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Benutzername: 
lesedelfin
Wohnort: 
berlin

Bewertungen

Insgesamt 20 Bewertungen
12
Bewertung vom 17.08.2022
Auf See
Enzensberger, Theresia

Auf See


sehr gut

Was für eine Kraft dieser Roman hat!

Theresia Enzensberger entwirft in "Auf See" eine Welt in der (nahen) Zukunft. Deutschland versinkt im Chaos, Mietenwahnsinn, Inflation und Unruhen kulminieren in einer Welt der Extreme. Yada, die Protagonistin, wächst auf der Seestatt unter den wachsamen und kontrollierenden Augen ihres Vaters auf. Sie ist eine grandiose Erzählerin und ihre Perspektive hat mir immer gut gefallen.

Die Autorin erzählt allerdings mehrperspektivisch und streut Wissen aus dem "Archiv" ein, Geschichten aus libertären Utopien von Staatsneugründungen und der Erfindung des Neoliberalismus. Damit gelingt ihr tatsächlich eine solide Kritik und ein Roman mit einer außergewöhnlichen Wucht und Kraft.

Einzig gegen Ende fand ich die verschiedenen Stränge der Geschichte etwas inkonsequent und wirr miteinander verbunden.

Bewertung vom 09.08.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


gut

»Sanfte Einführung ins Chaos« ist von der katalanischen Autorin Marta Orriols, von deren Erfolg ich bereits im Vorhinein Wind bekam und mich riesig über die deutsche Übersetzung freute. Leider muss ich zwar sagen, dass die Übersetzerin Ursula Bachhausen einen guten job gemacht hat, einige Stellen für mich jedoch unrund klangen.

Orriols ist eine verblüffend gute Erzählerin, das steht außer Frage. Man wird tatsächlich sanft in das Chaos eingeführt. Ein Liebespaar, wie man es doch kennt, Anfang 30, die Hörner sind gegebenenfalls schon "abgestoßen", es folgt eine große Neugier auf die Sesshaftigkeit, die klare Linie, einen Verlaufsplan für die nächsten Jahre oder gleich das ganze Leben. Diese Geregeltheit wird jäh durchbrochen von Martas Ankündigung: "Ich bin schwanger. Und ich möchte das Kind nicht bekommen."

Natürlich folgen daraufhin Konflikte, Rückblenden auf ihre Kindheit finden statt, auf die wilden 20er. Körperautonomie, persönliche Freiheit, moderne Partnerschaften und Sexualität werden thematisiert.

Orriols wurde dafür sogar mit Margaret Atwood verglichen. Dem kann ich leider absolut nicht zustimmen. Sexualität hat einen klischeehaften Touch, die "Einblicke" in die beiden Hauptfiguren haben mir keinen klaren Blick beschert, sondern mich stellenweise sogar zutiefst gelangweilt.

Ich hatte mit einer brisanteren, unangenehmeren und womöglich auch klügeren Auseinandersetzung mit einem brandheißen Thema gerechnet und wurde ganz leicht enttäuscht zurückgelassen.

Bewertung vom 20.07.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


ausgezeichnet

»Die Ewigkeit ist ein guter Ort« ist einer dieser Romane, die mich sofort gefesselt haben. Die Autorin schreibt zwischen poetisch und nüchtern-direkt, changiert zwischen den Stilen und schafft so eine Unmittelbarkeit, dass man sofort ins Geschehen rutscht. Die Heldin Elke ist Seelsorgerin, angehende Pastorin, und erleidet etwas, das sie "Gottdemenz" nennt. Ihr entfallen sämtliche Gebete und Bibelstellen, sie kann noch nicht einmal etwas religiöses vorlesen.

Als wäre das nicht schräg genug als Aufhänger für einen Roman, benimmt sie sich reichlich merkwürdig und stürzt in eine tiefe Sinnkrise. Ich habe nicht ganz verstanden, was ihr fehlt, in ihrem Leben schienen derart viele Dinge etwas aus dem Ruder gelaufen zu sein...

Das störte mich aber überhaupt nicht, im Gegenteil. Dieser Schwebezustand, in dem sich Elke befand, hat sich gänzlich auf mich übertragen, sodass ich den Roman nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Während die Handlung eigentlich nur vor sich hin plätschert -wer große Plots erwartet, ist hier wohl fehl am Platz-, fühlt und leidet man mit den Figuren und wird mit einem wahnsinnig schönen, heilsamen Ausgang belohnt. 5/5!

Bewertung vom 11.07.2022
Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. / Emer Murphy Bd.1 (eBook, ePUB)
Getz, Kristine

Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. / Emer Murphy Bd.1 (eBook, ePUB)


gut

In »Poppy« verschwindet, wie der Titel bereits verrät ein Kind – und die "ganze Welt" sieht dabei zu. Die ganze Welt ist hierbei eine Instagram-Followerschaft von fast einer halben Millionen Menschen.

Das Kind, was verschwindet, ist nur zwei Jahre alt und es gibt Parallelen zwischen seinem Verschwinden und einem ganz ähnlichen Fall, der sich nur kurz zuvor abgespielt hat. Der Krimi ist aus mehreren Perspektiven erzählt: Die Mutter Lotte, Influencerin, die gemeinsam mit ihrem Mann Jens das gesamte Leben ihrer Familie bis ins kleinste Detail festhält. Eine weitere Protagonistin ist die Schwiegermutter sowie eine Ermittlerin, die eine Psychose erlitt und unerlaubterweise ihre Medikamente absetzt. Ihre Erzählepisoden sind dadurch oft schwammig.

Ich möchte auf keinen Fall zu viel vorwegnehmen, es werden wahnsinnig wichtige Themen wie Persönlichkeitsrechte von Kindern, Pädophilie, Ausbeutung, Missbrauch, mentale Gesundheit... angesprochen.

Außerdem ist der Fall wirklich spannend und man rätselt regelrecht mit, hinterfragt und fliegt nur so durch die Seiten. Auch das Ende hat mir gut gefallen.

Dennoch haben mich die vielen Perspektivwechsel ein wenig gestört, da man so niemanden voll und ganz "kennenlernen" konnte, und ich fand es ein wenig schade, dass die Geschichte der Ermittlerin angeschnitten, aber dann nicht konsequent zu Ende erzählt wurde.

Bewertung vom 11.05.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


sehr gut

Irene Vallejo hat mit Papyrus einen wunderschönen Spagat zwischen Erzählung und informationsbeladenem Sachbuch hingelegt. Vom alten Ägypten an nimmt sie uns mit in die Welt der Bücher, der Schrift, der Gelehrten und Bibliotheken. Und beweist wie nebenbei noch sprachliches Geschick. Man möchte gar nicht allzu viel preisgeben, das Buch fühlt sich wie ein kleiner Schatz nur für die „Eingeweihten“ an. Allerdings möchte ich ein Zitat vom Anfang des Buchs verwenden, was mich sehr bewegt hat: „Das erste Buch der Geschichte wurde geboren, als die Worte ins Mark einer Wasserpflanze eingingen. Und gegenüber seinen leblosen, starren Vorgängern war das Buch von Anfang an ein biegsamer, leichter Gegenstand, wie gemacht für Reisen und Abenteuer.“

Und tja, genauso erging es mir mit ihren Worten. Ich las es wie gebannt in der Bahn, im Bett und im Wartezimmer und unternahm eine Reise durch die Welt der Bücher. Stellenweise war es etwas wirr.

Bewertung vom 12.04.2022
Auf der Zunge
Clement, Jennifer

Auf der Zunge


ausgezeichnet

Eine Frau streift durch New York. Die Liebe zu ihrem Mann ist längst in so etwas wie ihr Gegenteil verkehrt, sie sehnt sich nach Berührungen, nach Liebe und nach Leidenschaft. Auf ihrem Spaziergang begegnen ihr Männer - Männer, nach denen sie sich verzehrt und Männer, die zwischen wirklich und unwirklich changieren wie in einem Traum.

Nichts im Buch kann für wahr befunden werden, aber auch nichts für falsch. Wie in Fieberträumen schwappen Begegnungen in einem Sprühnebel auf den*die Leser*in zu und offenbaren eine tiefe Sehnsucht und auch Wehmut. Zwischen Ortsbeschreibungen der Stadt, die nie schläft, Beschreibungen der erkalteten Leidenschaft in der Ehe und Beschreibungen von Männern, die der Frau den Hof machen, lernt man alles mögliche kennen, aber nie die Frau selbst. Diese Distanz zur Figur schafft aber zugleich Raum dafür, sich selbst in sie zu projizieren. Die Sprache von Clement bleibt stets verdichtet, um den nebligen Leseeindruck zu wahren. Alles fühlt sich an wie ein Spaziergang im Hochsommer, man fühlt sich benebelt von den so wehmütigen, teils traurigen, teil sogar erotischen Schilderungen. So lässt einen "Auf der Zunge" schlussendlich verwirrt, desorientiert und aller Illusion beraubt zurück. Für mich ein Signal für ein gutes Buch, mit dem man gearbeitet hat, ist wohl aber Geschmackssache.

Alles in allem ein gelungener... Roman? Gelungene Dichtung? Gelungenes Buch.
Ich vergebe lediglich keine 5 Sterne, weil ich das Buch für den Umfang recht teuer finde und mir für 5 Sterne etwas "Storyline" fehlt

Bewertung vom 30.03.2022
Der Koch, der zu Möhren und Sternen sprach
Mattera, Julia

Der Koch, der zu Möhren und Sternen sprach


sehr gut

Es geht um Geschwister, die gemeinsam einen Gasthof führen. Er ist ein Seltsamer, ein Eigenbrötler, ein Ausgestoßener und stellenweise auch ein bisschen eklig. Aber während seine Schwester eine soziale „Biene“ ist, die nur so umherschwirrt, ist er ganz still und versunken. Das macht den Charme des Buchs definitiv aus. Er verbringt die Zeit am Herd, indem er köstliche Dinge kocht (die Rezepte am Ende des Buchs sind definitiv ein Highlight!) und auch - wie der Titel bereits verrät - zu den Möhren spricht, die Zutaten in den Schlaf wiegt, mit ihnen interagiert… All das schafft eine herrlich träumerische und atmosphärische Lektüre. Allerdings muss ich sagen, dass der Roman auch ziemliche Längen hatte und ich mir mehr Esprit und mehr „Schrulliges“ erhofft hatte.
Manchmal wirkte es ein wenig einschläferd auf mich. Dennoch ein sehr besonderer Text!

Bewertung vom 22.03.2022
Mongo
Darer, Harald

Mongo


sehr gut

Ein Paar erfährt von der Schwangerschaft, doch Freude will sich nicht so recht einstellen. Die werdende Mutter sorgt sich, dass das Kind, wie schon ihr älterer Bruder, mit dem Down Syndrom zur Welt kommt. Der Vater und Erzähler im Buch horcht auf diese Sorge hin in sich hinein und reflektiert im Buch über seine bisherigen Erlebnisse mit behinderten Menschen.

Von einem Nachbarsjungen, welchem er als Kind einmal etwas derart grausames antat, dass ihm der Vater eine Ohrfeige verpasste bis zu seinem Schwager denkt er an seine Erlebnisse mit der Behinderung. Von den schönen Erlebnissen, der Echtheit des Lachens seines Schwagers, der Bereicherung, welche sie dem Leben verleihen. Aber auch von den alltäglichen Hindernissen im Umgang mit Menschen mit Down Syndrom, besonders wenn man eine Care-Rolle einnimmt. Er schildert Zustände von Hilflosigkeit und Scham, erzählt von Überlegenheitsgefühlen und der Neugier, was in ihrem Kopf wohl gerade vor sich geht.

Radikal ehrlich schildert er seine Eindrücke. Für mich war diese Ehrlichkeit schmerzhaft und unangenehm, aber genauso habe ich das antizipiert. Umso heilsamer war dann dafür das Ende. Letzten Endes geht es auch darum, welchen Stellenwert wir “anderen” in der Gesellschaft zollen wollen und was es über uns aussagt, wenn wir unreflektiert Andersartigkeit verurteilen.

Ich hätte gerne 5 Sterne gegeben, allerdings find ich den Schreibstil äußerst gewöhnungsbedürftig und beizeiten sogar irritierend und störend. Der Text hat auch einige Längen. Außerdem hatte der Klappentext etwas mehr Geschehen aus der Gegenwart verheißen.

Dennoch ein gelungener Roman, der einen oft (auch über seine eigenen Vorurteile) stolpern lässt.

Bewertung vom 07.03.2022
Im Rausch des Aufruhrs
Bommarius, Christian

Im Rausch des Aufruhrs


ausgezeichnet

Ich bin eine anerkannte Sachbuch-Verweigerin, mein Geduldsfaden ist oft nicht lang genug, ich habe das Gefühl, dass nichts hängen bleibt, wenn überhaupt, höre ich sie mir als Hörbuch an. »Im Rausch des Aufruhrs« jedoch hat mich überrascht.

Christian Bommarius nimmt uns mit auf eine Reise durch das Jahr 1923, Monat für Monat schildert er alle wichtigen (und mitunter auch unwichtigen, aber interessanten!) Ereignisse des Jahres, bringt sie in einen Kontext zueinander und spickt Geschichte mit Anekdoten, die sie wirklich greifbar machen und einen zu allen im persönlichen Umfeld sagen lassen: "Mensch, wusstest du eigentlich, dass...".

Das alles gelingt ihm auf einem erzählerisch wirklich sehr hohen Niveau, man merkt, dass viele Gedanken in die Aufbereitung und Sortierung der Ereignisse, dass viel Recherche in diese Anhäufung von Geschichte und Geschichten geflossen ist.

Natürlich war mir bekannt, dass es die Hyperinflation gab, aber dass Gehälter täglich der Inflation angepasst werden mussten? Und das während skrupellose Anleger massive Verdienste einstrichen. Doch nicht nur wirtschaftlich geschah im Jahr viel - auch politisch und (sozio)kulturell. Was für eine verblüffende Zeit, eine, die den Grundstein für vieles, was sich danach abspielte, legte; eine, die vielen Menschen unrecht tat. Auch ein paar Parallelen zum Hier und Jetzt lassen sich, wie ich erschreckt feststellen musste, ziehen.

Ich bin schlichtweg begeistert von den eindrücklichen Schilderungen, der verständlichen Sprache, den sorgsam ausgewählten Fotos aus der Zeit und der absolut stimmigen und sinnhaften Aufbereitung der Themen entlang eines Zeitstrahls. Vielleicht gebe ich Sachbüchern doch noch mal eine Chance.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.02.2022
Via Torino
Leuthner, Aja

Via Torino


sehr gut

Drei Frauen werden, von den wilden Sechzigern bis ins Heute, durch die Höhen und Tiefen ihres Lebens, der Liebe und der Freundschaft begleitet. Das Verhältnis von Müttern und Töchtern, so spannungsgeladen und dennoch liebevoll es im Leben stets ist, steht definitiv im Vordergrund. Die Schauplätze wechseln zwischen Deutschland und Italien. Alle drei Frauen sind auf ihre Art stark und stehen für ihre Ideale ein, dennoch haben sie ihre individuellen Schwächen, was die Figuren sehr nahbar macht. Leuthner schreibt dabei in sehr klarer und einfühlsamer Sprache über ihre Erfolge und Misserfolge.

Anfangs fiel es mir noch schwer, die Figuren zuzuordnen und die Geschehnisse zu sortieren, spätestens nach dem dritten Kapitel jedoch hatte mich die Geschichte in ihren Bann gezogen. Der italienische Flair machte es zu einem geradezu sommerlichen Vergnügen, jedoch schneidet der Roman Italien nicht in einer Verklärtheit an, wie man es vielleicht vom geradezu träumerischen Cover erwarten würde: Zwischen Kämpfen der Arbeiter*innenbewegung und der großen Liebe, mit all ihren Enttäuschungen und Höhenflügen, berührt der Roman auch die ganz großen Themen wie Rassismus, Feminismus, Heimat und Familie.

Dennoch muss ich sagen, dass er es am Ende nicht geschafft hat, mich zu 100% zu überzeugen, was aber vielleicht auch nicht dem "Tiefgang" des Textes selbst geschuldet ist - ich glaube schlichtweg, ich bin nicht die Zielgruppe und etwas zu jung.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

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