haben mich für "Das Buch Eva" begeistert. Ein schwarzer Hintergund, feine botanische Zeichnungen, goldene Verzierungen, unbekannte Schriftzeichen - diese Umschlag-Elemente sind sehr passend auf den Inhalt abgestimmt. Der gewählte Schauplatz, ein Nonnenkloster im Italien der Renaissance, ist perfekt, um in einen Mikrokosmos mit ganz eigenem Rhythmus, ritualisierten Tagesabläufen und Hierarchien einzutauchen. Hier begegnen uns - neben einigen weltlichen Gästen - vor allem Nonnen und Novizinnen, die ihren jeweils festgelegten Aufgaben in der Gemeinschaft nachgehen. Angeführt werden sie von Mutter Chiara, einer starken und furchtlosen Persönlichkeit. Einzelgängerin Beatrice, zuständig für die Bibliothek mit ihren wertvollen Manuskripten, wird durch das mysteriöse Buch Eva zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte: Das Buch entwickelt zunehmend ein Eigenleben, wird von machtgierigen Kirchenmännern, allen voran Bruder Abramo, begehrt. Die Männer schrecken vor Gewalt gegen Frauen nicht zurück, verbreiten Angst und Schrecken im Kloster und darüber hinaus...

Während die Geschichte zunächst langsam beginnt und uns mit dem zurückgezogenen Klosterleben bekannt macht, gewinnt die Handlung mehr und mehr an Dynamik, bekommen Fantasy-Elemente immer größeres Gewicht, je stärker die Gefahr für die eigenständigen Frauen heraufzieht.

Meg Clothiers Schreibstil unterstützt die Handlungsdynamik: Beatrice als Ich-Erzählerin schafft spürbare Nähe zum Geschehen, zu ihrer Freude, ihrem Mut, ihrer Angst und Verzweiflung; das Präsens als durchgängiges Tempus gefällt mir, lässt es mich doch als Leserin stark an der Geschichte teilnehmen und mit zunehmendem Tempo fast Atemlosigkeit empfinden - zumindest hatte ich bei den letzten einhundert Seiten den Eindruck, immer schneller zu lesen, und konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Die Autorin hat sich zu ihrem historischen Roman vom realen Voynich-Manuskript aus dem 15. Jahrhundert inspirieren lassen, einem Text, der bis heute nicht entschlüsselt ist. Schaut man sich bei Wikipedia eine Textprobe zu diesem Manuskript an, so fällt ein bestimmtes Zeichen auf, das hier im Buch jeweils die Kapitelanfänge ziert.

Bewertung vom 01.10.2023
Der Weg ins Apfelreich
Fredriksson, Anna

Der Weg ins Apfelreich


gut

Familienstärke

Was für eine wunderbare Herbstgeschichte im ländlichen Schweden! Zu Beginn fand ich es etwas schwierig, in die Problem beladene und verzwickte Familiengeschichte hineinzufinden, da mir viele erwähnte Personen nicht bekannt waren. Das kann ich dem Roman der Herbstsaga aber nicht anlasten, sondern meinen mangelnden Vorkenntnissen der beiden vorhergehenden Bände der Trilogie.

Den drei Protagonistinnen - Großmutter Vanja, ihrer Tochter Sally und Enkelin Josefin - konnte ich Kapitel für Kapitel näher kommen, ihre jeweils wechselnden Blickwinkel einnehmen. So ergibt sich ein differenziertes Bild ihrer Ansichten, Gedanken, ihrer Sichtweisen auf das Leben, wie sie es gestalten möchten, mit welchen Problemen sie sich dabei konfrontiert sehen. Tragend dabei sind die Beziehungen der drei Frauen untereinander, in deren Familiengeschichte es vieles zu klären gibt. Können sie einander verstehen, vergeben, Gemeinsamkeit entwickeln?

Die jahreszeitliche Stimmung, die Farben, die Landschaft, die Gerüche - all das hat Anna Fredriksson treffend eingefangen. Der Sprachstil ist lebendig und abwechslungsreich mit vielen Anteilen wörtlicher Rede. Das Cover strahlt herbstlich-milde Wärme aus, die sonnigen Farbtöne von Gelb über Orange bis Dunkelrot wirken einladend und anheimelnd. Das abgebildete Bed & Breakfast steht wohl für Sallys "Pension Pomona". Hier möchte man sich gern verwöhnen lassen.

Bewertung vom 13.08.2023
Salz und Schokolade / Halloren-Saga Bd.2
Martin, Amelia

Salz und Schokolade / Halloren-Saga Bd.2


sehr gut

Schokoladenhistorie

Amelia Martin macht uns in ihrem Roman mit der Geschichte von Deutschlands ältester Schokoladenfabrik vertraut. In Halle an der Saale gelegen, tauchen wir zugleich ein in die Traditionen der Halloren, wie die Bruderschaft der Salzwirker genannt wird. Der historische Roman umfasst den Zeitraum von 1905 bis 1923, eine Zeit der Umbrüche auf vielen Ebenen: Die Schokoladenfabrik der Familien Mendel und David wandelt sich vom kleinen Handwerksbetrieb zur Manufaktur, in der Führung bahnt sich ein Generationenwechsel an, Deutschland steuert mit Kaiser Wilhelm II. auf den ersten Weltkrieg zu, und gesellschaftspolitisch erstarkt die SPD mit fortschrittlichen Forderungen für die Arbeitswelt und das Frauenwahlrecht. Die Vereinigten Staaten von Amerika locken nicht wenige, in ein freies Land mit mehr individuellen Möglichkeiten aufzubrechen.

Das Aufbegehren geht auch an den Protagonisten der Romanhandlung nicht spurlos vorüber: Die Töchter Cäcilie und Elise David entwickeln andere Vorstellungen von ihrer Zukunft als die Eltern es für sie vorgesehen haben, mit einer ehelichen Verbindung der Familien David und Mendel. Die ältere lebt ihren Freiheitsdrang beim Reiten und einer Liebelei aus, die jüngere träumt von einer beruflichen Perspektive. Demgegenüber stehen Julius und Friedrich Mendel als Nachfolger der Fabrik. Julius, vorbestimmt als Ehemann Cäcilies, hat nur Augen für Ida, eine Salzwirkertocher und damit nicht standesgemäß. Mit den Figuren Jonni und Emmi ist auch noch die Handwerker- bzw. Arbeiterschaft präsent.

Über allem schwebt das Damoklesschwert des heraufziehenden ersten Weltkriegs, mit Folgen auch für Julius und Friedrich - über den Prolog wird das Schlachtgeschehen teils vorweg genommen und später in der chronologischen Handlung wieder aufgegriffen. So wird der Spannungsbogen bis zuletzt aufrecht erhalten.

Der Autorin ist es sehr gut gelungen, die zeitgeschichtliche Ebene mit den persönlichen Schicksalen der Protagonisten zu verknüpfen, zugleich erfahren wir Einiges über die Schokoladenproduktion und die Lebensweise unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten. Genau das finde ich an historischen Romanen so reizvoll. Der Schreibstil ist lebhaft und gut lesbar. Während über weite Strecken durchaus gemächlich erzählt wird, ging es mir zum Ende hin fast zu schnell. Wünschenswert ist eine Fortsetzung der Familiengeschichte für die Zwischen- und Nachkriegszeit. Ein bereits erschienener Band deckt die Zeit ab 1950 ab, so wäre die Lücke zu schließen.

Das Cover hat mich zusammen mit dem Buchtitel sehr angesprochen; ich finde es stimmig, um das Zeitkolorit zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einzufangen.