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alekto

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 10.07.2023
Amazement Park (eBook, ePUB)
White, Kiersten

Amazement Park (eBook, ePUB)


sehr gut

Abwechslungsreich erzählter Thriller mit Mystery-Elementen

Die junge Mack ist ganz unten angekommen. In Gedanken von ihrer grausamen Vergangenheit verfolgt, vegetiert sie nun in einer Obdachlosenunterkunft vor sich hin. Alles, was ihr noch geblieben ist, ist auf ein kleines Bündel an Habseligkeiten zusammengeschrumpft. Als sie auch noch das verliert, sieht sie sich gezwungen das dubiose Angebot der Managerin der Unterkunft anzunehmen. Das besteht aus einem rätselhaften Versteckspiel. Da dem Gewinner 50.000 Dollar Preisgeld winken, lässt sie sich darauf ein.

Im Zuge der als Challenge angepriesenen Aufgabe, die Mack in diesem Thriller bewältigen muss, hat sie sich eine Woche lang in einem 30-minütigen Zeitfenster zu Beginn eines jeden Tages im Park zu verstecken, um bis zur Abenddämmerung dort zu bleiben. Denn wer entdeckt wird, ist raus. Mit dem verlassenen Vergnügungspark hat Kiersten White eine passende schauerliche Kulisse für ihren an die erfolgreiche Netflix-Serie Squid Game erinnernden Roman gefunden. Ergänzt wird die stimmungsvolle Location vom eigenartigen Verhalten der Veranstalter des Versteckspiels sowie der lokalen Bevölkerung.
Obwohl sich Kiersten White bemüht hat, ihre Gruppe aus 14 verschiedenen Kandidaten des mysteriösen Wettbewerbs abwechslungsreich zusammenzustellen, sind die meisten davon ziemlich blass geblieben. Obgleich das Spiel nicht gleich beginnt, sondern erst der Weg dorthin beschrieben wird, an den sich ein gemeinsames Essen im Diner und ein Besuch im Spa anschließen, sind mir davon neben den dreien, die kein Smartphone besitzen, nur Vergangenheit und Beruf von Rosiee in Erinnerung geblieben. Die ist Silberschmiedin und wird seit vier Jahren von ihrem Ex verfolgt. Die verbleibenden zehn sind Variationen von Influencern, die von einer Karriere in den sozialen Medien in unterschiedlicher Form träumen und deren größtes Problem erst der fehlende Handy-Empfang ist. Da ist es mir nicht leicht gefallen den einen vom anderen zu unterscheiden. Bestätigt habe ich mich darin gefühlt, indem Kiersten White damit kokettiert hat, dass sich auch Protagonistin Mack nicht die Namen von allen merken kann. Als gelungener hätte ich "Amazement Park" empfunden, wenn die Autorin die Größe der Gruppe beschränkt und den einzelnen Mitgliedern ähnlich starke Hintergrundgeschichten wie die von Rosiee zugestanden hätte statt deren Austauschbarkeit zu betonen.

Von den schwachen Charakterisierungen blasser Nebenfiguren heben sich Mack, Veteranin Ava und der ruhige LeGrand deutlich ab. Dabei hat Mack schon in der Obdachlosenunterkunft ihr Geschick im Verstecken unter Beweis gestellt und sympathische Züge im Umgang mit einem dort unter dem Dachbalken hausenden Vogel gezeigt. LeGrand, der ein unsicherer, Frauen zwanghaft meidender junger Mann ist, hat bereits in der Anreise per Bus ein besonderes Talent an den Tag gelegt, unsichtbar zu bleiben, indem er übersehen wird. Ava, die wegen einer zweiten Teilnehmerin gleichen Namens in Macks Gedanken Buzz-Cut Ava heißt, hat Verletzungen im Krieg davongetragen. Obwohl sie ein Bein nachzieht, scheint die muskulöse Veteranin Mack die fitteste Kandidatin zu sein, die so wie sie selbst mit den traumatischen Erlebnissen ihrer Vergangenheit zu kämpfen hat. Wenn Ava sich nicht sicher fühlt, kann sie nicht schlafen. Dadurch fällt ihr als erstes auf, dass die Teilnehmer von den Veranstaltern hinters Licht geführt werden, da sie auf der Busfahrt zum Park deren Wasser mit einem Betäubungsmittel versetzt haben.

"Amazement Park" ist von der abwechslungsreichen Erzählweise von Kiersten White geprägt. Zunächst wird der Thriller nur aus Sicht von Protagonistin Mack geschildert, in seinem weiteren Verlauf kommen aber unterschiedliche Blickwinkel anderer Teilnehmer, des Veranstalters sowie der einheimischen Bevölkerung hinzu. In an ein Intermezzo erinnernden Kapiteln werden von der Autorin zusätzliche Zeitebenen in den Roman integriert, indem in Gestalt von alten Tagebucheinträgen und früher verfassten Briefen nach und nach die gesamte Historie des Parks enthüllt wird, die bis ins Jahr 1925 zurückreicht.
Nach der ruhig gehaltenen, recht ausführlich geratenen Einleitung, die etwa das erste Fünftel des Buchs umfasst und gekonnt mit den durch die zur Serie Squid Game vorliegenden Parallelen geschürten Erwartungshaltungen spielt, hat Kiersten White das Tempo in "Amazement Park" deutlich angezogen. Die enge Taktung der Ereignisse hat mir auch während der vielen Stunden, die die Kandidaten regungslos in ihren Verstecken im Park auszuharren haben, kaum eine Pause vergönnt. Nebenher fließt soziale Kritik mit ein, die zwar ein wenig arg mit dem Vorschlaghammer daherkommt, ihre Wirkung bei mir jedoch mit ihrer bis zur letzten, drastischen Konsequenz auserzählten Geschichte nicht verfehlt hat. Da der Thriller ziemlich abrupt endet, hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin dabei offen gebliebene Fragen in einem Epilog artigen, zeitlich später angesiedelten Kapitel beantwortet hätte.

Bewertung vom 04.07.2023
Refugium / Stormland Bd.1
Lindqvist, John Ajvide

Refugium / Stormland Bd.1


sehr gut

Gelungener Trilogie Auftakt um eine international angelegte Verschwörung

Olof Helander gibt in seinem luxuriösen Anwesen im Schärengarten, das von seinem Handel mit Emissionsrechten finanziert worden ist, ein Mittsommer-Fest für wenige ausgewählte Gäste. Dazu zählt der chinesische Geschäftsmann Chen Bao, der ebenfalls in der Klimabranche tätig ist. Helanders vierzehnjährige Tochter Astrid ist nur widerwillig auf der Feier anwesend, um die Familie zu repräsentieren. Aber dann nehmen die Ereignisse eine unerwartete Wendung und Kommissar Johnny Munther hat an der Seite seiner Partnerin Carmen Sanchez in einem brutalen Mordfall zu ermitteln.

John Ajvide Lindqvist hat mit seinem vorangestellten Prolog, der zeitlich im Mittsommer 2019 angesiedelt ist, einen starken Einstieg in seinen Thriller gefunden, indem die Spannungskurve darin nach nur wenigen Seiten von Null auf 100 hochgeschnellt ist. Die eigentliche Handlung von Refugium setzt dann fünf Monate zuvor im Januar 2019 ein und führt im ersten Teil, der den Titel “Julia und Kim” trägt, die beiden Protagonisten ein. Julia Malmros, die früher Kommissarin gewesen ist, ist nun als Schriftstellerin derart erfolgreich, dass ihr die Ehre zugestanden wird, eine Fortsetzung für die Millennium-Reihe um Journalist Blomkvist und Hackerin Salander zu schreiben. Im Zuge ihrer Recherche wird für Julia vom Verlag der Kontakt zum Cracker Kim Ribbing, der durch seine äußere Erscheinung auffällt, ist ein Cracker, den seine traumatische Vergangenheit noch heute belastet. Neben der Perspektive von Julia und Kim werden Abschnitte aus Sicht von Astrid sowie der ermittelnden Polizisten Johnny, der der Ex-Mann von Julia ist, und seiner cleveren Partnerin im Job Carmen geschildert.
Der grundlegende Aufbau von Refugium ließe sich als Variante eines Millennium-Romans beschreiben, bei dem die Geschlechter der beiden Hauptfiguren vertauscht worden sind. Kim übernimmt die Rolle von Salander und Julia die von Blomkvist. Diese Parallelen greift Lindqvist jedoch selbst in einer geschickt in diesen Thriller integrierten Meta-Ebene auf, indem Julia einen neuen Millennium-Roman mit Arbeitstitel Stormland verfasst. Darin versucht sie die genannte Idee umzusetzen, um ihr Werk veröffentlichen zu können, ohne dass die Rechte der Millennium-Reihe dabei verletzt werden.
Zudem wird die im weiteren Verlauf der Handlung von Refugium am Rande eingebundene Me-Too Geschichte bereits zuvor angedeutet. Denn Julia hat eine ebensolche für ihr Buch Stormland geschrieben. Was den Humor betrifft, haben mich gerade die Abschnitte, die rund um das Verlagswesen kreisen, überzeugt. Dazu zählen Julias konfrontatives Aufeinandertreffen mit ihrer neuen Lektorin, das sich daran anschließende Interview im Fernsehen und daraus resultierende Ereignisse, die Julia zur Schlagzeile des Tages werden lassen. Mit dem satirisch scharfen Blick, den Lindqvist auf den Literaturbetrieb wirft, trifft er ins Schwarze.

Abgesehen davon habe ich die in Refugium vorherrschende Stimmung, die trotz der expliziten sexuellen und teilweise recht grausamen Szenen eher humorvoll geraten ist, als wenig passend empfunden. Denn diese wollte sich für mich vor dem Hintergrund des eingangs geschilderten brutalen Massakers und anderer Straftaten aus Kims Jugend, aber auch aus seinen aktuellen Projekten, die vor Gewalt gegen Kinder nicht zurückschrecken, nicht zu einem stimmigen Ganzen fügen. Ebenfalls hat für mich die Chemie zwischen Julia und Kim nicht gestimmt, die nicht mehr als deren Bettgeschichte zu verbinden scheint. Das mag bei Kim wegen seiner schwierigen Vergangenheit nachvollziehbar gewesen sein, ist für mich aber in der Charakterisierung von Julia unglaubwürdig gewesen, wenn sie als erfahrene Frau eine ihrem Alter angemessene Reife missen ließ und sich in Kims Gegenwart noch kindischer als er verhalten hat.
Ein zusätzlicher Kritikpunkt, der dem Autor wohl selbst aufgefallen ist, weil er diesen Julia an ihrem Roman Stormland bemerken lässt, ist die Häufung von Zufällen durch die die eigentliche Handlung dieses Thrillers überhaupt erst in Gang gesetzt und dann weiter am Laufen gehalten wird. Dazu zählen etwa die Verbindung von Julia zum Fall Hellander, ein alter Fall aus Julias Zeit als Polizistin, ein über die Recherche für ihren zweiten Roman hergestellter Kontakt sowie der Therapeut, den Astrid und Kim teilen. Für mich ist das ab einem gewissen Punkt dann doch der eine Zufall zu viel gewesen.
Dieser Thriller hätte stärker ausfallen können, wenn Lindqvist sich gerade im Kontext der von ihm inszenierten, sich auf internationalen Niveau bewegenden Verschwörung, die nach und nach aufgedeckt wird, nicht derart stark auf seine beiden Protagonisten fokussiert hätte. Stattdessen hätte er sich auf ein breiteres Figurenarsenal stützen können, so dass sich die hohe Zahl an Zufällen nicht auf Julia und Kim hätten konzentrieren müssen. Dadurch hätte sich Refugium auch deutlicher von der Millennium-Reihe abgrenzen können.

Bewertung vom 30.06.2023
Muskeln – die Gesundmacher (eBook, ePUB)
Froböse, Ingo

Muskeln – die Gesundmacher (eBook, ePUB)


sehr gut

Wissenschaftlich fundierter, verständlich geschriebener Ratgeber ohne praktischen Teil rund um das Thema Muskeln

Der bekannte Sportwissenschaftler Ingo Froböse, der Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln ist, beginnt "Muskeln – die Gesundmacher" bei den Basics, wenn er Muskeln ihrer Physiologie und Anatomie nach vorstellt. Dabei hat mir gut gefallen, dass sich der Schreibstil in diesem Sachbuch flüssig liest, da die Ausführungen verständlich gehalten sind, obgleich präzise beschrieben wird. Die sich an konkreten Zahlen orientierende Erzählweise von Ingo Froböse bleibt nicht im Vagen, indem etwa Prozentangaben zur Muskelmasse bei Männern, Frauen oder Sportlern in Abhängigkeit von deren Körpergewicht enthalten sind. Auch spart der Autor nicht am korrekten wissenschaftlichen Vokabular, sondern verwendet die entsprechenden Termini, nachdem er diese eingeführt hat. Beispielsweise werden den Energiestoffwechsel betreffend, deren Motor die Muskeln sind, die Mitochondrien und das Adenosintriphosphat (ATP) erklärt.
Zum strukturierten Vorgehen, das "Muskeln – die Gesundmacher" prägt, haben für mich die in den Fließtext integrierten Schaukästen beigetragen. Diese umfassen wichtige Fakten und interessante Tatsachen zu Muskeln. Diese listen etwa Weltrekorde der Muskeln auf, die neben dem stärksten, größten, längsten und kleinsten auch den aktivsten, schnellsten oder fleißigsten der 654 Muskel im Körper angeben. Als übersichtlich habe ich die in tabellarischer Form aufbereiteten Informationen empfunden. Dazu zählen beispielsweise eine Gegenüberstellung von Herz-, Skelett- und glatter Muskulatur anhand von deren Merkmalen und ein Vergleich von verschiedenen Typen von Muskelfasern.

Angesprochen hat mich, dass Ingo Froböse in “Muskeln – die Gesundmacher” theoretisches Hintergrundwissen nicht nur in oberflächlicher Form vermittelt, sondern stattdessen in die Tiefe geht. Dabei verliert der Autor nie den Schwerpunkt seines Sachbuchs aus dem Blick und bindet bereits in seinen einleitenden, sich mit der Physiologie und Anatomie von Muskeln auseinandersetzen Kapiteln Informationen zum Problemfall der glatten Muskulatur oder zu verklebten Faszien als Schmerzursache mit ein.
In diesem Kontext steht der von Ingo Froböse verfolgte wissenschaftliche Ansatz, den ich als passend für die Materie empfunden habe. Denn wenn der Autor auf den positiven Effekt eingeht, den Training auf die Muskulatur sowie die allgemeine Gesundheit haben kann, werden verschiedene Studien zitiert. Dazu zählen die Veröffentlichung von Prof. Henneman aus dem Jahr 1957, die die Zusammenarbeit der Neuronen in den motorischen Einheiten, der motorischen Einheiten untereinander und miteinander in der Skelettmuskulatur erläutert, aber auch aktuellere Studien zum Muskeltraining bei Frauen von Prof. Petra Platen von der Universität Bochum aus 2009 bzw. zu Menschen mit spastischen Störungen, die in der Rehabilitation nachhaltig von Stretching profitieren können, von Doktor Zhihao Zhou von der Universität Peking aus 2016.

Zudem widmet sich Ingo Froböse Themen wie dem Muskeltraining bei Frauen oder im Alter, die sonst eher am Rande behandelt werden. Insgesamt deckt “Muskeln – die Gesundmacher” eine große Bandbreite unterschiedlicher Themen ab. Diese umfassen u.a. die “Muskelkraft und Muskelmasse im Altersverlauf”, Sarkopenie als krankhaften Muskelverlust im Alter, dem sich mit einem geeigneten Training entgegenwirken lässt, sowie für mich unerwartete Kapitel zur Verbindung von Muskeln und Gefühlen bzw. von Muskeln und Gehirn. Denn gezielte Muskelentspannung kann Abhilfe bei Stress, Angst oder durch Anspannung ausgelöstem Zähneknirschen verschaffen und körperliche Aktivität beeinflusst kognitive Funktionen.
Ein Schwerpunkt liegt im weiteren Verlauf dieses Sachbuchs auf den Myokinen als Heilstoffen der Muskulatur. Indem Myokine, die von der Muskulatur produzierte Botenstoffen darstellen, das Immunsystem unterstützen, Entzündungen bekämpfen, den Stoffwechsel aktivieren oder das Erinnerungsvermögen optimieren, sind Muskeln viel mehr als nur für Bewegungen zuständig. Überrascht hat mich zu erfahren, dass die Forschung zu den Myokinen noch in den Kinderschuhen steckt. Von den vermuteten ca. 3.000 Myokinen sind derzeit erst 600 bekannt.
Interessant fand ich auch zu lesen, welch vielfältigen Schutz Muskeln für unsere Gesundheit bedeuten, weil entsprechendes Training ganz unterschiedlichen Krankheitsbilder lindern kann. Dazu zählen etwa Herz-Kreislauferkrankungen, Adipositas, Diabetes, Rückenbeschwerden oder Arthrose. Nach der ganzen Theorie hat mir dann aber ein praktischer Teil gefehlt, in dem für die beschriebenen Krankheitsbilder wie insbesondere die Rückenschmerzen konkrete Übungen vorgestellt und mittels geeigneter Abbildungen bzw. via QR-Code verlinkter Videos illustriert worden wären. Da hätte das Wort zum Schluss, dass "Muskeln regelmäßiges Training brauchen”, eine andere Wirkung erzielen können, wenn ich das gleich anhand von konkreten Übungen in die Tat hätte umsetzen können.

Bewertung vom 29.06.2023
All die Liebenden der Nacht (eBook, ePUB)
Kawakami, Mieko

All die Liebenden der Nacht (eBook, ePUB)


sehr gut

Ungewöhnliche, einfühlsam erzählte Liebesgeschichte um die Korrekturleserin Fuyuko

Fuyuko Irie, die als Korrekturleserin für einen größeren Verlag arbeitet, geht tagein tagaus dem gleichen routinierten Ablauf nach. Sie ist aber so einsam, dass sie sogar ihren Geburtstag allein mit einem Spaziergang bei Nacht verbringt. Aber dann trifft sie inspiriert von der selbstbewussten Hijiri Ishikawa, die beim Verlag für die freiberuflichen Korrekturleser zuständig ist, eine folgenschwere Entscheidung. Sie beginnt zu trinken und das Drama nimmt seinen Lauf.

Mit Fuyuko hat Mieko Kawakami eine ungewöhnliche Hauptfigur für ihren Roman ersonnen, die sie nicht der Lächerlichkeit preisgibt, sondern der sie sich in ihrer aufmerksamen Betrachtung einfühlsam nähert. Trotz ihrer passiv agierenden, unsicheren Hauptfigur gelingt es es der Autorin recht flüssig zu erzählen. Ins Stocken gerät der Roman nur, wenn Gespräche mit Hijiri wiedergegeben werden, da Fuyuko in ihrer Gegenwart ihre Sätze unvollendet lässt. Die extrem oberflächliche Hijiri eckt mit ihrem übertriebenen Selbstbewusstsein an und schwingt gern Monolog artige Reden über Banalitäten. Dabei ist für mich schwer nachvollziehbar geblieben, warum Fuyuko sich derart stark von Hijiri angezogen fühlt, die abgesehen von ihrem gutaussehenden Äußeren wenig vorzuweisen hat.
Fuyuko hat nie wieder Alkohol angerührt, nachdem sie diesen nur ein einziges Mal in jungen Jahren probiert hat und ihr davon zu schlecht geworden ist. Die Handlung im Roman nimmt Fahrt auf, als sie sich zum Trinken entschließt. Bier und Sake lassen sie mutiger werden, selbstbewusster auftreten und flüssig mit anderen kommunizieren. Weil sie plant etwas für sie gänzlich Neues zu probieren, besucht sie das Culture Center. Dort will sie sich für einen Kurs anmelden, um zu lernen, womit sie bislang nicht in Berührung gekommen ist. Im Culture Center macht sie die Bekanntschaft von Herrn Mitsutsuka, einem Physiklehrer an der Oberschule. Trotz ihres angetrunkenen Zustandes ist er nett zu Fuyuko und unterstützt sie, als sie seiner Hilfe bedarf.
Zugleich entwirft Mieko Kawakami ein intensiv geratenes Porträt, das in ruhigem Ton aus Sicht von Fuyuko wiedergegeben wird und deren Abrutschen in die Sucht beschreibt. Ihre Entwicklung zur Alkoholikerin wird von Aussetzern begleitet, aber auch dem angenehmen Gefühl, wie in Watte gepackt zu sein. Von der Autorin werden jedoch die damit einhergehenden Schwierigkeiten nicht ausgespart. Fuyuko hat mit Übelkeit zu kämpfen, ist peinlichen Situationen ausgesetzt, wenn Fremde feststellen, dass sie betrunken ist, und sie unbeabsichtigt an für sie ungewöhnlichen Orten einschläft. Eines Tages bleibt sie, als sie nach Hause kommt, einfach im Eingangsbereich ihres Appartements liegen oder ist plötzlich für einige Stunden beim Warten auf einer Bank weggetreten, so dass ihr währenddessen die Handtasche gestohlen wird.

Stärker wäre "All die Liebenden der Nacht" ausgefallen, wenn Mieko Kawakami ihrer in der Gegenwart derart passiv agierenden Protagonistin dadurch mehr Profil gegeben hätte, dass sie weitere Episoden aus deren Vergangenheit in die Geschichte ihres Romans integriert hätte. Denn die nur vereinzelt auftauchenden Szenen haben mich allesamt überzeugt, indem ich die Schilderung traumatischer Erlebnisse aus ihrer Schulzeit als eindringlich und den vor Jahren getroffenen Entschluss, ihren Geburtstag am Weihnachtsabend mit einem Spaziergang bei Nacht zu verbringen, als betörend schön empfunden habe. Die so stille Fuyuko geht in der Interaktion mit der selbstbewussten Hijiri und deren ausgeprägten Geltungsbedürfnis, aber auch neben dem lebhaften Rededrang ihrer ehemaligen Kollegin Kyoko sowie einer den Kummer über die Tristesse ihrer Ehe ausschüttenden Schulfreundin unter. Dabei ist Fuyuko im Vergleich zum oberflächlichen Gehabe der genannten Frauen, die sich ganz in ihren alltäglichen Problemen verlieren und in deren hysterisch übertriebenen Umgang damit wenig nahbar für mich geblieben sind, die interessantere Figur gewesen. Denn hinter ihrer ruhig erscheinenden Oberfläche haben sich für mich unerwartete Facetten verborgen.
Auch hätte ich mir gewünscht, dass der nach und nach von der Autorin entwickelten, ungewöhnlichen Liebesgeschichte mehr Raum gegeben worden wäre. Diese hätte etwa dadurch mehr in den Mittelpunkt gestellt werden können, dass weitere Szenen in der Art wie ihr Besuch eines Buchladens in die Handlung eingebunden worden wären. Dort stößt Fuyuko zufällig auf die Regale, die die Ratgeber zu Heirat, Ehe, Kinderkriegen enthalten und kommentiert diese in Gedanken. Zudem ist mir der Schluss, den die Autorin für ihren Roman gefunden hat, zu abrupt gewesen, obgleich ein Jahre später angesiedeltes, Epilog artiges letztes Kapitel Antworten auf die sonst offen gebliebenen Fragen liefert. Meinem Empfinden nach hätte diese in ihrem eigenen, eher langsamen Rhythmus erzählte besondere Geschichte jedoch verdient nicht derart schnell zu ihrem Ende hin abgehandelt zu werden.

Bewertung vom 28.06.2023
Sommersonnenwende / Wolf und Berg ermitteln Bd.1 (eBook, ePUB)
Engman, Pascal; Selåker, Johannes

Sommersonnenwende / Wolf und Berg ermitteln Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Ambitioniertes, abwechslungsreich erzähltes Krimi-Drama um eine Serie brutaler Vergewaltigungen in 1994

Die bosnische Muslimin Nadija Alihodzic ist als Kriegsflüchtling erst seit einem Jahr in Schweden gewesen, bevor sie vor einem Flüchtlingswohnheim ermordet worden ist. Indem sein betrunkener Bruder Kristian vor dem Polizeirevier damit prahlt, die Tat begangen zu haben, wird Tomas Wolf, Kriminalkommissar bei der Mordkommission in Stockholm, in den Fall verwickelt, da dieses Verbrechen nicht zu seinem Bruder zu passen scheint. So nimmt Tomas die Ermittlungen auf und stellt den Zusammenhang in einer abgründigen Serie von Vergewaltigungen her.

“Sommersonnenwende” wird von Engman und Selaker neben der Perspektive des Polizisten Tomas Wolf auch aus Sicht der Journalistin Vera Berg sowie des bekannten Schauspielers Micael Bratt erzählt. In die Vita des Polizisten Tomas Wolf und der jungen Vera Berg ist von Engman und Selaker eine Vielzahl von Problemen integriert worden. Dabei ist den Autoren ein komplexes Porträt nach wie vor relevanter Themen gelungen, die die Charakterisierung ihrer beiden Protagonisten prägen. Im Gegensatz dazu ist der berühmte Micael Bratt recht eindimensional geraten. In jeder Szene, in der er auftritt, neigt er zu Größenwahnsinn und schafft es sein zuvor bereits an den Tag gelegtes unhöfliches Verhalten noch zu toppen. Zudem ist sein Handlungsspielraum dadurch, dass er quasi permanent betrunken ist, ziemlich eingeschränkt.
Abgesehen von einem vorangestellten Prolog und einem nachgelagerten Epilog ist “Sommersonnenwende” zeitlich vom 6. Juni bis 18. Juli 1994 angesiedelt und wird von Anfang an abwechslungsreich aus mehreren Perspektiven geschildert. Denn Engman und Selaker nutzen den traumatisierten Ermittler und die unter ihrer Vergangenheit leidende Journalistin nicht dafür ein in typischer Weise ruhig erzähltes skandinavisches Krimi-Drama zu entspinnen, indem das Buch eine große Bandbreite unterschiedlicher Themen abdeckt, die meisten davon aber nur anschneiden kann. Auch werden die Hauptfiguren neben der im Mittelpunkt stehenden Vergewaltigungsserie mit weiteren Verbrechen wie einem schockierenden Massaker, das das beschauliche Falun erschüttert hat, konfrontiert. Durch die verschiedenen, begonnenen Handlungsstränge und die Vielzahl der angerissenen Themen, obgleich die Auseinandersetzung mit diesen meist nicht in der Tiefe erfolgt, die deren Bedeutung gerecht werden würde, erreicht "Sommersonnenwende" eine gewisse Komplexität. Dabei hat mich die gekonnte Integration tatsächlicher historischer Ereignisse aus dem Jahr 1994 wie des Amoklaufs in Falun oder der Erfolge, die die schwedische Nationalmannschaft bei der in den USA ausgetragenen Fußball-WM erzielt hat, in die von den Autoren ersonnene Kriminalgeschichte überzeugt, indem die Übergänge zwischen Fiktion und Realität fließend ausgefallen sind.

Dagegen ist die Entwicklung der erst so stark eingeführten Protagonisten Wolf und Berg weniger gelungen, da die nicht gänzlich schlüssig ist. Inkonsistenzen zeigen sich etwa bei den Gedächtnislücken von Wolf, die durch dessen traumatische Erlebnisse während seines Einsatzes im Bosnien-Krieg bedingt sind. Nachdem Engman und Selaker eingangs noch eindringlich PTBS-Symptome und deren Auslöser wiedergegeben haben, sind diese Aussetzer von Wolf im späteren Verlauf des Romans dann plötzlich über weite Strecken verschwunden. Berg trifft kaum nachvollziehbare Entscheidungen, wenn sie wiederholt allein bzw. höchstens mit Verstärkung des kleinen Sigge Tatverdächtige mit ihrer Theorie von Angesicht zu Angesicht konfrontieren muss, damit sie deren Reaktion ablesen kann. So bringt sie sich nur unnötigerweise in Gefahr, was zwar die Spannung in diesen Szenen hochtreibt, aber spätestens als sich bei Berg durch diese Aktionen kein Lerneffekt einstellt, zulasten der Glaubwürdigkeit ihrer Figur geht. Der Charakterisierung von Schauspieler Bratt hätte gut getan, wenn diese nicht derart einseitig geraten wäre, sondern die Autoren andere Seiten von ihm - wie etwa seine in Armut verbrachte Kindheit - näher beleuchtet hätten.
Nach einem starken Einstieg haben sich bei mir in den Mittelteil von "Sommersonnenwende" Längen eingeschlichen, weil die Verfolgung der falschen Fährten, die ich meist schnell als solche identifizieren konnte, aufgrund der Behinderung durch den Mittsommer-Feiertag, die Urlaubszeit sowie die Fußball-WM viel Zeit in Anspruch genommen hat. Da ich den zum Schluss enthüllten Täter recht früh vermutet habe, hätte ich diesen Krimi als gelungener empfunden, wenn Engman und Selaker statt der exzessiven Beschreibung der Finten interessanten Nebenfiguren mehr Raum gegeben hätten, um deren Handlungen für mich plausibler werden zu lassen. Dazu zählen Veras Ex-Freund Jonny und sein ambivalentes Verhältnis zu seinem Sohn Sigge, Wolfs Partner Zingo und dessen ausufernde Abwesenheitszeiten im Job sowie Wolfs jüngerer Bruder Peter und die Auswirkung der radikalen Aktionen von Thomas auf dessen weitere Entwicklung.

Bewertung vom 27.06.2023
Fürchte das Böse / Holly Wakefield Bd.4 (eBook, ePUB)
Griffin, Mark

Fürchte das Böse / Holly Wakefield Bd.4 (eBook, ePUB)


sehr gut

Abgründiger Serienmörder-Thriller mit starkem Antagonisten

Eines Abends klopft PC Jefferson im strömenden Regen an die Tür von Immobilienmaklerin Sandra Newsome. Er möchte sie befragen, da in einem der von ihr betreuten Häuser eine grausam zugerichtete Leiche aufgefunden worden ist. Indem der PC zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, darf er nichts Näheres dazu verraten, als ihm Kaffee und Kekse angeboten werden. Doch dann nimmt das Gespräch ein abruptes Ende und die forensische Psychiaterin Holly Wakefield hat in einem weiteren Mordfall zu ermitteln.

“Fürchte das Böse” ist bereits der vierte Fall für Holly und DI William Bishop von der Metropolitan Police, der vor seiner Zeit bei der Polizei bei der Air Force gedient hat und mit den Spezialkräften in Afghanistan eingesetzt gewesen ist. Obwohl dieser Thriller für mich den ersten Band der Reihe dargestellt hat, den ich gelesen habe, habe ich Holly im Zuge dieser sie auf persönlicher Ebene betreffenden Ermittlung dadurch rasch kennengelernt, dass Mark Griffin relevante Informationen aus ihrer traumatischen Vergangenheit hat mit einfließen lassen. Denn keiner versteht antisoziale Serienmörder derart gut wie Psychopathenflüsterin Holly, was in ihrer eigenen Lebensgeschichte begründet liegt. Als sie neun Jahre alt war, hat sie Sebastian Carstairs aka die Bestie dabei überrascht, wie er über ihren brutal ermordeten Eltern in der Blut getränkten Küche stand. Abgesehen von Holly halten alle das Kapitel Carstairs für abgeschlossen, nachdem er Monate zuvor seinem Krebsleiden erlegen ist. Spannung kommt in “Fürchte das Böse” damit nicht nur durch die Mordserie auf, sondern wird ebenfalls durch die Frage erzeugt, ob da ein von Carstairs ausgebildeter Nachahmungstäter am Werk ist oder ob es doch Carstairs selbst ist, der von den Toten auferstanden ist. Weil Holly die Theorie des Nachahmungstäters von Anfang an vehement ablehnt, werden Bishop und sie von dem Fall abgezogen. Um weitere Polizei interne Konflikte zu vermeiden, können die beiden nur noch im Verborgenen ermitteln.
“Fürchte das Böse” wird abwechslungsreich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, die neben der Sichtweise von Hauptfigur Holly auch die von DI Bishop sowie der Bestie umfassen. Dabei besticht dieser Thriller durch seinen starken Antagonisten und wird um eine präzise Charakterisierung von Psychopathen ergänzt wird. Das beginnt bei der Beschreibung von deren Eigenschaften, die während einer von Holly am Londoner King's College gehaltenen Vorlesung aufgezählt werden. Intensiv ist die Schilderung der Sitzungen zwischen Psychologe Hedley Phelps und Carstairs geraten. Denn der Autor verdeutlicht geschickt, wer da wen durch das therapeutische Gespräch führt und stellt so das manipulative Verhalten von Carstairs heraus.

Im Spannungsfeld zwischen der traumatisierten forensischen Psychiaterin und dem psychopathischen Serienmörder sind einige der an sich interessant angelegten Nebenfiguren blass geblieben. Da bleibt etwa ein Großteil des Potentials, das in einer Annie Wilkes oder Cassandra Carstairs steckt, ungenutzt. Annie fristet ihr Dasein in der Haftanstalt New Hall, nachdem sie des Mordes an ihrem Bruder und ihrer Schwägerin für schuldig befunden wurde, und Cassandra, die die Schwester von Sebastian Carstairs ist, ist dem physischen wie psychischen Missbrauch durch deren Eltern ausgesetzt gewesen. "Fürchte das Böse" hätte stärker ausfallen können, wenn sich Mark Griffin nicht nur auf das Leid von Protagonistin Holly konzentriert hätte, sondern der belastenden Vergangenheit von Annie und Cassandra mehr Raum gegeben hätte. Denn in den wenigen Abschnitten, die der Autor diesen Figuren zugesteht, habe ich deren Charakterisierung als zu eindimensional empfunden. Indem Annie recht gleichgültig und Cassandra zu hysterisch auf mich wirkte, ist das Drama in deren Leben für mich schwer greifbar geblieben.
In der zweiten Hälfte leidet der Spannungsaufbau von "Fürchte das Böse" darunter, dass Mark Griffin eine Stop-and-Go Mentalität an den Tag legt, wenn er immer wieder durch nicht unbedingt notwendige Einschübe auf die Bremse drückt und kein hohes Erzähltempo aufkommen lässt. Die sich anbahnende Liebesgeschichte mag für jeden, der alle bisherigen Bände der Reihe gelesen hat, eine lang gehegte Erwartung erfüllen. Da dies mein erster Thriller um Holly Wakefield gewesen ist, hat das für mich aber nur Spannung rausgenommen, als ich ein hohes Erzähltempo erwartet habe, das konsequent auf ein intensives Finale zusteuern sollte. Weil ich den größten Teil der Auflösung durch die in den aus Tätersicht geschilderten Kapiteln vorliegenden Andeutungen, aber auch aus einem Mangel an Alternativen zuvor vermutet habe, hatte "Fürchte das Böse" in seinem weiteren Verlauf Längen für mich. So hätte diesem Thriller gut getan, wenn der Autor länger in der Schwebe gehalten hätte, ob Carstairs selbst von den Toten auferstanden ist oder doch ein Nachahmungstäter am Werk ist, und andere falsche Fährten in dessen Handlung integriert hätte.

Bewertung vom 26.06.2023
Harlem Shuffle
Whitehead, Colson

Harlem Shuffle


sehr gut

Kurzweiliger, episodenartiger Roman, der durch seine atmosphärischen Beschreibungen von Harlem in den 60er Jahren besticht

Obwohl sein Vater Big Mike ein Verbrecher gewesen ist, hat Ray Carney die Kurve gekriegt, indem er nun ein weitestgehend legales Möbelgeschäft betreibt. Neben seiner Betätigung als Möbelverkäufer ist er häuslich geworden. Mit Frau Elizabeth, die wieder schwanger ist, hat er eine Familie gegründet, als ihre Tochter May auf die Welt gekommen ist. Da will Carneys Cousin Freddie ihn als Hehler in einen groß angelegten, von Miami Joe geplanten Raubüberfall auf ein berühmt berüchtigtes Hotel mit hineinziehen. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf.

Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead gliedert “Harlem Shuffle” in drei Teile, die zeitlich in den Jahren 1959, 1961 und 1964 angesiedelt sind. Dabei ist es dem Autor bereits in dessen ersten Kapiteln gelungen die Harlem Ende der 50er Jahre prägende Atmosphäre heraufzubeschwören. Das zeigt sich in den nebenher einfließenden Details, wenn Carney etwa in seinen Gedankengängen die Geschäfte auflistet, in denen auch Schwarze die von Weißen geschätzte, qualitativ hochwertigere Ware erwerben können. Dabei scheut sich der Autor nicht davor, den diskriminierenden Umgang von hellhäutigeren Schwarzen herauszustellen. Diese können fast als Weiße durchgehen, behandeln ihre eigenen Leute aber von oben herab oder beachten diese kaum, wenn die quasi unsichtbar für sie sind.
Spannung lässt Colson Whitehead in seinem im Gangster-Milieu angesiedelten Roman aufkommen, indem er in die Handlung von dessen ersten Teil eine Heist-Story integriert. Dabei ist ein wesentlicher Bestandteil der in "Harlem Shuffle" zu Beginn erzählten Geschichte ein Raubüberfall, der den Stein ins Rollen bringt, wenn weitere Ereignisse dadurch bedingt in Gang gesetzt werden. Insgesamt sind die einzelnen Geschichten, die sich unabhängig voneinander lesen lassen, zwar derart kurzweilig geraten, dass diese beim Lesen keine Langeweile bei mir haben aufkommen lassen. Deren Kürze hat dann aber wenig Raum für einen komplexeren Aufbau der Handlung gelassen. Dadurch wird betont, dass Ray Carney nur ein kleines Licht im kriminellen Milieu ist, der sich lediglich mit Hilfe von ein paar wohl überlegten Kniffen aus der Affäre zu ziehen vermag. Diese sind weit entfernt von dem in seiner ausgeklügelten Raffinesse überzeugenden Spektakel, mit dem Kint aka Keyser Söze die Polizei in den üblichen Verdächtigen auszutricksen oder Danny Ocean in Ocean’s Eleven zu glänzen weiß. Auch mangelt es Carney an der lässigen Coolness von letzterem oder dem Charisma des Sinti und Roma Tommy Shelby, der die Peaky Blinders in der gleichnamigen Serie anführt.

Als gelungener habe ich dagegen die Antagonisten, die sich in diesem Roman versammeln, empfunden. Dabei sind die Abschnitte, die die Sichtweise von Pepper wiedergeben, eines der Highlights für mich gewesen. Pepper hat früh angefangen, als er in jungen Jahren von der Schule abgegangen ist, um sich mit Botengängen über Wasser zu halten. Nach einem Wachstumsschub hat er sich zum Schläger gemausert, bevor er für die Armee zwangsverpflichtet worden ist, weil er einmal zu oft einen bewusstlos geprügelt hat. Während seines Einsatzes im Dschungel in Burma ist Pepper, der dort seinen ersten Mord begangen hat, in krimineller Hinsicht vervollkommnet worden. Davon hätte ich gern mehr gelesen. Auch hätte ich mir gewünscht, dass Colson Whitehead Pepper und dessen enge Bekanntschaft zu Carneys Vater als Sprungbrett genutzt hätte, Big Mike und dessen zwielichtigen Machenschaften mehr Raum in "Harlem Shuffle" zu geben. Denn diese werden weitestgehend ausgespart, indem primär Carneys Perspektive geschildert wird. Der ist zu klein gewesen, um die Geschäfte seines Vaters zu verstehen, denen Big Mike größtenteils in Phasen seiner Abwesenheit von Zuhause nachgegangen ist.
Zu den Antagonisten dieses Romans zählen der durch seinen Kleidungsstil auffallende Miami Joe, der nur von einem Kick zum nächsten lebt, die ihm die von ihm ausgetüftelten Pläne verschaffen, wenn diese von Erfolg gekrönt aufgehen, und der angesehene Bankier Wilfred Duke. Hinter dessen sorgsam gehegten, hoch anständigen Fassade verbirgt sich ein Gauner und Dieb. Sogar Carney fällt darauf rein, als er sich von Duke im Zuge seiner Bewerbung um eine Mitgliedschaft im Dumas Club um sein Geld betrügen lässt. Dukes Prestigeprojekt ist die Gründung einer neuen Bank. Darin haben seine langjährigen Geschäftspartner und Freunde bereits Millionen investiert, obgleich eine Duke gegenüber kritisch eingestellte Zeitung hartnäckig behauptet, dass das alles nur ein großer Schwindel sei. Stärker hätte "Harlem Shuffle" ausfallen können, wenn sich Colson Whitehead mehr auf den soziopathisch veranlagten Miami Joe und den ihn als Napoleon abbildenden Karikaturen huldigenden Duke konzentriert hätte, statt allein den im Vergleich dazu eher blassen Protagonisten Carney in seinen Mittelpunkt zu stellen.

Bewertung vom 21.06.2023
Die Abtrünnigen
Gurnah, Abdulrazak

Die Abtrünnigen


sehr gut

Kunstvoll arrangiertes Liebesdrama mit ungewöhnlichen mystischen Elementen im politisch-historischen Kontext Sansibars

1899 in Sansibar. Als Hassanali Zakariya eines Morgens seiner Verpflichtung als Mujahedin nachkommt, glaubt er aus den Schatten heraus von einem Ghul auf den Stufen der Moschee angegriffen zu werden. Dann muss er seinen Irrtum erkennen, da er den vor ihm liegenden Mann nur aufgrund der noch herrschenden Dunkelheit nicht gleich als solchen zu erkennen vermochte. Wie es die Gastfreundschaft gebietet, bringt Hassanali den Fremden, der dieser in seinem geschwächten Zustand dringend bedarf, zu sich nach Hause. Das ist der Engländer Pearce. Als einziger Europäer, der einen Fuß in dieses Viertel gesetzt hat, ist er eine Sensation. Aber nach seiner Ankunft nimmt auch das Drama seinen Lauf.

Literaturnobelpreisträger Gurnah beginnt seine Erzählung von “Die Abtrünnigen” beinahe mit einem mystischen Touch, wenn der Anfang dieses Romans etwa im ersten Aufeinandertreffen von Hassanali und Pearce Anleihen von einer Legende hat. Das erste Drittel dieses Romans stellt eher eine Ouvertüre zu dem Liebesdrama dar, das sich dann entfalten wird, und wechselt die Erzählung der Geschichte in der Beschreibung der Gedankengänge von Hassanali über seine Schwester Rehana bis hin zu Pearce. Dabei hat mich die erfolgende Verschiebung des Blickwinkels überzeugt, die einerseits die Sichtweise der jeweiligen Figur wiedergibt, andererseits aber auch deren Betrachtung von außen ermöglicht. Hassanali und Rehana sind mir in ihren Sorgen und Ängsten weit sympathischer als der schroffe Turner gewesen. In dessen von seinem kolonialen Anspruchsdenken geprägten Ansichten, die er seinem Gast Pearce in Monologartigen Vorträgen erläutert, liegt wohl sein ruppiger bis Furcht einflößender Umgang mit der einheimischen Bevölkerung begründet. Ein Beispiel dafür ist dessen Dogma von der Faulheit der befreiten Sklaven, aufgrund derer die Plantagen verkommen sind, weil diese ihre Zeit lieber mit Nichtstun vergeudet als einer bezahlten Arbeit verbracht haben. Auch sind die Ausführungen, die Gurnah nebenher zu einem weitestgehend vergessenen, da höchstens am Rande behandelten Kapitel deutscher Geschichte einfließen lässt, von Interesse. Zu diesen historischen Ereignissen zählen das Abkommen zur Abgrenzung der Interessenssphären in Ostafrika zwischen Deutschland und Großbritannien aus 1886 sowie der Verzicht auf alle Ansprüche nördlich Deutsch-Ostafrikas in 1890.

"Die Abtrünnigen" gewinnt im weiteren Verlauf durch die auf zwei zusätzlich eingeführten Zeitebenen erzählte Handlung eine gewisse Komplexität. Nach dem Jahr 1899 springt der Roman für dessen zweiten Teil in die frühen Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, um die Kindheit und Jugend der von da an zentralen Figuren Amin und seines jüngeren Bruders Rashid zu schildern. Der dritte Teil wiederum spielt zwanzig Jahre nach dem Ende seines Vorgängers. Dabei werden die Zusammenhänge, die zwischen den verschiedenen zeitlichen Abschnitten bestehen, erst nach und nach enthüllt. Geschickt konstruiert Gurnah den nicht gänzlich chronologischen Aufbau seiner Geschichte, wenn er während des Erzählens schon mal in die Vergangenheit abdriftet oder Ausblicke auf die Zukunft liefert und kurz vor Schluss einen Abriss der letzten Jahrzehnte aus Sicht eines Protagonisten einschiebt. Diese kunstvoll arrangierte Art der Wiedergabe der Handlung führt zwar einerseits zu einigen überraschenden Entwicklungen unterschiedlicher Figuren, sorgt aber andererseits auch dafür, dass das Drama in ihrem Leben teilweise zu abstrakt geblieben und damit wenig nachvollziehbar für mich gewesen ist. Denn allzu oft spart der Autor die belastenden Abschnitte im Wesentlichen aus, indem er diese als Rückblick aus Sicht anderer, die diese als Gerüchte untereinander austauschen, wiedergibt oder kurz nach deren Auftreten die Perspektive zu einer Person wechselt, die die tragischen Ereignisse kaum zur Kenntnis nimmt.

Stärker wären "Die Abtrünnigen" ausgefallen, wenn Gurnah seine überzeugende Kombination aus ungewöhnlichen mystischen Elementen eingebettet in den historisch politischen Kontext Sansibars in den Mittelpunkt seines Romans gestellt hätte. Beispiele dafür sind die nur am Rande einfließenden Legenden, die sich um ein lang verehrtes Grab und den giftigen Biss eines Skorpions ranken, aber auch die gelungenen Bilder, die der Autor für politische Umbrüche sowie den diesen vorausgehenden Ist-Zustand Sansibars aus früheren Zeiten gefunden hat. So wird etwa das Einfärben einer Karte von Afrika aus britischer Sicht zur Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben, die sich an den Ansprüchen wie Einflussgebieten verschiedener den Kontinent dominierender europäischer Nationen orientiert. Davon hätte ich gern mehr gelesen, da die tragische, Blut getränkte Geschichte Sansibars - anstelle der unglücklichen Liebesbeziehungen auf individueller Ebene - das eigentliche Drama im Kern dieses Romans darzustellen scheint.

Bewertung vom 12.06.2023
Finsternebel / Dabiri Walder Bd.2 (eBook, ePUB)
Läckberg, Camilla; Fexeus, Henrik

Finsternebel / Dabiri Walder Bd.2 (eBook, ePUB)


gut

Abwechslungsreich erzählter, wenig für den Einstieg in die Reihe geeigneter zweiter Fall für die neurotische Dabiri und den zwanghaft veranlagten Mentalisten Walder

Als Fredrik Walthersson an einem heißen Sommertag seinen fünf Jahre alten Sohn Ossian von einem Ausflug im Park, den sie von dessen Kita aus organisiert haben, abholen will, schickt Betreuer Tom ihn erst zu den Schaukeln und im Anschluss daran nach drinnen. Aber Fredriks Sohn ist weiterhin unauffindbar und niemand weiß etwas über dessen Verbleib, bis seine Freundin Felicia enthüllt, dass Ossian zu der blöden Frau ins Auto gestiegen ist. Dann ist die Fremde mit ihm weggefahren, nachdem sie ihn mit der Aussicht auf Rennautos fortgelockt hat.

“Finsternebel” ist nach “Schwarzlicht” der zweite Fall für Polizistin Mina Dabiri und Mentalisten Vincent Walder, der zeitlich zwei Jahre nach dem ersten spielt. Minas Team besteht aus ihrer Chefin Julia, dem ehemaligen Frauenhelden Ruben, dem penibel arbeitenden Vollblutvater Peder Urgestein Christer und Neuzugang Adam.
Ohne “Schwarzlicht” zu kennen, habe ich den Einstieg in “Finsternebel” als wenig gelungen empfunden. Denn einerseits verraten Läckberg und Fexeus dabei zu viel über die Auflösung des Vorgängers. Andererseits gewinnen Mina und Vincent durch die ausführlich geratene Einleitung nicht an Profil. In Minas Figurenzeichnung stechen die von ihr gepflegten Neurosen hervor, die selbst dann oft ihre Gedankengänge beherrschen, wenn sie ihre volle Aufmerksamkeit auf ihren aktuellen Fall richten sollte. In seinem ersten Kapitel wird Vincents neue Show beschrieben. Wenn ich diese Show aber etwa dem ersten Auftritt von Mentalist Patrick Jane in der gleichnamigen Fernsehserie gegenüberstelle, ist Vincent im Vergleich dazu blass geblieben. Da sind bei mir wohl durch die Angabe, dass Walder als Mentalist kein Profiler wie viele andere ist, Erwartungshaltungen geschürt worden, die die Autoren in diesem Krimi nicht einzuhalten vermochten.

In "Finsternebel" schwankt die Qualität der Figurenzeichnung enorm. Zwischenmenschliche Beziehungen werden gekonnt zwischen Ruben und seiner Psychotherapeutin Amanda während seiner Sitzungen oder mit mehr emotionalem Tiefgang zwischen Adam und seiner Mutter bei ihrem Krankenhausbesuch beschrieben. Nur fällt eben die Charakterisierung der Protagonisten Dabiri und Walter recht schwach aus. Denn auch Vincent neigt zu zwanghaftem Verhalten, das ihn etwa ungerade Zahlen nicht ertragen und abwegige Zusammenhänge herstellen lässt. Insgesamt ist die Figurenzeichnung von Vincent inkonsistent geraten, weil er Mentalist und Profiler ist, obwohl Menschen ein Buch mit sieben Siegeln für ihn sind. Im Zuge sozialer Interaktion wird er oft mit dem Rätsel konfrontiert, das andere für ihn bedeuten, da er weder versteht, was sie ihm sagen wollen, noch welche Reaktion sie von ihm erwarten. Minas Verhalten schwankt von unsympathischen Zügen in ihrem Umgang mit Tieren wie Bürohund Bosse oder dem erbarmungslosen Zerquetschen einer Wespe, bei dem der für sie entscheidende Punkt ist, dass sie dafür ein Feuchttuch zur Hand hat, bis hin zu irritierenden Szenen, indem sie sich nach dem Weinen aus Angst vor der unhygienischen Natur von Tränen Wangen und Augen mit Desinfektionsmittel auswäscht.

"Finsternebel" beginnt stark, da das erste Kapitel mit einem Paukenschlag endet, als Vater Frederik die Entführung seines Sohns Ossian realisieren muss. Denn es gibt kaum ein schlimmeres Verbrechen als die Entführung eines kleinen Kindes. Über die Integration von Neuzugang Adam in das Team wird dann die Verbindung zu einer Verbrechensserie hergestellt. Denn im Jahr zuvor ist die Leiche der ebenfalls erst fünf Jahre alte Lily Meyer an einem Bootssteg aufgefunden worden, nachdem sie drei Tage zuvor spurlos verschwunden ist. Abgesehen von einem spannenden Einsatz, bei dem Ruben sein gutes Bauchgefühl und Adam sein Geschick als Verhandlungsführer unter Beweis stellen darf, wird in "Finsternebel" der Fokus auf die falschen Punkte gelenkt, wenn die darin erzählte Geschichte eher ein Plädoyer für den Einsatz von Feuchttüchern und Desinfektionsmittel sowie für die zwischen Vater und Mutter gleichberechtigt aufzuteilenden Pflichten im Haushalt darstellt. Im Anschluss an den gelungenen Einstieg plätschert die Handlung trotz des an sich abgründigen Falls, um den dieser Krimi kreist, zunächst über weite Strecken vor sich hin. Das liegt wohl primär im allzu jungen Alter der Opfer begründet. Prinzipiell sind die erst wiederholt eingeschobenen, in kursiv gedruckten Abschnitte, die aus Sicht von Ossian nach seiner Entführung geschildert werden, ein interessanter Ansatz. Indem sich Läckberg und Fexeus jedoch vor expliziten Szenen, ob in blutiger oder brutaler Hinsicht, scheuen und es bei harmlos kindischen Gedankengängen des weinenden Ossian, der nicht bei den Fremden mit den unnetten Augen bleiben mag, belassen, bremsen sie die Spannung aus.

Bewertung vom 10.06.2023
Der Club. Dabeisein ist tödlich (eBook, ePUB)
Lloyd, Ellery

Der Club. Dabeisein ist tödlich (eBook, ePUB)


sehr gut

Intensiv erzähltes Krimi-Drama um Geheimnisse in der Welt der Reichen und Schönen

Vor der britischen Küste liegt eine derart abgeschiedene Insel, dass die sich mit dem Auto nur bei Ebbe über eine gewundene Straße erreichen lässt. Dort steigt das größte Launch Event in der Geschichte von Home. Dabei wurde das weitläufige Areal der Insel in Island Home verwandelt, das nun den Mitgliedern von Home für einen luxuriösen Aufenthalt zur Verfügung steht. Dazu zählen berühmte Schauspieler, bekannte Regisseure und Künstler. Doch die Ereignisse überschlagen sich am letzten Morgen, als beim Frühstück im Unterwasser gelegenen Restaurant ein versunkener Land Rover bemerkt wird. Erst wird der von den Anwesenden für einen aufwendigen Marketing Coup gehalten, bis dann die Leiche darin entdeckt wird.

“Der Club” wird vom Autoren-Ehepaar Collette Lyons und Paul Vlitos, das sich hinter dem Pseudonym Ellery Lloyd verbirgt, abgesehen von einem vorangestellten “Vorspann” aus fünf verschiedenen, einander abwechselnden Perspektiven erzählt. Diese umfassen die Sicht von Jess Wilson, der neuen Head of Housekeeping auf Island Home, von Annie Spark, der Head of Membership bei Home, von Nikki Hayes, der persönlichen Assistentin von Home-Group-Ceo Ned Groom, sowie von Adam Groom, der Neds Bruder und Miteigentümer von Home ist. Dabei erzielt "Der Club" in seiner Konzentration auf eine Handlung, die sich innerhalb weniger Tage und auf einer von der Außenwelt abgeschnittenen Insel abspielt, eine beinahe kammerspielartige Wirkung. Zusätzlich erfolgt am Kapitelende eine zeitlich später angesiedelte Berichterstattung in der Vanity Fair, die Einblicke in die dramatischen Ereignisse liefert, die das Launch Wochenende noch erschüttern werden.
Damit hat Ellery Lloyd einen interessanten Blickwinkel gefunden, aus dem die erst wenig an einen Kriminalroman erinnernde Geschichte erzählt wird. Denn der gewählte Standpunkt ist einer aus dem Schatten heraus, wenn die Perspektive des Housekeeping oder der persönlichen Assistentin wiedergegeben wird. Diese sind einerseits ganz nah dran an den Reichen und Berühmten, bleiben andererseits aber außen vor, indem deren Anwesenheit übersehen oder die ihnen eigentlich zustehende Bedeutung nicht beigemessen wird.
Zu einem exklusiven Abendessen vor der offiziellen Eröffnung von Home Island sind der berühmte Schauspieler Jackson Crane und seine Frau Georgia, der gefragte Late-Night-Talkmaster Freddie Hunter, Wunderkind und Filmproduzent Kurt Cox sowie der Künstler Keith Little von Ned eingeladen worden. Damit fällt das für "den Club" relevante Figurenarsenal ziemlich umfangreich aus. Da ist es mir gerade zu Beginn nicht leicht gefallen den Überblick darüber zu behalten. Das lag primär darin begründet, dass die zum Dinner geladenen Gäste in ihrer recht eindimensional geratenen Charakterisierung neben Home-Ceo Ned blass und austauschbar geblieben sind. Dafür überzeugen die Autoren mit ihrer Figurenzeichnung von Ned, der im Zentrum dieses Romans steht. Dazu trägt Neds narzisstische Seite bei, die ihn niemanden neben sich im Mittelpunkt dulden lässt, so dass ihm keiner das Rampenlicht stehlen kann. Vorgestellt wird er bei einem total überzogenen Wutausbruch dem Design Team von Home Island gegenüber. Neds Art sein Unternehmen führen, ist zwar von visionären Ansätzen und genialen Ideen, aber auch von einem extrem hohen Mitarbeiter Verschleiß geprägt. Bevor er Home geerbt hat, ist er ein erfolgreicher Anwalt gewesen, der leicht Verbindungen zu anderen aufbauen und jeden mit seinem Charme um den Finger wickeln konnte. Ned liebt es seine Spiele mit seinem Umfeld zu treiben und Macht auszuüben, so dass er viele vor den Kopf stößt oder sich sogar zu Feinden macht, wenn bei ihm der Zweck die Mittel heiligt.

"Der Club" hat mich als eindringlich geschildertes Drama überzeugt, das seine Intensität aus der Wiedergabe der Gedankengänge der Opfer gewinnt. Die Schilderung der traumatischen Erfahrungen, die sie zu erleiden hatten, habe ich als glaubwürdig empfunden. So sind die teils drastischen Handlungen, zu denen sie sich entschieden haben, um Rache an ihren Peinigern zu nehmen, für mich nachvollziehbar geworden.
Schwächen hat "Der Club" dagegen in den zu einseitig angelegten Figuren der Antagonisten gezeigt. Da hätte dem Roman gut getan, wenn deren Charakterisierung vielschichtiger geraten wäre. Denn Ellery Lloyd hat die kleine, letzten Endes klar in gut und böse unterteilte Home Island Welt oft insgesamt zu einfach gehalten. Auch verzichten die Autoren nach dem starken Prolog auf actiongeladene Szenen, die das Adrenalin hochtreiben. Dabei hätte die an sich im Roman erzählte Geschichte, die einen Vermisstenfall und mehr als nur einen Mordversuch resp. Mord umfasst, reichlich Gelegenheit dazu geboten. Spannender wäre "Der Club" ausgefallen, wenn sich die Autoren nicht ausschließlich auf die Geheimnisse, die quasi jeder der auf Home Island Anwesenden hütet und die erst nach und nach enthüllt werden, konzentriert hätten.