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angie99
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dawo

Bewertungen

Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 06.03.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Der Klappentext von „Yellowface“ tönte so vielversprechend, dass ich dieses Buch letztes Jahr schon zu meinem absoluten „Must-Read 2024“ erklärt und seinem Erscheinungstermin regelrecht entgegengefiebert hatte. Wer darf was schreiben, was veröffentlichen? – diese Frage interessiert mich alleine schon aufgrund meiner eigenen Schreiberfahrungen brennend und aufgrund der spannenden Ausgangslage eines geklauten Manuskripts erwartete ich einige neue Denkanstöße.
Nach einem mitreißenden Einstieg tritt die Story jedoch zusehends auf der Stelle. Es mag für Außenstehende interessant sein, einen Einblick in die Mechanismen des Verlagswesens zu bekommen, ich empfand es als monotone Berichterstattung bereits bekannter Prozesse.
Ich-Erzählerin June Hayward ist zwar ein ambivalenter Hauptcharakter ohne Heldenglanz, doch ihre Motive sind so durchschaubar, dass sie trotzdem viel zu glatt wirkt. Der mehr erklärende als erzählende Ausdrucksweise der Hauptfigur und lasche Dialoge tun ihr übrigens, dass dieser wunderbar flüssig geschriebene Roman in weiten Teilen zu einem glitschigen Einheitsbrei verkommt.
Ich vermisse Ecken, Kanten, Spitzen und Tiefen. Stattdessen spulen die Figuren und Social-Media-Beiträge ein geradlinig zurechtgelegtes Pro- und Contra-kulturelle-Aneignungs-Programm ab. Im letzten Viertel zieht das Tempo auf der Handlungseben zwar nochmals an, doch sogar der künstlich aufgebauschte Höhepunkt endet vorhersehbar.
Überhaupt bleiben die Überraschungen fast vollständig aus. Sicherlich schneidet Rebecca F. Kuang wichtige und aktuelle Themen wie Hass im Netz und Diskriminierung an, vermag es, Diskussionen in Gang zu bringen, verschiedenen Argumente zu beleuchten. Allerdings geht die Tiefe ihrer Darstellung kaum über das hinaus, was schon der Klappentext verrät – und das ist für 380-Seiten-Werk eine zu magere Ausbeute.
Trotz der aufsehenerregenden Grundproblematik und den belehrenden Ansätzen bleibt „Yellowface“ deutlich hinter meinen Erwartungen zurück.
Die drei Sterne gibt es in erster Linie für den Mut des Verlages, eine Kritik an den eigenen Marktstrategien zu veröffentlichen – denn der Hype um dieses Buch ist wohl die eigentliche (Real-) Satire dahinter.

Bewertung vom 19.02.2024
Himmelwärts
Köhler, Karen

Himmelwärts


ausgezeichnet

„Himmelwärts“ hat geschafft, was nur wenige können: Es hat mich zu Tränen gerührt. Denn Toni-Peperoni hat schwere Vermissung – und Karen Köhler beschreibt diese so intensiv, nah und einfühlsam, dass die Leere, die Tonis Mutter hinterlassen hat, alleine beim Lesen schmerzt.

Nein, es gibt in diesem Buch nicht nur Trauriges. Es gibt auch beste Freundin YumYum, ein kosmisches Radio, Erlebnisperlen auf Lakritzschnecken, Snackgeheimhaltung, Sternschnuppensichtung und Grasfühlung.

Karen Köhler navigiert ihre Leserschaft mit charmanten Sprachwitz in einem Kapitel-Countdown von 10 bis 0 durch die gesamte Gefühlspalette. Wo mich die Autorin in „Wir haben Raketen geangelt“ mit ihrem flapsigen Schreibstil nicht ganz erreicht hat, fand ich hier jede ihrer Wortschöpfungen innovativ und bereichernd.

Allerdings: „Himmelwärts“ ist nicht Ponyhof. Nicht nur, dass der Tod ein wichtiges, aber auch sensibles Thema ist, das nicht jedes Kind gleich gut verkraftet, so ist auch die unkonventionelle, nicht leicht zugängliche Erzählweise ein Grund, warum ich dieses Buch erst ab dem Teeniealter empfehlen würde. – Dann aber wärmstens!

Hier entfaltet sich eine sehr tiefgründige Geschichte, die es schafft, schön, tröstlich, traurig und schön traurig zugleich zu sein. Ein unvergessliches Leseerlebnis!

Bewertung vom 25.01.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


gut

Valeries Mutter Christina erkrankt an Krebs, was die beiden Frauen wieder näher aneinanderbindet und offenbart, wie kompliziert das Verhältnis zwischen ihnen ist.
Debütautorin Felicitas Prokopetz untersucht diese schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, indem sie Valeries Großmütter in ihren Roman einbezieht: schon Christines Mutter Martha, von ihrer Mutter mit 14 Jahren zu Verwandten geschickt, konnte ihr nicht die erhoffte Liebe entgegenbringen.
Auch die Mutter von Valeries Vater Roman, die sich an den Wochenenden um ihre Enkelin gekümmert hat, hat auf ihre Weise mitgeprägt.

Übergangslos springen die Kapitel zwischen Figuren, Zeiten und Schauplätzen umher. Ich hätte mir statt einleitenden Sätzen à la: „Charlotte, die später einmal Romans Mutter und noch später Valeries Omi sein wird“ einen schematischen Stammbaum auf einer Umschlagsklappe gewünscht. Denn besonders zu Beginn ist die unzusammenhängende Vielzahl an Figuren sehr verwirrend und hemmt den Lesefluss.
Schön ist, wie sensibel und wertefrei Prokopetz mit ihnen umgeht, damit die generationenübergreifenden Automatismen nachvollziehbar werden. Sprachlich ist das Buch eher einfach gehalten, ohne trivial zu sein, auch das hat mir gefallen.
Trotzdem schaffen die 200 Seiten leider nicht viel mehr, als Schlaglichter auf diese Biographien zu werfen, worunter die emotionale Tiefe leidet.

„Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist zwar keine traurige, aber eine ernste Auseinandersetzung mit familiären Prägungen, Abhängigkeiten und dem Drang nach Selbstverwirklichung, der vor allem den Frauen so oft verwehrt bleibt. Obwohl es der Autorin gelingt, einige eindrückliche Bilder zu zaubern, feministische Anklänge ohne erhobenen Zeigefinger unterzubringen und die Verbindungen zwischen den einzelnen Lebensentwürfen herauszuarbeiten - was wohl auch ihr primäres Anliegen war - blieben mir die (überwiegend weiblichen) Protagonisten fremd und distanziert.
Mit seinem komplexen Aufbau eine fordernde, aber auch lohnenswerte Lektüre für alle, die sich vielleicht selber fragen, wie sich die eigene Familiengeschichte auf die Beziehung zur Mutter und / oder die Erziehung übertragen hat. Oder die sich für Familiensagas interessieren, ohne sich durch ein armdickes Buch kämpfen zu müssen.

Bewertung vom 28.12.2023
Wieso? Weshalb? Warum?, Band 26: Komm mit zum Schwimmen
Erne, Andrea

Wieso? Weshalb? Warum?, Band 26: Komm mit zum Schwimmen


ausgezeichnet

Immer weniger Kinder können sicher schwimmen - diese (leider nicht neue) Erkenntnis wurde von einer entsprechende Studie 2022 bekräftigt: „Die Zahl der Nichtschwimmer im Grundschulalter hat sich in den letzten fünf Jahren (auf 20 Prozent) verdoppelt.“ Damit erhöht sich logischerweise das Risiko von Unfällen drastisch.
Vor diesem Hintergrund wird das Anliegen dieses (von der DLRG empfohlene) Buches rasch klar: Kindern das Thema Schwimmen näherbringen, und zwar möglichst früh. Der Besuch eines Schwimmkurses wird im Alter von 5 bis 6 Jahren empfohlen und deckt sich somit ideal mit der Zielgruppe der „Wieso? Weshalb? Warum“-Reihe.
In diesem Band folgen wir Yunus und seiner Schwester zum Planschen am Badesee, zu einem Besuch im Schwimmbad, zum Schwimmkurs und dem Ablegen des Seepferdchens. Informationen über Wassersportarten und Baderegeln runden „Komm mit zum Schwimmen“ ab.
Das bewährte Konzept dieser Sachbuch-Reihe funktioniert: altersgerecht aufbereitete Informationen; Einbindung von kindlichen Erfahrungswelten; auf jeder Seite Klappen, welche die Neugier wecken und die jungen Leseratten zum Mitmachen anregen; ansprechende, bunt-naturalistische Illustrationen.
Die lockere und selbstverständliche Art der Erklärungen lassen keine Unsicherheiten oder Ängste entstehen. Vielmehr kommt rüber: Lerne schwimmen – es macht Spaß!
Meine Tochter ist begeistert, und ich natürlich auch!
Rundum: ein toller und dazu noch sehr wichtiger Band der beliebten Reihe und eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 31.08.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


sehr gut

Ein Buch mit einer äußerst aktuellen und relevanten Thematik:
Ich-Erzählerin Mila beschließt, ihre digitalen Spuren im Internet zu löschen, aus Angst davor, irgendwann gecancelt zu werden. „Niemand wusste, zu welchem Zeitpunkt verschiedene Daten und Infos von mir oder über mich zu einem Ball des öffentlichen Interesses zusammenschmelzen könnten und ich in einem digitalen Inferno gelyncht werden würde. Es war die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor dem Urteil der anderen.“ (S. 14)

Minutiös gibt Debütautorin Jenifer Becker Einblick in Milas sich veränderndes Leben mit all den Tücken, die ein solches Unterfangen mit sich bringt: Kontakte zu halten ohne Social Media wird schwierig bis unmöglich, aber die Verkomplizierung betrifft bald auch alltägliche Verrichtungen, für die man sich ins Internet einwählen muss.
Ihr Schreibstil ist sehr nüchtern, beinahe emotionslos und hat eher die Form eines ausschweifenden Berichts als eines Romanes im eigentlichen Sinne.
Der fehlende Spannungsbogen wird garantiert manche*n Leser*in abschrecken, doch nach meiner anfänglichen Befürchtung, dass die Lektüre selbst zu einer „Zeit der Langeweile“ werden würde, hat sich nicht bestätigt. Ja, es zieht sich, es ist ab und zu anstrengend, Mila in die engsten Winkel ihres Daseins zu begleiten – aber die weitere Entwicklung dieses Digital-Detox-Experiments hat mich trotzdem interessiert weiterlesen lassen.
Auch ist Mila selbst ist ein ziemlich opaker und melancholischer Charakter, ihre nächsten Schritte sind zwar von logischer Dynamik, aber aus rein menschlicher Sicht eben doch nicht immer nachvollziehbar.

Der depressive Grundton hat denn in meiner Bewertung auch den fünften Stern genommen; besonders erbaulich ist die Lektüre leider nicht.
Sehr empfehlenswert aber trotzdem.
Denn die intelligente Struktur und der informative Gehalt des Werkes haben mich überzeugt. Sogar das Ende, das anscheinend so offen und unklar daherkommt und mich im ersten Moment total enttäuscht hat, fand ich nach längerem Überlegen grenzgenial.
Auf jeden Fall ist „Zeiten der Langeweile“ keine heitere Unterhaltungsliteratur, sondern ein forderndes Werk, das es in sich hat. Aber dementsprechend auch Nachhall, viele Gedankenanstöße und ungeheures Diskussionspotenzial zum Umgang mit digitalen Medien erzeugt.

Bewertung vom 24.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


sehr gut

Ist dieser Roman autobiographisch angehaucht? Autofiktion? Welche Person verbirgt sich hinter diesem „Ich“, dem Doris Knecht in „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ eine Stimme verleiht?
Sie ist Mitte 50, geschieden, und ihre beiden Kinder Mila und Max flügge. Die Abnabelung steht bevor, die Wohnung wird dann für sie und ihren Hund zu groß sein, sie muss sich eine neue suchen, obwohl sie eigentlich nicht will.
Aber: „Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbstüberhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern in Fotoalben.“ (S. 88)
In vielen kurzen Kapiteln macht die Ich-Erzählerin eine Art Bestandsaufnahme ihres Lebens: über das, was sie empfindet, wenn sie alte Fotos betrachtet, wenn sie träumt oder wenn sie ihre nächsten Schritte plant, über das, was sie erinnert und was nicht. „Die Wirklichkeit, die Vergangenheit als solche, ist mir kaum noch präsent. Oder vielleicht ist sie es, aber ich kann es nicht garantieren. Wie lange reicht meine Erinnerungsfähigkeit tatsächlich zurück? An wie viel erinnere ich mich nur deshalb, weil es mir immer wieder erzählt wurde?“ (S. 35)
Es sind oft nur kleine Begebenheiten, die nicht chronologisch beschrieben werden und doch zusammen ein Ganzes ergeben. Es sind Streiflichter eines Lebens mit nur allzu bekannten Höhen und Tiefen. Dieses schnelle Springen von einem zum nächsten Gedanken, die Lücken, die dabei bleiben, die Alltagsprobleme, welche die Frau umtreiben: Das fühlt sich sehr authentisch und echt an.
Als größtes Hindernis, von dieser ehrlichen, lebensnahen Schreibe begeistert zu sein, stellt sich jedoch die Hauptprotagonistin selber heraus. Sie ist nur mäßig sympathisch, hadert mit sich, will es krampfhaft anders machen als die Anderen, auch wenn sie dabei unglücklich ist, dreht sich permanent um sich selber und ihr eigenes Wohlbefinden und vor allem stellt sie sich zu viele oberflächliche Fragen, die in ihrer Redundanz auf mich irgendwann nur noch langweilig wirkten.
Obwohl sich so manches gegen Schluss bessert, bleibt für mich so manches zu banal, zu vage und zu blass, manche Lücke hätte ich als Leserin gerne gefüllt gewusst.
So bleibt es für mich eine mittelmäßige Lektüre, die mit scharfen Beobachtungen und Lebensechtheit punktet, diesen Vorteil aber mit einer nervigen Hauptprotagonistin und fehlender Dynamik wieder zunichtemacht.

Bewertung vom 24.06.2023
Wieso? Weshalb? Warum?, Band 73: Komm mit zum Reiten
Erne, Andrea

Wieso? Weshalb? Warum?, Band 73: Komm mit zum Reiten


sehr gut

Meine 5jährige Tochter ist großer Fan der „Wieso? Weshalb? Warum?“-Bücher – es vergeht kein Bibliotheksbesuch, ohne dass mindestens ein Band mit nach Hause muss – und da sie Pferde liebt, war dieser Gewinn ein bisschen wie Weihnachten :)
Das Buch reiht sich unverkennbar in diese tolle Sachbuch-Reihe ein. Es ist hochwertig hergestellt, liebevoll illustriert, informativ und sorgt mit Klappelementen für Interaktion und Spaß.
Es unterscheidet sich von Band 21 „Alles um Pferde und Ponys“ und Band 59 „Wir entdecken Pferdesport“ darin, dass es die Kinder ganz praktisch auf den ersten Reitunterricht vorbereitet. Dabei steht das Kennenlernen und Pflegen des Ponys im Vordergrund: Erstes Beschnuppern auf der Weide, Anhalftern, Führen, Putzen, Satteln und Auftrensen. Erst dann geht es auf den Pferderücken. Das Reiten selbst nimmt nur einen relativ kleinen Teil des Buches ein. Diesen Aufbau und auch die Gewichtung finde ich sehr gelungen, denn es entspricht genau dem, was Kinder der Zielgruppe von ihren ersten Besuchen auf dem Ponyhof erwarten können.
Allerdings sind mir gerade die ersten Reiterfahrungen zu oberflächlich beschrieben. Eines der größten Vorurteile übers Reiten ist, dass „man da doch nur auf dem Pferd sitzt“. Leider wird dieser Einwand nur bedingt entkräftet. Die Hilfen werden zwar beschrieben, aber wie fordernd es wirklich ist, auf seine eigene Haltung zu achten und gleichzeitig ein Tier anzuleiten, ohne dessen Bedürfnisse zu übergehen, darauf wird in meinen Augen zu wenig eingegangen.
Vielleicht bin ich von anderen WWW-Bänden schon zu sehr verwöhnt, denn dieses Buch ist zwar gewohnt gut, aber ich hätte mir tatsächlich konkretere Anleitungen und tiefergreifende Infos erhofft. Auch die Klappeffekte wirken diesmal nicht sonderlich innovativ.
Als Schmankerl gibt es drei Reiter*innen aus Karton, mit denen verschiedene Hufschlagfiguren nachgezogen werden können. Für 4-5jährige ist diese Übung noch zu hoch gegriffen, außerdem gibt es sie schon in Band 59.

Fazit: Prinzipiell ein schönes Buch für pferdebegeisterte Mädchen und Jungs, die dem ersten Reitunterricht entgegenfiebern, kindgerecht und motivierend ausgestattet. Allerdings hat uns diesmal das gewisse Etwas gefehlt, das es von anderen Büchern dieses Themas abhebt.

Bewertung vom 29.05.2023
Leonard und Paul
Hession, Rónán

Leonard und Paul


ausgezeichnet

Es wird empfohlen, dieses Buch zu beachten

Wo sich ein Großteil der zeitgenössischen Literatur mit Identitätskrise, Migration und Rassismus, Macht und Missbrauch, Traumata und Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, umschifft dieses Buch solche Themen weitestmöglich und konzentriert sich auf ein wenig beschriebenes Phänomen:
Gutmenschen.
Menschen mit Herz.
Menschen wie Paul: „Wie du weißt, halte ich es mit Hippokrates: Ich möchte niemandem Schaden zufügen. Mir ist es lieber, mich im Hintergrund zu halten. So ähnlich wie bei der Verkehrserziehung: Ich warte erst mal, schau gut hin und höre zu, bevor ich loslege. Das hat bis jetzt immer gut funktioniert und mir einen friedlichen Umgang mit meinen Mitmenschen beschert. Es ist auf jeden Fall besser, als auf der Welt Spuren zu hinterlassen, die sie am Ende nur verunstalten.“ (S. 30)
Tönt langweilig? Ist es auch.
Fast.
Hessions augenzwinkerndem, liebevoll beobachtenden und philosophisch angehauchten Schreibstil ist es zu verdanken, dass die Geschichte um Paul und seinem besten Kumpel Leonard zu einem sympathischen Lesevergnügen wird, obwohl sie nicht mit Hochspannung und komplexem Plot punkten kann.
Man könnte ihm anderes vorwerfen: eine arg idealisierte Familie zum Beispiel, eine sich zu oberflächlich entwickelnde Liebesgeschichte, einige unwichtige Details.
Doch trotz dieser Kritikpunkte kann man sich dem Charme seiner leicht skurillen Hauptfiguren nicht entziehen. Man ist einfach gerne bei ihnen. Hört ihnen zu, wenn sie sich während des Yahtzee-Spiels über das schrumpfende Universum unterhalten. Ist froh, keine Hochzeit planen zu müssen. Sieht zu, wie Leonards Römer sich in seinem Kopf selbständig machen. Leidet mit, wenn nicht alles läuft, wie die Protagonisten es sich erhofft haben und freut sich mit ihnen über ihre Entwicklungen.
Leonard und Paul.
Gutmenschen.
Menschen mit Herz.
Umgeben von herzlichen Freunden und Familien, die Geborgenheit schenken.
Fast hätte man vergessen, dass es sowas noch gibt.
Hession erinnert uns daran, dass auch solch unspektakuläre Leben es Wert sind, einen Roman darüber zu schreiben. Dass solche leisen und unspektakulären Menschen vielleicht keinen Trubel auslösen und keine breiten Schneisen schlagen, dafür aber Oasen der Ruhe und Zufriedenheit schaffen.
„Leonard und Paul“ ist kein perfektes Buch, aber ein alltagsrelevantes, menschliches Buch.
Deshalb wird wärmstens empfohlen, dieses Buch zu beachten.
Und die (Rück-)Besinnung auf so simple Werte wie Freundschaft, Bescheidenheit, Zusammenhalt und das Glück in den kleinen Dingen: Sie sind mir 5 Sterne wert.

Bewertung vom 27.04.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


gut

Normalerweise legt ein Schriftsteller sein ganzes Können in den ersten Satz eines Romans. Ein Satz, der umhaut, der mitreißt – der wichtigste Satz von allen, der beste. Doch ausgerechnet in dem Roman „Lichte Tage“ ist der erste Satz der schlechteste. Warum hier von Carol die Rede ist, das erschließt sich einem einfach nicht. Oder ist es gar ein Fehler seitens des (deutschen) Verlags?
Leider bleibt diese Verwirrung nicht die einzige auf den folgenden Seiten. Personen tauchen auf, ohne eingeführt zu werden. Pronomen ohne eindeutige Zuordnung und ein paar zeitliche Abläufe sorgen für Stirnrunzeln.
Nach den ersten ca. 50 Seiten wird es besser. Endlich ist klar, dass Ellis mit dem Tod seiner Frau hadert und wieder ins Leben zurückfinden soll. Ein Geheimnis umwittert sein Leben, das natürlich erst gegen Ende des Buches gelüftet wird. Man weiß nur: es geht um eine Dreiecksgeschichte.
Langsam decken sich die Hintergründe von Ellis Leben auf, die authentisch und einfühlsam geschildert werden. Auch die Atmosphären der jeweiligen Epochen (vor allem die der 90er Jahre) sind stimmig eingefangen.
Die große Stärke dieses Buches: Ernste, tragische Themen finden Einzug, werden jedoch mit einer bewundernswerten Leichtigkeit erzählt, ohne zu beschönigen.
Alles in allem ein Buch, das eine ähnliche Wärme ausstrahlt wie die Sonnenblumen auf dem Cover, die auch im Roman eine wichtige Rolle spielen, mir jedoch auf weite Strecken zu ungenau (warum erfahren wir nicht mehr über Annie?), zu oberflächlich und unnötig verwirrend erzählt ist.

Bewertung vom 26.04.2023
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


gut

Leider ist der Klappentext dieses Buches eher irreführend. Eine „Liebesgeschichte“ wird angepriesen, in der ein junger Rastafari sein Zuhause verlässt, um seinen Vater zu finden. Und auf Yejide zu treffen. All dies stimmt nur zum Teil.
Der Rastafari Emmanuel Darwin verlässt zwar sein Zuhause, aber weil er dringend Arbeit braucht. Dass er ohne Vater aufgewachsen ist, wird eher beiläufig erwähnt.
Auch Yejide ist ohne ihren Vater groß geworden – und das ist schon fast die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Hauptcharakteren, die zwar nicht weit weg voneinander, aber dennoch in ganz verschiedenen Welten leben. In Welten, in denen die jeweiligen Traditionen (und Gelübde) eine wichtige Rolle spielen und die doch völlig andere Ausprägungen haben. Welten, die Geheimnisse und faszinierende Eigenheiten bewahren, welche Autorin Ayanna Lloyd Banwo sinnlich und charmant zu erzählen weiß und auf diese Weise eine exotische Faszination ausüben. Trinidads Bevölkerung trägt einen reichen Schatz an verschiedensten Kulturen in sich und es bietet sich an, dieses Thema einer breiten internationalen Leserschaft bekannt zu machen.
So ist denn die Grundkonstellation dieses Romans durchaus verheißungsvoll.
Die beiden Hauptprotagonisten sind vielschichtig und nahbar gezeichnet, besonders Darwin, den man einfach nur mögen kann. Durch die richtige Dosis an Weglassungen und Andeutungen baut sich eine gewisse Spannung auf, was die Vergangenheit und die Entwicklung der Charaktere angeht.
Doch nach dem vielversprechenden Einstieg driftet die Handlung in ziemlich abstruses Gewässer. Denn mit dem Tod ihrer Mutter Petronella wird Yejide Erbin einer ganz besonderen Gabe. Und dieses „besonders“ ist wirklich besonders. Autorin Banwo greift hier ganz tief in die Mystik-Schublade und zieht eine schwer nachvollziehbare Ebene heraus, eine Zwischenwelt zwischen den Toten, dem Friedhof und den Lebenden. Und obwohl sie Yejides Umherirren zwischen Realität und Vision wortgewaltig auszudrücken weiß, wirkt so manche Szene leider zu billig. So baut denn zum Beispiel die sogenannte Liebesgeschichte auf eine ganz platte „Ich habe dich im Traum gesehen und deshalb sind wir füreinander bestimmt“-Taktik. Gähn. Schade um die Charaktere, die so viel mehr zu geben gehabt hätten.
Außerdem wirken diese mystischen Elemente irgendwie kraftlos, weil sie von zu wenig greifbarem Inhalt hinterfüttert sind. Ein Hauch Fantasy hätte mit dem entsprechenden Worldbuilding funktionieren können, das Einbeziehen indigener Bräuche mit historischen Hintergründen, doch beides findet nicht statt. Banwo weiß die höchst interessanten kulturelle Mischung Trinidads leider nur als – zugegebenermaßen farbenprächtige – Kulisse einzusetzen, ohne jedoch den tieferliegenden ethnologischen Zusammenhängen nachzugehen. Damit verschenkt sie in meinen Augen großes Potential.
Viele der im Buch gestellten Fragen lösen sich nach einem aufgepeitschten Showdown mehr oder weniger in Wohlgefallen auf.
Und ich klappe das Buch zu mit dem Gefühl, nicht wirklich was aus diesem Roman mitnehmen zu können, aber immerhin von üppigen, originellen (Sprach-)Bildern und netten Figuren unterhalten worden zu sein.