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Benutzername: 
angie99
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dawo

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Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


sehr gut

Ist dieser Roman autobiographisch angehaucht? Autofiktion? Welche Person verbirgt sich hinter diesem „Ich“, dem Doris Knecht in „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ eine Stimme verleiht?
Sie ist Mitte 50, geschieden, und ihre beiden Kinder Mila und Max flügge. Die Abnabelung steht bevor, die Wohnung wird dann für sie und ihren Hund zu groß sein, sie muss sich eine neue suchen, obwohl sie eigentlich nicht will.
Aber: „Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbstüberhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern in Fotoalben.“ (S. 88)
In vielen kurzen Kapiteln macht die Ich-Erzählerin eine Art Bestandsaufnahme ihres Lebens: über das, was sie empfindet, wenn sie alte Fotos betrachtet, wenn sie träumt oder wenn sie ihre nächsten Schritte plant, über das, was sie erinnert und was nicht. „Die Wirklichkeit, die Vergangenheit als solche, ist mir kaum noch präsent. Oder vielleicht ist sie es, aber ich kann es nicht garantieren. Wie lange reicht meine Erinnerungsfähigkeit tatsächlich zurück? An wie viel erinnere ich mich nur deshalb, weil es mir immer wieder erzählt wurde?“ (S. 35)
Es sind oft nur kleine Begebenheiten, die nicht chronologisch beschrieben werden und doch zusammen ein Ganzes ergeben. Es sind Streiflichter eines Lebens mit nur allzu bekannten Höhen und Tiefen. Dieses schnelle Springen von einem zum nächsten Gedanken, die Lücken, die dabei bleiben, die Alltagsprobleme, welche die Frau umtreiben: Das fühlt sich sehr authentisch und echt an.
Als größtes Hindernis, von dieser ehrlichen, lebensnahen Schreibe begeistert zu sein, stellt sich jedoch die Hauptprotagonistin selber heraus. Sie ist nur mäßig sympathisch, hadert mit sich, will es krampfhaft anders machen als die Anderen, auch wenn sie dabei unglücklich ist, dreht sich permanent um sich selber und ihr eigenes Wohlbefinden und vor allem stellt sie sich zu viele oberflächliche Fragen, die in ihrer Redundanz auf mich irgendwann nur noch langweilig wirkten.
Obwohl sich so manches gegen Schluss bessert, bleibt für mich so manches zu banal, zu vage und zu blass, manche Lücke hätte ich als Leserin gerne gefüllt gewusst.
So bleibt es für mich eine mittelmäßige Lektüre, die mit scharfen Beobachtungen und Lebensechtheit punktet, diesen Vorteil aber mit einer nervigen Hauptprotagonistin und fehlender Dynamik wieder zunichtemacht.

Bewertung vom 24.06.2023
Wieso? Weshalb? Warum?, Band 73: Komm mit zum Reiten
Erne, Andrea

Wieso? Weshalb? Warum?, Band 73: Komm mit zum Reiten


sehr gut

Meine 5jährige Tochter ist großer Fan der „Wieso? Weshalb? Warum?“-Bücher – es vergeht kein Bibliotheksbesuch, ohne dass mindestens ein Band mit nach Hause muss – und da sie Pferde liebt, war dieser Gewinn ein bisschen wie Weihnachten :)
Das Buch reiht sich unverkennbar in diese tolle Sachbuch-Reihe ein. Es ist hochwertig hergestellt, liebevoll illustriert, informativ und sorgt mit Klappelementen für Interaktion und Spaß.
Es unterscheidet sich von Band 21 „Alles um Pferde und Ponys“ und Band 59 „Wir entdecken Pferdesport“ darin, dass es die Kinder ganz praktisch auf den ersten Reitunterricht vorbereitet. Dabei steht das Kennenlernen und Pflegen des Ponys im Vordergrund: Erstes Beschnuppern auf der Weide, Anhalftern, Führen, Putzen, Satteln und Auftrensen. Erst dann geht es auf den Pferderücken. Das Reiten selbst nimmt nur einen relativ kleinen Teil des Buches ein. Diesen Aufbau und auch die Gewichtung finde ich sehr gelungen, denn es entspricht genau dem, was Kinder der Zielgruppe von ihren ersten Besuchen auf dem Ponyhof erwarten können.
Allerdings sind mir gerade die ersten Reiterfahrungen zu oberflächlich beschrieben. Eines der größten Vorurteile übers Reiten ist, dass „man da doch nur auf dem Pferd sitzt“. Leider wird dieser Einwand nur bedingt entkräftet. Die Hilfen werden zwar beschrieben, aber wie fordernd es wirklich ist, auf seine eigene Haltung zu achten und gleichzeitig ein Tier anzuleiten, ohne dessen Bedürfnisse zu übergehen, darauf wird in meinen Augen zu wenig eingegangen.
Vielleicht bin ich von anderen WWW-Bänden schon zu sehr verwöhnt, denn dieses Buch ist zwar gewohnt gut, aber ich hätte mir tatsächlich konkretere Anleitungen und tiefergreifende Infos erhofft. Auch die Klappeffekte wirken diesmal nicht sonderlich innovativ.
Als Schmankerl gibt es drei Reiter*innen aus Karton, mit denen verschiedene Hufschlagfiguren nachgezogen werden können. Für 4-5jährige ist diese Übung noch zu hoch gegriffen, außerdem gibt es sie schon in Band 59.

Fazit: Prinzipiell ein schönes Buch für pferdebegeisterte Mädchen und Jungs, die dem ersten Reitunterricht entgegenfiebern, kindgerecht und motivierend ausgestattet. Allerdings hat uns diesmal das gewisse Etwas gefehlt, das es von anderen Büchern dieses Themas abhebt.

Bewertung vom 29.05.2023
Leonard und Paul
Hession, Rónán

Leonard und Paul


ausgezeichnet

Es wird empfohlen, dieses Buch zu beachten

Wo sich ein Großteil der zeitgenössischen Literatur mit Identitätskrise, Migration und Rassismus, Macht und Missbrauch, Traumata und Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, umschifft dieses Buch solche Themen weitestmöglich und konzentriert sich auf ein wenig beschriebenes Phänomen:
Gutmenschen.
Menschen mit Herz.
Menschen wie Paul: „Wie du weißt, halte ich es mit Hippokrates: Ich möchte niemandem Schaden zufügen. Mir ist es lieber, mich im Hintergrund zu halten. So ähnlich wie bei der Verkehrserziehung: Ich warte erst mal, schau gut hin und höre zu, bevor ich loslege. Das hat bis jetzt immer gut funktioniert und mir einen friedlichen Umgang mit meinen Mitmenschen beschert. Es ist auf jeden Fall besser, als auf der Welt Spuren zu hinterlassen, die sie am Ende nur verunstalten.“ (S. 30)
Tönt langweilig? Ist es auch.
Fast.
Hessions augenzwinkerndem, liebevoll beobachtenden und philosophisch angehauchten Schreibstil ist es zu verdanken, dass die Geschichte um Paul und seinem besten Kumpel Leonard zu einem sympathischen Lesevergnügen wird, obwohl sie nicht mit Hochspannung und komplexem Plot punkten kann.
Man könnte ihm anderes vorwerfen: eine arg idealisierte Familie zum Beispiel, eine sich zu oberflächlich entwickelnde Liebesgeschichte, einige unwichtige Details.
Doch trotz dieser Kritikpunkte kann man sich dem Charme seiner leicht skurillen Hauptfiguren nicht entziehen. Man ist einfach gerne bei ihnen. Hört ihnen zu, wenn sie sich während des Yahtzee-Spiels über das schrumpfende Universum unterhalten. Ist froh, keine Hochzeit planen zu müssen. Sieht zu, wie Leonards Römer sich in seinem Kopf selbständig machen. Leidet mit, wenn nicht alles läuft, wie die Protagonisten es sich erhofft haben und freut sich mit ihnen über ihre Entwicklungen.
Leonard und Paul.
Gutmenschen.
Menschen mit Herz.
Umgeben von herzlichen Freunden und Familien, die Geborgenheit schenken.
Fast hätte man vergessen, dass es sowas noch gibt.
Hession erinnert uns daran, dass auch solch unspektakuläre Leben es Wert sind, einen Roman darüber zu schreiben. Dass solche leisen und unspektakulären Menschen vielleicht keinen Trubel auslösen und keine breiten Schneisen schlagen, dafür aber Oasen der Ruhe und Zufriedenheit schaffen.
„Leonard und Paul“ ist kein perfektes Buch, aber ein alltagsrelevantes, menschliches Buch.
Deshalb wird wärmstens empfohlen, dieses Buch zu beachten.
Und die (Rück-)Besinnung auf so simple Werte wie Freundschaft, Bescheidenheit, Zusammenhalt und das Glück in den kleinen Dingen: Sie sind mir 5 Sterne wert.

Bewertung vom 27.04.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


gut

Normalerweise legt ein Schriftsteller sein ganzes Können in den ersten Satz eines Romans. Ein Satz, der umhaut, der mitreißt – der wichtigste Satz von allen, der beste. Doch ausgerechnet in dem Roman „Lichte Tage“ ist der erste Satz der schlechteste. Warum hier von Carol die Rede ist, das erschließt sich einem einfach nicht. Oder ist es gar ein Fehler seitens des (deutschen) Verlags?
Leider bleibt diese Verwirrung nicht die einzige auf den folgenden Seiten. Personen tauchen auf, ohne eingeführt zu werden. Pronomen ohne eindeutige Zuordnung und ein paar zeitliche Abläufe sorgen für Stirnrunzeln.
Nach den ersten ca. 50 Seiten wird es besser. Endlich ist klar, dass Ellis mit dem Tod seiner Frau hadert und wieder ins Leben zurückfinden soll. Ein Geheimnis umwittert sein Leben, das natürlich erst gegen Ende des Buches gelüftet wird. Man weiß nur: es geht um eine Dreiecksgeschichte.
Langsam decken sich die Hintergründe von Ellis Leben auf, die authentisch und einfühlsam geschildert werden. Auch die Atmosphären der jeweiligen Epochen (vor allem die der 90er Jahre) sind stimmig eingefangen.
Die große Stärke dieses Buches: Ernste, tragische Themen finden Einzug, werden jedoch mit einer bewundernswerten Leichtigkeit erzählt, ohne zu beschönigen.
Alles in allem ein Buch, das eine ähnliche Wärme ausstrahlt wie die Sonnenblumen auf dem Cover, die auch im Roman eine wichtige Rolle spielen, mir jedoch auf weite Strecken zu ungenau (warum erfahren wir nicht mehr über Annie?), zu oberflächlich und unnötig verwirrend erzählt ist.

Bewertung vom 26.04.2023
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


gut

Leider ist der Klappentext dieses Buches eher irreführend. Eine „Liebesgeschichte“ wird angepriesen, in der ein junger Rastafari sein Zuhause verlässt, um seinen Vater zu finden. Und auf Yejide zu treffen. All dies stimmt nur zum Teil.
Der Rastafari Emmanuel Darwin verlässt zwar sein Zuhause, aber weil er dringend Arbeit braucht. Dass er ohne Vater aufgewachsen ist, wird eher beiläufig erwähnt.
Auch Yejide ist ohne ihren Vater groß geworden – und das ist schon fast die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Hauptcharakteren, die zwar nicht weit weg voneinander, aber dennoch in ganz verschiedenen Welten leben. In Welten, in denen die jeweiligen Traditionen (und Gelübde) eine wichtige Rolle spielen und die doch völlig andere Ausprägungen haben. Welten, die Geheimnisse und faszinierende Eigenheiten bewahren, welche Autorin Ayanna Lloyd Banwo sinnlich und charmant zu erzählen weiß und auf diese Weise eine exotische Faszination ausüben. Trinidads Bevölkerung trägt einen reichen Schatz an verschiedensten Kulturen in sich und es bietet sich an, dieses Thema einer breiten internationalen Leserschaft bekannt zu machen.
So ist denn die Grundkonstellation dieses Romans durchaus verheißungsvoll.
Die beiden Hauptprotagonisten sind vielschichtig und nahbar gezeichnet, besonders Darwin, den man einfach nur mögen kann. Durch die richtige Dosis an Weglassungen und Andeutungen baut sich eine gewisse Spannung auf, was die Vergangenheit und die Entwicklung der Charaktere angeht.
Doch nach dem vielversprechenden Einstieg driftet die Handlung in ziemlich abstruses Gewässer. Denn mit dem Tod ihrer Mutter Petronella wird Yejide Erbin einer ganz besonderen Gabe. Und dieses „besonders“ ist wirklich besonders. Autorin Banwo greift hier ganz tief in die Mystik-Schublade und zieht eine schwer nachvollziehbare Ebene heraus, eine Zwischenwelt zwischen den Toten, dem Friedhof und den Lebenden. Und obwohl sie Yejides Umherirren zwischen Realität und Vision wortgewaltig auszudrücken weiß, wirkt so manche Szene leider zu billig. So baut denn zum Beispiel die sogenannte Liebesgeschichte auf eine ganz platte „Ich habe dich im Traum gesehen und deshalb sind wir füreinander bestimmt“-Taktik. Gähn. Schade um die Charaktere, die so viel mehr zu geben gehabt hätten.
Außerdem wirken diese mystischen Elemente irgendwie kraftlos, weil sie von zu wenig greifbarem Inhalt hinterfüttert sind. Ein Hauch Fantasy hätte mit dem entsprechenden Worldbuilding funktionieren können, das Einbeziehen indigener Bräuche mit historischen Hintergründen, doch beides findet nicht statt. Banwo weiß die höchst interessanten kulturelle Mischung Trinidads leider nur als – zugegebenermaßen farbenprächtige – Kulisse einzusetzen, ohne jedoch den tieferliegenden ethnologischen Zusammenhängen nachzugehen. Damit verschenkt sie in meinen Augen großes Potential.
Viele der im Buch gestellten Fragen lösen sich nach einem aufgepeitschten Showdown mehr oder weniger in Wohlgefallen auf.
Und ich klappe das Buch zu mit dem Gefühl, nicht wirklich was aus diesem Roman mitnehmen zu können, aber immerhin von üppigen, originellen (Sprach-)Bildern und netten Figuren unterhalten worden zu sein.

Bewertung vom 13.03.2023
Dalee
Gastmann, Dennis

Dalee


sehr gut

Wäre ich eine berühmte Filmregisseurin, hätte ich mich nach spätestens 200 Seiten „Dalee“ hinters Telefon geklemmt, um mir die Filmrechte zu sichern! Denn Dennis Gastmann erzählt hier eine mitreißende Geschichte in so bildhaften Szenen, als würden sie nur darauf warten, auf die Leinwand gebracht zu werden: abenteuerliche Szenen einer Schiffsfahrt über das weite Meer und der Besiedlung eines menschenleeren Archipels, anrührende Szenen von der Freundschaft zwischen Elefanten und ihren Mahuts, exotische Szenen eines quirligen Basars samt Elefantenrennen, märchenhafte, absurde, gefährliche, schmerzvolle und idyllische Szenen… Sie alle mit dicken, saftigen Pinselstrichen gemalt vor opulent ausgestatteten Kulissen oder einfach nur atemberaubend schöner Naturgewalt, üppig an Farben, Formen, Eindrücken, Gerüchen und Kontrasten.
(Das Einzige, was fehlt, ist: Sex & Crime. Und siehe da: niemand vermisst es!)
Dieses Buch ist ein Fest für die Vorstellungskraft, die einen über den Indischen Ozean auf die andanamischen Inseln bringt. „Die dritte Insel, die vorüberzog, glich einer Meeresschildkröte, deren Panzer mit Kokospalmen bewachsen war Als würde sie gleich den Kopf aus der Strömung heben und sich schwimmend von dem Dampfer entfernen, der die Andamanensee auf seiner Reise durchquerte. Es schien so viele Inseln zu geben, dass wir an jedem Tag im Jahr eine neue erkunden könnten, ohne dasselbe Land zweimal zu betreten.“ (S. 128)
Hin und wieder wird diese Vorstellungskraft jedoch überstrapaziert, denn viele Dinge oder Vorkommnisse umschreibt der Autor, ohne den Kern der Sache offen auszusprechen. So vermeidet er gekonnt Plattitüden, bleibt jedoch manches Mal auch zu vage.
Die Figuren – allen voran der Hauptprotagonist, der 11jährige Bellini – bleiben mir distanziert, als würden sie nur von weitem auf dem Bildschirm flimmern.
Sprachlich sitzt Dennis Gastmann ganz souverän auf dem Genick seines Buch-Elefanten: auf beeindruckende Weise verbindet er die fiktive Geschichte mit realen Begebenheiten und detaillierten Kenntnissen über die größten Landtiere und ihre menschlichen Begleiter. Auch Geschichte, Kultur und Religionen Indiens werden gekonnt im Text verwoben. „Die Holzfäller saßen auf dem Waldboden, rings um den Stamm eines Pipals, der fünfzig Fuß hoch in den Himmel ragte. Sie hatten den heiligen Feigenbaum in den Stunden der Dämmerung freigeschlagen, und nun stand er da ohne Büsche und Sträucher wie ein König ohne Untertanen, während die Männer ihn lobpreisten. Asche auf der Stirn, die Hände vor der Brust gefaltet, die Augen fest verschlossen. (…) ‚Wer in Indien einen Baum fällt, Sir, der begeht eine Sünde namens Suna. Darum bitten wir Aranyani, die Göttin des Waldes, um Vergebung.‘“ (S. 234)
Allen, die sich für Elefanten interessieren und / oder erlebnisreiche, warmherzige Geschichten vor exotischen Kulissen mögen, kann ich dieses Buch wärmstens ans Herz legen.
„‘Es heißt doch, ein Elefant vergisst nie. Das sagt man doch so, oder nicht?‘ ‚Märchen, Junge. Märchen von Menschen, die nicht wissen, wovon sie sprechen. Die Leute schauen nur, aber sie sehen nicht. Ein Elefant ist ein denkendes Wesen. Und wer denken kann, der vergisst auch…“ (S. 306)
Derweil warte ich ungeduldig, bis „Dalee“ (von jemand anderem) verfilmt wird!

Bewertung vom 11.03.2023
Finni Fantastisch
Rose, Jess

Finni Fantastisch


ausgezeichnet

Finni fällt auf. Das Fuchskind trägt am liebsten Hüte, Umhänge, verrückte Schuhe, gerne regenbogenbunt und glitzerig. Mit seinem außergewöhnlichen Mode-Geschmack stößt Finni jedoch auch auf Ablehnung. Wer läuft denn schon >SO< herum?
Dieses Buch spricht direkt in die Lebenswelt von Kindergartenkindern hinein. Wer von ihnen hat es noch nicht erlebt, dass es von Anderen ausgelacht worden ist für etwas, das es mag?
Da es außerdem der Fantasie der Leser*innen überlassen bleibt, ob Finni ein Mädchen oder ein Junge ist, dürften sich so ziemlich alle mit dem fröhlich-frechen Fuchskind identifizieren dürfen.
Finni erlebt unterschiedliche Reaktionen auf seine Art, sich zu kleiden, das wird in diesem Buch differenziert aufgearbeitet und darf bei Kindern für Gesprächsstoff sorgen. Meine Tochter, die selbst ein bisschen was von Finni hat, fand die Einwände sehr merkwürdig und konnte sich nicht vorstellen, wieso jemand etwas gegen Superheldencapes und Glitzer haben könnte…?! 😉
Die Message dieser Geschichte wird gestalterisch unterstützt, in dem die Bilder in bunte (da, wo Finni finnibunt sein darf) und graue (da, wo das Angepasstsein herrscht) Bereiche eingeteilt sind. Dieser Kunst-Griff ist sehr aussagekräftig. Tatsächlich kommt das Buch mit sehr wenig Text aus und ist trotzdem für alle verständlich.
Ein gibt ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht 100% gelungen finde, z.B. den unruhigen Zeichenstil und dass die Auflösung des Problems etwas arg einfach geraten ist. Für die Zielgruppe ist es jedoch okay und in der Gesamtheit überwiegt definitiv das Positive: ein mutmachendes, schönes Buch, das ein wichtiges Thema aufgreift und wertvolle Impulse liefert. Besonders zur gemeinsamen Bearbeitung in Kindergartengruppen empfehlenswert!
Der Preis des Buches ist leider ziemlich happig. Mit seinem Kauf tut man jedoch Gutes: Ein Teil des Erlöses geht an soziale Projekte und Tiere eines Begegnungs- und Gnadenhofs (Stiftung Sentana). Außerdem wird das Buch nachhaltig und fair produziert.

Bewertung vom 16.01.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Das Jahr ist noch jung – und hat mir trotzdem schon mein (erstes) literarisches Highlight eingebracht! Das Buch heißt - relativ nichtssagend und doch treffend - "Der Inselmann" und handelt, grob umschrieben, von einer Familie, die auf eine Binneninsel zieht. Eine ausführlichere Inhaltsangabe ist nicht nötig und ich würde sogar empfehlen, einen großen Bogen um eine solche zu machen, damit die Lektüre umso spannender bleibt. Denn obwohl die Ereignisse stets überschaubar bleiben, bieten sie doch einige Wendungen, die umso eindrücklicher ihre Wirkung entfalten, je unvoreingenommener man sich diesem großartigen Roman hingibt.
"Der Inselmann" hat mich schon ab der ersten Seite mit seiner atmosphärischen, dichten Sprache gefesselt. Dass die düstere Grundstimmung nicht aufs Gemüt schlägt, ist einer faszinierenden Leichtigkeit in den Beschreibungen von Naturbeobachtungen und Lebensweisheiten zu verdanken. „Bei seiner Rückkehr hatte die Mutter geschimpft: Wie kann das angehen, hast du schon wieder die Zeit vergessen? Doch es war umgekehrt gewesen: Die Zeit hatte den Jungen vergessen.“ (S. 13) Ich habe manchmal ehrfürchtig den Atem angehalten, weil mich die Wörter so angesprochen, so hineingesogen, so berührt haben.
„Auch diese Geschichte breitet sich aus in konzentrischen Kreisen, im Verschwinden begriffen, in ihrer Mitte ein versunkener Stein. Ist sie traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?“ (S. 23)
Ja, diese Geschichte ist definitiv beides.
Sie ist traurig. Die Schicksale der Protagonisten sind berührend, ohne in Rührseligkeiten abzudriften. Besonders wenn es um die Eltern geht, beide auf ihre Weise sprachlos geworden, schwingen auf jeder Zeile verdrängte Traumata mit, ohne dass diese je benannt werden. Der Autor geht mit seinen Figuren sehr sensibel und liebevoll um, er verzichtet auf Schwarz-Weiß-Zeichnungen oder auf Schuldzuweisungen und zeichnet daher nahbare, vielschichte Persönlichkeitsbilder.
Sie ist schön in ihrer beeindruckenden Sprachvirtuosität.
Der Aufbau des Romans hat mich an ein Orchesterwerk erinnert. Den fünf Teilen liegen verschiedene Tempi zugrunde, wobei mir der erste – sehr langsam und intensiv erzählte – am besten gefallen hat. Die Hauptmelodie taucht immer wieder auf, wird abgewandelt, neu interpretiert. Ganze Aussagen erfahren Wiederholungen, neue Themen tauchen wie aus dem Nichts aus und fügen sich doch nahtlos in die Gesamtkomposition ein.
Das Erstaunliche ist, dass die Stille einen großen Raum in diesem musikalisch wirkenden Roman einnimmt. „Die Stille war ein Lied, das lange schon verklungen war.“ (S. 10) „War er seinen Eltern ähnlich? Klang sein Schweigen so wie ihres?“ (S. 153)
Sie ist beides und noch viel mehr.
Eine große Empfehlung für Literaturbegeisterte, die gerne den leisen Dingen nachspüren und den unausgesprochenen Wahrheiten ihr Ohr schenken möchten.

Bewertung vom 16.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


gut

Frank ist vierzehn – das heißt, „noch nicht ganz. Wegen dem knappen Monat, der fehlt, glaube ich, kann ich doch sagen, ich bin vierzehn“ (S. 9) – und wohnt mit seiner Mutter in Wien. Das Leben hat sie zusammengeschweißt, sie sind ein eingespieltes Team.
Doch nun wird Franks Opa aus dem Gefängnis entlassen. Nach 18 Jahren. „Er streckte die Beine von sich und lehnte sich zurück. Er genießt jetzt die Freiheit, dachte ich und überlegte, ob ich nun fragen sollte, warum er so lang im Gefängnis gewesen war. Irgendwann würde ich ihn fragen, warum also nicht gleich. Da sagte er: ‚Und frag mich nicht, warum ich gesessen habe.‘ ‚Tu ich eh nicht‘, sage ich. ‚Und gleich auch nicht, wie es dort war.‘ ‚Tu ich eh nicht‘, sagte ich. ‚Und was fragst du sonst noch?‘ ‚Gar nichts.‘ ‚Kannst du Schach?‘ ‚Eher nicht.‘ ‚Man kann es oder man kann es nicht. Eher nicht kann man es nicht. Also was!‘ ‚Nicht‘, sagte ich.“ (S. 13)
Wie wird sich diese Großvater-Enkel-Beziehung entwickeln? Werden sich die Beiden annähern, obwohl sie sich so völlig fremd sind? Kann Opa die fehlende Vaterfigur ersetzen? Diese Fragestellung trägt den Roman, der chronologisch von Frank in der 1. Person erzählt wird.
Doch er wirft selbstverständlich noch weitere Fragen auf. Fragen zu Strafvollzug und Wiedereingliederung etwa. Zu Schuld. Zu Geständnissen: „Hast du jemals etwas getan, weil du einen Grund dafür gehabt hast? Nicht nur etwas Schlechtes, auch etwas Gutes. War es nicht immer so, wenn du genau nachdenkst, dass du etwas getan hast, und hinterher hast du dir ausgedacht, warum du es getan hast?“ (S. 86)
Köhlmeiers Text glänzt mit solchen Hintergründigkeiten sowie mit Wortwitz, gegen den Strich gebürsteten Dialogen und einer eigensinnigen Erzählweise, die irgendwo zwischen naiv und altklug daherkommt. Aus sprachlicher Sicht war es mir ein Vergnügen, dieses Buch zu lesen.
Inhaltlich hinterlässt dieser Roman jedoch einige Fragezeichen. Schon das Cover – so ansprechend es auch aussieht – beschreibt eine Szenerie, die im Buch so nicht auftaucht und die Erwartungen in eine falsche Richtung lenkt. Unvorhersehbar ist die Story zwar und damit auch relativ spannend – aber leider in ihrer Entwicklung nicht gänzlich nachvollziehbar. Stattdessen driftet sie je länger desto mehr ins Abstruse ab.
So wirkt das Ende leider verwirrend und unfertig, und das, obwohl die letzte Szene eigentlich Potenzial gehabt hätte, einen bleibenden, aufwühlenden Eindruck zu hinterlassen.
Was mich jedoch an „Frankie“ absolut gestört hat, ist Frankie selbst. Dass seine Denk- und Ausdrucksweise eher angestaubt daherkommt und nicht zu einem 14jährigen passen, hätte ich dem Autor noch verzeihen können, weil sie trotz dieses Mankos einfach Spaß machen. Doch seine Lebensgestaltung ist so was von neben der Zeit gezeichnet, dass es ins Lächerliche kippt. Handys sind vorhanden, Frank jedoch bedient Fernseher und Radio. Ok, es gab ja noch eine Zeit vor den Smartphones. Aber er recherchiert mit Wikipedia, ergo müsste wenigstens ein PC im Haus sein, den Frank jedoch nur für diesen Zweck zu nutzen scheint. Hallo? Ein Jugendlicher, der Internet hat und lieber im Fernsehen Tierdokus guckt? Der „im Netz“ nach einem Rezept für Kohlrabi sucht, sich jedoch kein einziges YouTube-Video anklickt. Hä??? Es tut mir leid, aber Frankie wirkt so, als würde Köhlmeier (Jahrgang 1949) über seine eigene Jugend berichten, der er einen pseudo-modernen Anstrich verpasst hat. Den Frank, den Köhlmeier beschreibt, ist ganz sicher kein Teenie des 21. Jahrhunderts.
Diese fehlende bzw. irregeleitete zeitliche Verortung nimmt ausgerechnet den zeitlosen Wahrheiten ihre Strahlkraft. „Verantwortung kommt vor der Schuld. Wenn jemand Verantwortung hat und ihr nicht nachkommt, kann das zu einer Schuld führen.“ (S. 115)

Bewertung vom 17.12.2022
Pups! Wer war's?
Henson, Mike

Pups! Wer war's?


sehr gut

Das Buch mit dem Titel „Pups – Wer war’s?“ hat hier sowohl bei Tochter als auch bei Mutter für große Vorfreude gesorgt.
Tochter so: Pupsi, hihi, will haben!
Mutter so: Wunderbar knallige Farben und witzige Figuren, sehr ansprechend!
Das Buch besticht erst einmal durch eine hochwertige, sehr robuste Verarbeitung und eine tolle Haptik. Die Pappseiten sind mehrschichtig aufgebaut, dadurch sind Schiebelemente sowohl leichtgängig als auch schön stabil.
Das Buch erzählt mit flächigen Illustrationen von einer Schar Tiere, die sich auf dem Weg zum Büro in den Lift drängt. Doch da pupst jemand! Und es stinkt furchtbar! Wer könnte das gewesen sein?
Die Idee für die Geschichte ist witzig, doch leider verflacht die Story, weil immer mehr Tiere den Lift verlassen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass das Konzept mit den Büro-Tieren, die Aktenkoffer bei sich tragen und z.B. auf dem Kopierer Pause machen, eher die Erwachsenen anspricht. Für Kinder funktioniert sie nicht wirklich, da sich diese Lebenswelt von der ihren dann doch ziemlich unterscheidet. Einige Gags und auch die Auflösung der Story hat meine Tochter gar nicht oder nur halb verstanden.
Die Altersangabe ab 2 Jahre halte ich für zu niedrig. Meine Tochter ist 4 und hatte ihren größten Spaß – wie erwartet – an den Schiebeteilen und am Gepupse. Weder die Tiere (deren Mimik ich wiederum köstlich fand) noch die Story konnten sie nachhaltig fesseln.
Die Reime fand ich zum Vorlesen nicht immer flüssig.
Alles in allem nett für einige lustige Eltern-Kind-Momente, wobei diese wahrscheinlich nicht über die gleichen Dinge lachen werden.