Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Mikka Liest
Wohnort: 
Zwischen den Seiten
Über mich: 
⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 26.01.2024
Das fehlende Glied in der Kette / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.1
Christie, Agatha

Das fehlende Glied in der Kette / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.1


ausgezeichnet

In diesem Roman stellte Agatha Christie erstmals den belgischen Detektiv Hercule Poirot in den Mittelpunkt. Da konnte die Großmeisterin des gepflegten britischen Kriminalromans sicher selber noch nicht ahnen, welchen Siegeszug der selbstherrliche, eitle Poirot antreten würde: 33 Romane, zwei Theaterstücke und 55 Kurzgeschichten!

Interessanterweise konnte sie ihre eigene Kreation im Laufe der Jahre immer weniger ausstehen … Christie schrieb in ihrer Autobiografie und in verschiedenen Briefen über ihre Frustration bezüglich Poirot, und es wird oft zitiert, dass sie ihn als 'aufgeblasenen kleinen Idioten' bezeichnete. Trotz ihrer persönlichen Ansichten über Poirot war Christie jedoch professionell genug, die Wünsche ihrer Leserschaft zu respektieren.

In seinem Debüt wird der belgische Flüchtling Hercule Poirot beauftragt, den Mord an Emily Inglethorp, der reichen Herrin von Styles Court, aufzuklären.

Die Handlung zeigt bereits einige Merkmale, die sich im Laufe der Jahrzehnte zu Christies Markenzeichen entwickeln würden: Innovative Wendungen spielen mit den damaligen Konventionen des Genres, und sorgfältig aufgeschlüsselte Hinweise ermöglichen dem aufmerksamen Leser, den Fall schon vor dem Detektiv (hier Poirot, später auch Miss Marple) zu lösen. Die Spannung wird durch ein komplexes Netz aus Verdächtigungen aufrechterhalten.

Christie verwendet einen klaren, direkten Stil, der für Leser:innen leicht zugänglich ist. Ihre präzise Sprache und ihre Fähigkeit, Details zu vermitteln, ohne langatmig zu wirken, tragen zur Lesefreude bei, und ich liebe vor allem ihren wunderbar trockenen Humor.

In meinen Augen reift ihr Stil im Laufe ihres Lebens immer mehr aus, doch «Das fehlende Glied in der Kette» ist bereits ein bemerkenswerter Roman!

Bewertung vom 26.01.2024
Mord auf dem Golfplatz / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.2
Christie, Agatha

Mord auf dem Golfplatz / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.2


ausgezeichnet

In diesem Werk begleiten wir den belgischen Detektiv Hercule Poirot und seinen Freund Captain Hastings nach Merlinville-sur-mer, Frankreich. Der Grund ihrer Reise ist das Hilfegesuch eines französischen Multimillionärs, der um sein Leben fürchtet.
Als sie eintreffen, ist es jedoch bereits zu spät: Paul Renauld wurde tot auf dem Golfplatz aufgefunden, erdolcht mit einem Brieföffner​​. Poirot und Hastings schließen sich den lokalen Ermittlern an, um den Mord aufzuklären. Neben der Familie des Opfers und den Hausangestellten tauchen schnell weitere Verdächtige auf, während Poirot auch noch eine parallele Handlung in London und anderen Teilen Frankreichs verfolgt. Zusätzliche Komplexität erhält die Geschichte durch ein zweites Mordopfer, einen möglicherweise zu Unrecht Verdächtigten und einen Konkurrenten Poirots, der sich als der bessere Detektiv erweisen möchte.

Wie man das von der Großmeisterin des britischen Whodunits kennt, hat auch «Mord auf dem Golfplatz» überraschende Wendungen, komplexe Handlungsstränge, falsche Fährten und eine intelligente Spannung zu bieten. Und natürlich darf auch Christies wunderbar trockener Humor nicht fehlen! Dieser wird hier vor allem dadurch befeuert, dass der selbstherrliche Poirot sich mit einem nicht minder selbstherrlichen Herausforderer messen muss. Da kann Hastings eigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln, hält seinem Freund Poirot aber dennoch die Treue.

Viele moderne Lesende werden hingegen ob Hastings veraltetem Frauenbild den Kopf schütteln! Da der Roman jedoch bereits 1923 erschien, kann man das Dame Agatha Christie meines Erachtens nicht ankreiden; es ist sicher realistisch und nicht ungewöhnlich für die Zeit.

Bewertung vom 08.01.2024
Helle Tage, dunkle Schuld / Kriminalinspektor Carl Bruns Bd.1
Völler, Eva

Helle Tage, dunkle Schuld / Kriminalinspektor Carl Bruns Bd.1


gut

⭐⭐⚝

Wir befinden uns im Ruhrgebiet im Jahr 1948. Der Kriminalbeamte Carl Bruns, der im Nazi-Regime den Ariernachweis nicht erbringen konnte und daher postwendend entlassen wurde, nimmt seinen Beruf im Essener Polizeipräsidium wieder auf. In einer schwärenden Atmosphäre der oft verdrängten Schuld sieht er sich schon bald mit einem Mordfall konfrontiert, der möglicherweise mit einem der zahlreichen grauenvollen Kriegsverbrechen verbunden ist.

Während seiner Ermittlungen begegnet Carl seiner Jugendliebe Anna, gerät selbst ins Visier des Mörders und beobachtet ernüchtert die Fallstricke der Entnazifizierung.

Eva Völler betritt hier erstmals das Genre des historischen Kriminalromans; das Ergebnis ist vielversprechend, hat meines Erachtens jedoch auch deutliche Schwächen.

Großartige Szenen, in denen die Nachkriegszeit eindringlich und mit viel Gespür für historische Details zum Leben erwacht, wechseln sich ab mit Momenten des Pathos und der aufgesetzten Emotionalität. Dies wäre gar nicht nötig gewesen, hat die beschriebene Situation doch mehr als genug Konflikt- und Spannungspotential!

Ähnlich gespalten empfand ich die Darstellung der Protagonisten und Protagonistinnen. Ja, die Grundlagen für komplexe, vielschichtige Charaktere sind gegeben! Aber leider erweisen sich diese Grundlagen in meinen Augen oft als Brachland, weil Charakterzüge und Eigenschaften übersteigert werden, statt sie mit psychologischem Gespür zu entwickeln.

«Wie ließ es sich sonst erklären, dass ihr Herz jedes Mal aus dem Takt geriet, wenn sie vor seiner Tür stand und darauf wartete, dass er ihr aufmachte? Oder dass sie schon bei dem Gedanken an seine Küsse feucht wurde und beim Liebesakt binnen Sekunden zum Höhepunkt kam, ehe er noch vollständig in sie eingedrungen war? In seinen Armen zu liegen, fühlte sich an wie eine machtvolle Droge, und sobald sie von seinem Bett aufstand und in ihre Sachen schlüpfte, spürte sie schon die trostlose Kälte des nahenden Entzugs.

(…)

Ihr Haar rieselte wie flüssiges Gold auf ihre Schultern, und ihre Brüste wölbten sich über ihrer schlanken Mitte in makellos straffer Fülle. Die fast madonnenhaften Züge ihres Gesichts bildeten einen irritierenden Gegensatz zu den sinnlichen Kurven ihres Körpers, abgesehen von den herzförmig geschwungenen Lippen, die auch ungeschminkt aussahen, als wäre sie jederzeit bereit zu einem Kuss.»
(Zitat)

Die Autorin beschreibt weibliche Charaktere mitunter mit geradezu 'männlichem Blick', im Sinne des oft zitierten Stereotyps. Eigenschaften wie Unschuld und Selbstlosigkeit werden mit Eigenschaften wie Attraktivität und sexuelle Verfügbarkeit kombiniert, was eine idealisierte und unrealistische Sicht auf die weibliche Figur erzeugt. Zudem werden die Traumata, die mit der Prostitution in der Nachkriegszeit verbunden sein können, dadurch in meinen Augen trivialisiert.

Die Liebesgeschichte zwischen den Hauptfiguren empfand ich leider als aufgesetzt und klischeehaft. Sie nimmt sehr viel Raum ein, während andere Themenkomplexe vernachlässigt wurden – insbesondere die Ermittlungsarbeit des eigentlichen Kriminalfalls, wodurch Spannung verloren geht.

Fazit:

«Helle Tage, dunkle Schuld» verbindet die Komplexität der Nachkriegszeit in Deutschland mit einem auf Tatsachen beruhenden Kriminalfall. Ein vielversprechender Ansatz! Doch bedauerlicherweise wich meine anfängliche Begeisterung schnell einer gewissen Ernüchterung; interessante Einblicke in die Gesellschaft der Zeit können nicht über fehlende Spannung und eine schwächelnde Charakterzeichnung hinwegtäuschen.

Bewertung vom 08.12.2023
NACHT - Die Toten von Jütland / Ein Fall für die Task Force 14 Bd.1
Bagger, Thomas

NACHT - Die Toten von Jütland / Ein Fall für die Task Force 14 Bd.1


gut

Im beschaulichen Jütland wird eine Leiche aus dem Leichenschauhaus entwendet, nur um makaber inszeniert wieder aufzutauchen. Unerfreulich, gar keine Frage! Doch erst die Entdeckung eines Massengrabs ruft die Sonderermittler der Task Force 14 auf den Plan, nicht unbedingt zur Freude der örtlichen Mordkommission.

Anfänglich war ich von «NACHT» sehr angetan. Bevor es in die düsteren Abgründe eines typischen dänischen Thrillers abtaucht, beginnt es wie ein Krimi der alten Schule: Die Grundzüge des Falls werden vorgestellt, dann das Team der Ermittler, die alle mit mehr oder weniger ausgeprägten Eigenheiten geschildert werden. Manches erschien mir etwas erzwungen, aber noch war ich voll und ganz an Bord.

Ein Nebenkonflikt entfaltet sich, als Kommissar William Grandberg wegen Befangenheit nicht selber ermitteln darf; der Name seiner Familie wurde in die Brust der entwendeten Leiche eingeritzt. Da spielt auch keine Rolle, dass er sich schon lange von den Grandbergs losgesagt hat, die unter dem Deckmäntelchen der gediegenen Oberschicht die Geschehnisse des Ortes lenken – auf mehr oder weniger dubiose Art…

Nach der Ankunft der Sonderermittler wendet sich das Blatt. Mit jeder Seite wird der Thriller düsterer, zieht der Fall weitere Kreise – bis ins brutale Milieu des organisierten Verbrechens in Rumänien. Die Grausamkeiten werden detailliert geschildert und dabei geradezu seelenlos abgearbeitet: Menschenhandel. Zwangsprostitution. Folter. Mord. Die beteiligten Charaktere wirkten wie Marionetten in einem Schauspiel der menschlichen Abartigkeiten, blieben mir jedoch vollkommen fremd.

Sicher, das ist leider realistisch. Doch die Art und Weise, wie es beschrieben wurde, bremste den Lesefluss für mich vollkommen aus. Ich fühlte mich zutiefst deprimiert, doch immer weniger am eigentlichen Fall interessiert.

Das Ende war überraschend, aber meines Erachtens überkonstruiert.

Fazit:

Der Schreibstil ist ansprechend, das grundlegende Handlungsgerüst vielversprechend. Doch die Spannung verliert sich in Momentaufnahmen der Grausamkeit, und die Charaktere sind mal gut geschrieben, mal schablonenartig aufs Papier gebracht.

Bewertung vom 05.12.2023
Bis ihr sie findet / DCI Jonah Sheens Bd.1
Lodge, Gytha

Bis ihr sie findet / DCI Jonah Sheens Bd.1


ausgezeichnet

Die Geschichte bedient sich eines klassischen Schemas:

Eine Freundesgruppe trifft sich an einem isolierten Ort, mit katastrophalen Folgen für eine:n der Anwesenden. Alle sind verdächtig, alle beharren auf ihrer Unschuld… Der Fall bleibt für lange Jahre unaufgeklärt, bis eine neue Entwicklung dazu führt, dass die Ermittlungen wieder aufgegriffen werden.

In Gytha Lodges Variation dieses Klassikers sind es sechs Jugendliche, die gemeinsam im Wald zelten – mit Alkohol, Drogen und brodelnden Hormonen. Am nächsten Morgen ist Aurora, das vierzehnjährige Nesthäkchen, spurlos verschwunden. Was ist passiert? Mindestens eine:r der Jugendlichen muss es wissen… Und schweigt. Dreißig Jahre später wird eine Leiche ganz in der Nähe des damaligen Zeltplatzes gefunden, und die Knochenanalyse zeigt: Alter und Geschlecht stimmen.

DCI Jonah Sheens beginnt damit, das dichte Lügengeflecht zu entwirren, und muss sich dabei durch einen Morast unzulänglicher, möglicherweise korrupter Polizeiarbeit wühlen – ohne an die Öffentlichkeit kommen zu lassen, dass er Aurora kannte.

Zu meiner Meinung:

Um es vorweg auf den Punkt zu bringen: Die Grundidee mag nicht neu sein, doch Gytha Lodge setzt sie mit einer Souveränität um, die vergessen lässt, dass es sich hier um einen Debütroman handelt! Der atmosphärische Schreibstil führt sehr ansprechend und vielfältig durch die Geschichte.

Beim ersten Band einer neuen Krimireihe ist eine gute ‚Besetzung‘ schon die halbe Miete: komplex geschriebene Verdächtige mit Tiefgang, und vor allem Ermittler:innen, die einen lang angelegten Handlungsbogen tragen können. Als Fundament kann ein gewisser Sympathiefaktor dienen, aber sie sollten sich auch durch Intelligenz und frische Ermittlungsansätze auszeichnen. Meines Erachtens erfüllen die Charaktere von «Bis ihr sie findet» diese Anforderungen!

Die Spannung baut sich schnell auf, getragen durch intelligente Dialogwechsel und eine interessante psychologische Dynamik. Geschickte Rückblenden, Perspektivwechsel und unerwartete Wendungen sorgen dafür, dass sie bis zur Auflösung nur selten abflaut – und das ohne exzessive Gewalt.

Bewertung vom 22.11.2023
Die letzte Nacht / Georgia Bd.11
Slaughter, Karin

Die letzte Nacht / Georgia Bd.11


ausgezeichnet

'Es ist schon ewig her, dass du etwas von Karin Slaughter gelesen hast', dachte ich mir. 'Das solltest du mal ändern, und dieser Einzelband klingt vielversprechend!'

Tja. Dass es sich hier tatsächlich um den elften Band einer Reihe handelt, war mir nicht bewusst. Aber immerhin kann ich jetzt attestieren, dass es durchaus möglich ist, «Die letzte Nacht» ohne Vorkenntnisse zu lesen, auch wenn dadurch sicher viele Feinheiten an mir vorübergingen. Mea Culpa! Ich gelobe, die ersten Bände nachzuholen.

Die Handlung beginnt mit einem hohen Maß an Spannung und weiß bis zum schlüssigen Ende durchweg zu fesseln, mit einigen überraschenden Wendungen und einem dramatischen Finale. Da Karin Slaughter hier über Themen spricht, die auch in der Realität brutal und grausam sind, nimmt sich der Thriller nicht zurück und beschönigt nichts. Das ist intensiv, realitätsnah – und oft schwer zu lesen, auch wenn es meines Erachtens mitnichten reißerisch übersteigert wird.

Die Handlung ist logisch aufgebaut und bietet einen so gelungenen wie erschreckenden Einblick in die Abgründe der menschlichen Natur, sei es nun rohe Gewalt oder organisierte Kriminalität. Gleichzeitig erkundet der Roman die zarteren Elemente der menschlichen Psyche mit Subtilität und Feingefühl. Dem Schreibstil gelingt dieser Drahtseilakt mit Bravour, sodass die Lektüre sowohl fesselt als auch berührt.

Die angesprochenen Themen sind gleichzeitig brandaktuell und zeitlos, vor allem (sexuelle) Gewalt gegen Frauen, Incel-Kultur und Me-too.

An den Charakteren merkt man, dass es sich hier nicht um den ersten Band handelt: Sie haben alle ihre persönlichen Vorgeschichten, die mal dezent durchklingen, mal ausdrücklich referenziert werden. Die Beziehungen der wiederkehrenden Figuren sind komplex und vielschichtig, und das bietet einen reichen Nährboden für überzeugende Charakterentwicklung. Besonders Sara Linton macht eine tiefgründige Reise durch.

Fazit:

Der Thriller weiß mit spannendem Aufbau, fesselndem Erzähltempo und gelungener Darstellung sensibler Themen zu überzeugen, und der angenehme Schreibstil hält die verschiedenen Stränge der komplexen Handlung gekonnt beisammen.

Bewertung vom 17.11.2023
Der Uhrmacher in der Filigree Street
Pulley, Natasha

Der Uhrmacher in der Filigree Street


ausgezeichnet

Im London der 1880er Jahre arbeitet Thaniel Steepleton als einfacher Angesstellter im Innenministerium. Als er jedoch eine mysteriöse goldene Taschenuhr auf seinem Kissen findet, nimmt sein ansonsten gewöhnliches Leben eine fantastische Wendung. Bald entdeckt er, dass Pfandleiher sich vehement weigern, die wertvolle Uhr anzunehmen – und das, obwohl sie sie sofort als das Werk des Meisteruhrmachers Keita Mori erkennen. Verwirrt kehrt Thaniel zu seiner winzigen Wohnung und seinem ereignislosen Leben zurück. Dieses wird jedoch kurz darauf in mehr als einer Hinsicht in den Grundfesten erschüttert…

Nachdem die Uhr ihm buchstäblich das Leben gerettet hat, sucht Thaniel ihren Hersteller auf, hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Misstrauen. Obwohl der einsame Einwanderer aus Japan freundlich und harmlos erscheint, verfügt Mori offensichtlich über Wissen, das einen unheilvollen Beiklang hat… Doch Thaniel erkennt bald, dass dieser ruhige, bescheidene Mann zwar vieles verbirgt, jedoch nicht aus den Gründen, die die paranoide Xenophobie der englischen Gesellschaft suggeriert.

Währenddessen ist die junge Grace Carrow entschlossen, ihr Leben der Wissenschaft zu widmen. Um ein wissenschaftliches Labor einrichten zu können, muss sie allerdings die Bedingungen eines Erbes erfüllen – und heiraten.

Mit ihrem wunderschönen, atmosphärischen Schreibstil zieht Natasha Pulley ihre Leserinnen und Leser in eine außergewöhnliche, hochoriginelle Welt: Die Handlungsstränge verweben sich zu einer Mischung aus historischer Fantasy, magischem Realismus und einem Hauch von Mystery mit Steampunk-Elementen. Dabei erkundet der Roman Themen wie unerwartete Liebe, schwierige persönliche Entscheidungen und komplexe menschliche Beziehungen.

Die Charaktere sind gut ausgearbeitet und vielschichtig, mit einem charmanten, gelegentlich skurrilen Touch. Die Freundschaft zwischen Thaniel und Keita Mori wird mit viel Feingefühl als zerbrechlicher Schatz beschrieben; darüber hinausgehende Gefühle schwingen meist subtil zwischen den Zeilen mit.

Außerdem enthält der Roman einen der entzückendsten Sidekicks, die ich je gelesen habe: Katsu, einen winzigen Uhrwerk-Oktopus, der gerne Socken stiehlt und viel mehr Persönlichkeit entwickelt, als sein Schöpfer beabsichtigt hatte.

Das Tempo ist eher langsam, was ich aber nicht als Mangel betrachte. Es gibt hier doch so viel zu entdecken! Daher wusste ich es zu schätzen, dass Natasha Pulley mir Zeit zum Erkunden ließ.

Fazit: Es war mir eine Freude, diesen originellen, charmanten Roman zu lesen. Die komplexen Charaktere und ihre vielschichtigen Beziehungen werden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Für mich ist dies definitiv eine 5-Sterne-Lektüre!

Bewertung vom 08.11.2023
Schwarzvogel / Fredrika Storm Bd.1
Skybäck, Frida

Schwarzvogel / Fredrika Storm Bd.1


sehr gut

Ein solider erster Fall für die Ermittler Fredrika Storm und Henry Calmont. Der Tod einer jungen Frau wühlt lange Verschwiegenes in Frerikas Heimatort auf – und enthüllt dunkle Geheimnisse ihrer eigenen Familie. Obwohl die Geschichte sich vertrauter Themen und Charakterkonstellationen bedient, hat die Handlung doch genug originelle Ideen zu bieten, um interessant zu bleiben.

Der Spannungsbogen nimmt nur langsam an Fahrt auf. Dies lässt der Autorin jedoch genug Zeit, um die verwickelten Familienverhältnisse und die Hintergründe des Mordfalls in Kapiteln voller Atmosphäre auszuarbeiten, mit schlüssigen Hinweisen und gelungenen falschen Fährten. Obwohl ihr das überwiegend stimmmig gelingt, wirken vereinzelte Aspekte der Handlung etwas unrealistisch, insbesondere Fredrikas Beteiligung an den Ermittlungen trotz offensichtlicher Befangenheit.

Die Hauptfiguren, insbesondere Fredrika und Henry, sind gut gezeichnete und lebendige Charaktere mit viel Potential. Die Dynamik zwischen den unterschiedlichen, oft etwas eigenwilligen Persönlichkeiten ist interessant und unterhaltsam.

Der Schreibstil ist flüssig, detailliert und atmosphärisch. Die kurzen Kapitel und der häufige Perspektivenwechsel tragen dazu bei, dass sich das Buch schnell und unterhaltsam lesen lässt. Lediglich ein paar Wiederholungen blähen die Handlung unnötig auf, sodass ein paar Passagen durchaus Längen aufweisen. Insgesamt ist das Buch jedoch meines Erachtens gut geschrieben.

Fazit:

Für mich war «Schwarzvogel» ein gelungener Reihenauftakt – ein klassischer, vielschichtiger Skandinavien-Krimi mit interessanten Charakteren. Noch ist zwar ein bisschen Luft nach oben, aber ich vergebe solide 4 Sterne.

Bewertung vom 04.11.2023
Weil da war etwas im Wasser
Kieser, Luca

Weil da war etwas im Wasser


sehr gut

Zitat:
«Wie das tiefschwarze Gefieder eines Hahnes vor dem Schrei dehnt sich dass All – und die Erde, unsere Heimat, ist darin nicht mehr als das Blitzen einer Federspitze.»

Tiere als Protagonisten sind nichts Neues. Katzen ermitteln in Mordfällen, Hunde berichten von der Liebesgeschichte ihres Frauchens – sogar Schafe sind schon als Handlungsträger aufgetreten. Aber ein Riesenkalmar, der Schwärze der Tiefsee entrissen? Oder genauer gesagt: die acht Arme des Kalmars, die voneinander unabhängig erzählen, sich sogar widersprechen? Eine mutige Wahl des Autors.

Diese Perspektive ist für Lesende ungewohnt, öffnet ein Fenster in eine Welt, die für uns so fremdartig ist wie ein anderer Planet. Monströs mag dieses Wesen auf den ersten Blick erscheinen, doch mit jeder Geschichte, die einer der Arme erzählt, erfahren wir mehr über seine Lebenswelt, seinen faszinierenden Körper, seine Gefährdung durch den Menschen.

Das ist halb Sachbuch, halb Roman. Durch eine Reihe weiterer, menschlicher Perspektiven schlägt der Autor Brücken zum für uns Nachvollziehbaren. Wir begegnen Menschen, die aus den verschiedensten Gründen mit dem Kalmar oder dem Ökosystem Meer im Allgemeinen zu tun haben. Außerdem widmet der Autor einige Passagen der Populärkultur, die sich mit den ‚Monstern‘, den Ungeheuern der Meere beschäftigen – von Jules Verne bis Steven Spielberg.

Doch auf jeden Schritt in vertraute Gefilde folgt wieder ein Bruch; dann zieht einer der Arme dich erneut ins Unbekannte.

Insgesamt ist die Konstruktion des Romans gewagt, in manchen Passagen meines Erachtens überfrachtet mit Themen, Fakten, Blickwinkeln. Dennoch: Die Erzählungen der Arme des Kalmars machen abstraktes Wissen greifbar, erheben ökologische Themen aus dem diffusen Nebel des leicht Ignorierbaren. Fußnoten schicken dich hierhin und dorthin – pures Chaos, aber unbedingt folgen!

Letztlich wirft Luca Kieser die Frage in den Raum, ob der Mensch überhaupt auf angemessene, sinnvolle Weise über Tiere und Natur sprechen kann. Kann der Roman als Bejahung dieser Frage gelten? Das liegt wohl im individuellen Ermessen der Leser:innen.

Für mich ist der Roman auf jeden Fall ein anerkennenswerter Versuch. Das Experimentelle seiner Struktur schubst dich aus der Komfortzone, und das macht Lust darauf, den angesprochenen Themen weiter nachzugehen.


Zitat:
«Und dann brach ein Klagelaut aus ihm hervor. Obwohl es stach, sog unser Kalmar in sich ein, was durch die Kiemen in ihn geriet. Schäumend grüne Gischt und jenes Gas – einen Moment waren da nur der Nachhall seines Schreis und das Weiß in einem grün schäumenden Meer und zwischen dem Himmel und ihm ein Kampf – dann siegte die Helligkeit und er duckte sich unter Wasser.»

Bewertung vom 23.10.2023
The Catch - Sie sagt, er sei perfekt. Doch ich weiß, dass er lügt ...
Logan, T.M.

The Catch - Sie sagt, er sei perfekt. Doch ich weiß, dass er lügt ...


ausgezeichnet

Abbie stellt ihren Eltern überraschend ihren Verlobten Ryan vor. Ihre Mutter ist entzückt – ach, was für ein höflicher, gut aussehender Mann! Aber bei ihrem Vater Ed schrillen alle Alarmglocken. Zwar kann er es nicht an etwas Konkretem festmachen, aber er ist sich sicher: Er steht einem Psychopathen gegenüber! Und dem soll er seine geliebte Tochter einfach so überlassen? Niemals.

Ed beginnt damit, Ermittlungen über Ryan anzustellen, auf der Suche nach Beweisen, die er seiner Frau und seiner Tochter präsentieren kann. Aber die Hochzeit rückt immer näher, und mit jedem erfolglos verstrichenen Tag wird Ed verzweifelter und obsessiver, überschreitet eine Grenze nach der anderen.

Obwohl die Handlung im Grunde recht einfach gestrickt ist, verleiht T.M. Logan ihr mit unerwarteten Wendungen und psychologischem Tiefgang eine originelle Note. Weder Ed noch Ryan lassen sich in die Karten blicken; die Eskalation des Konflikts geschieht unter der Hand. Im Ungesagten und in liminalen Räumen werden alltägliche Ängste auf die Spitze getrieben.

Es ist beklemmend, Ed dabei zuzusehen, wie er mehr und mehr den Halt verliert. Die Spannung schraubt sich immer weiter hoch, bis man gar nicht mehr weiß, welches Ende das Schlimmere wäre: Dass Ed Recht hat und Ryan wirklich gefährlich ist, oder dass er sich nur in etwa verrannt hat… Ja, manchmal schrappt Eds Verhalten haarscharf an der Grenze des Unglaubwürdigen entlang – aber meist stellt der Autor seinen Zwiespalt und seine Besessenheit nachvollziehbar dar. Im Großen und Ganzen fand ich die Charaktere gut ausgearbeitet.