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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 318 Bewertungen
Bewertung vom 02.07.2024
Freundschaft und Vergeltung
Krausser, Helmut

Freundschaft und Vergeltung


gut

„Freundschaft und Vergeltung“ ist mein erstes Buch von Helmut Krausser, auf das ich nach Daniel Kehlmanns Lobeshymnen über den Autor sehr gespannt war.

Anthony Brewer, ein pensionierter englischer Rechtsanwalt, war 1965 ein 17-jähriger Schüler des englischen Internats Raven Hall. In der Weihnachtszeit verschwanden damals auf mysteriöse Weise vier Menschen. Die Polizei tappte im Dunkeln, die Vermissten tauchten nie wieder auf, und Anthony lässt dies über die Jahre nicht zur Ruhe kommen. Bereits 1985 stellt er erste Nachforschungen an, und nach seiner Pensionierung nimmt er 2016 die Suche wieder auf.

Auch wenn der Plot nach einem Krimi klingt, würde ich das Buch nicht als solchen ansehen, und echte Krimifans werden vermutlich eher enttäuscht sein. Auch wenn zunächst vordergründig die Lösung des Falles im Fokus steht, wird im Laufe des Romans immer mehr deutlich, dass es eigentlich um ganz andere Themen geht – das testosterongeladene Klima an Knabeninternaten, die Kraft der Illusionen, die eigene Lebensbilanz und das Altern geht.

Ich tat mich zunächst schwer, emotionalen Zugang zu der Geschichte zu finden - als zu selbstgefällig und unsympathisch empfand ich die Charaktere, und zu abstoßend das von zu viel Testosteron geprägte Vokabular und die Atmosphäre am Knabeninternat. Insbesondere die zentrale Figur Christan Bradshaw nervt durch ihre sexistische, spätpubertäre und selbstgefällig-großspurige Art massiv. Die Einstellung sowohl der Schüler als der männlichen Lehrkräfte zu sexueller Nötigung gegenüber Frauen ist erschreckend. Das mag 1965, lange vor #MeToo, noch Realität gewesen sein, ist aber dennoch beim Lesen schwer erträglich. Generell würde ich dieses Buch klar als einen „Männerroman“ bezeichnen.

Krausser Schreibstil ist flüssig zu lesen, das Buch ist spannend und wendungsreich geschrieben, strukturell geschickt aufgebaut mit einer Mischung aus Rückblenden, Augenzeugenberichten, Polizeiprotokollen und Anthonys Leben in der Gegenwart. Insbesondere das Spiel mit den Erwartungen und Illusionen hat mir sehr gut gefallen.

Ich lege dieses Buch mit gemischten Gefühlen zur Seite. Zu viele Fragen bleiben für mich unbeantwortet, um zufrieden mit dem Buch abschließen zu können, und eine echte Nähe zu den Figuren konnte ich nicht entwickeln. Der Ich-Erzähler Anthony war für mich nicht griffig genug, um die Auswirkungen der damaligen Ereignisse auf sein späteres Leben konkret nachvollziehbar zu machen, hier bleibt mir das Buch zu vage. Insgesamt hatte ich mir angesichts der Vorschusslorbeeren deutlich mehr erwartet und das Buch wird mir nicht nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

Bewertung vom 30.06.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


sehr gut

Bisher habe ich von Marc-Uwe Kling nur seine Kinderbücher gelesen und die Känguru-Chroniken als Film gesehen (letzterer war so gar nicht mein Fall), doch die Leseprobe von VIEWS hat mich sofort neugierig gemacht. Ein Thriller, mal ein ganz anderes Genre von Kling – warum nicht?

Das Buch hat mich dann so sehr gepackt, dass ich es in einem Rutsch ausgelesen habe. Kling schreibt eingängig, flüssig und mit einem scharfen Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft. Trotz der schweren und explosiven Thematik blitzt auch immer wieder sein trockener Humor hervor.

Die Geschichte ist packend erzählt und gesellschaftlich, politisch und technologisch brandaktuell, und somit nicht nur ein Thriller, sondern vielmehr auch ein hochbrisanter Roman zur Gegenwart, der sehr zum Nachdenken anregt. Auch wenn Kling aus der Perspektive von Yasira, Hauptkommissarin beim BKA in Berlin, erzählt, so bleibt das Privatleben der Kommissar/innen weitestgehend im Hintergrund, sofern es nicht den Fall berührt. Der Autor verzichtet angenehmerweise komplett auf skurrile Ermittlerfiguren mit schrägen Macken, sondern fokussiert voll und ganz auf den Fall.

Kling entwickelt einen spannenden Plot mit überraschenden Wendungen, der im letzten Drittel allerdings sehr gehetzt wirkt, und ich hatte das Gefühl, dass dem Buch 100-150 weitere Seiten sehr gut getan hätten. Ich frage mich wirklich, warum Kling es bei gerade einmal 272 Seiten beließ, und mit einen recht überstürzt erscheinenden Schluss endet, der mich eher unbefriedigt zurücklässt. Zum einen fällt inhaltlich das Niveau des bis dahin so vielversprechenden Thrillers doch deutlich auf Genre-Durchschnitt ab, und zum anderen bleiben leider interessante Fragen ungeklärt. Auch über das „Danach“ hätte ich gerne noch mehr erfahren, da die weiteren Reaktionen – polizeiintern, ermittlungstechnisch, gesellschaftlich und politisch - für mich keineswegs eindeutig sind.

Bewertung vom 22.06.2024
Janes Roman
Cusset, Catherine

Janes Roman


sehr gut

Janet Cook, Professorin für Französische Literatur an der (fiktiven, an Yale angelehnten) Devayne University in Old Newport, findet eines Tages im Eingang ihres Hauses ein Paket ohne Absender, das ein Manuskript eines Romans über ihr Leben beinhaltet. Der Autor oder die Autorin des Manuskripts weiß erstaunlich detailliert über Janes Alltag und ihr Liebesleben Bescheid. Jane ist während der Lektüre gleichermaßen fasziniert wie beunruhigt und verdächtigt abwechselnd bald alle Personen ihres Umfelds, der/die anonyme Verfasser/in des Manuskripts zu sein…
Der Roman wurde bereits 2001 erstmals auf Deutsch veröffentlicht und erscheint nun in einer Neuausgabe im Eisele Verlag. Die Handlung spielt in den Jahren 1991 bis 2000.


Die erste Textebene um Jane, die mit einem Mix aus Neugier, Unbehagen, Scham und Faszination den anonym verfassten Text liest und herauszufinden versucht, wer diesen geschrieben haben könnte, umrahmt die Binnenerzählung des Manuskripts, die Janes Leben in den letzten neun Jahren akribisch und bis ins Intimste beschreibt. Diese sich abwechselnden Textebenen sind geschickt konstruiert und miteinander verwoben, wobei die Rahmenhandlung wesentlich weniger Raum einnimmt. Hier hätte mich an einigen Stellen eine noch detailliertere Reflexion des Manuskripttextes durch Jane interessiert, die hier mit einer Interpretation ihrer Gefühlswelt durch einen geheimnisvollen Dritten konfrontiert wird.


Jane bleibt für mich eine schwer zu fassende Figur. An vielen Stellen fühlte ich mit ihr, an anderen wollte ich sie einfach nur wachrütteln oder ihr ins Gewissen reden. Im realen Leben wäre ich mit ihr wohl nicht warm geworden. Ihre Verlustängste, ihre Bindungsunfähigkeit und ihr selbstzerstörerisches Verhalten, gepaart mit der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und einer übersteigerten emotionalen Sensibilität, sind auf die Dauer sehr frustrierend und anstrengend.


An vielen Stellen wirkt der Roman aus heutiger Sicht etwas antiquiert, insbesondere was die Rolle der Frau, die Bewertung sexueller Übergriffigkeit und die Sorglosigkeit bezüglich ungeschützten Verkehrs angeht. Hier hat sich das Bewusstsein in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise deutlich verändert, und Janes Einstellung wäre heute wohl eine andere. Schockiert war ich, dass im Roman an zwei Stellen noch das N-Wort verwendet wird, wenn auch in literaturwissenschaftlichem Kontext. Einen anderen Begriff hätte ich hier wünschenswert gefunden. Auch andere Ausdrücke, wie das nur in Teilen Süddeutschlands bekannte „sapschig“ irritieren (zumal es im Dialekt nicht mit „p“ sondern „b“ geschrieben wird) und werfen ein etwas unglückliches Licht auf die Übersetzung, ebenso wie einige Flüchtigkeitsfehler in Grammatik und Inhalt.


Mit Fortschreiten des Romans wächst die Spannung, wer denn nun hinter dem Ganzen steckt, und das Ende ist überraschend konstruiert, auch wenn ich auch hier wieder Janes Einstellung nur teilweise nachvollziehen kann und einige ihrer Gedanken kritisch sehe.
Insgesamt ein sehr unterhaltsamer, spannender und geschickt konstruierter Beziehungsroman, der viele Ansätze für Diskussionen bietet, aber teilweise etwas aus der Zeit gefallen wirkt.

Bewertung vom 16.06.2024
3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel
Bonelli, Armin

3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel


ausgezeichnet

Marken begleiten uns von frühester Kindheit an, und meine ersten Erinnerungen zu diesem Thema reichen in die Grundschulzeit der späten 80er Jahre zurück, als wir uns im Klassenzimmer heftig darüber stritten, ob nun der Amigo-Ranzen cooler ist als Scout (na klar!) und Pelikan oder Geha die besseren Füller hat. Dank der inkompatiblen Patronen waren hier die Fronten besonders verhärtet, schweißte doch schon die Möglichkeit, sich nur „markenintern“ mit Tinte aushelfen zu können, eng zusammen. Und wer gar mit LAMY schrieb, verkörperte auf dem Dorf sowieso den Gipfel der Extravaganz und kam garantiert aus dem Waldorf-Kindergarten.

Armin Bonelli spürt in „3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel“ (ein genialer Titel!) dem Mythos der Marken nach: Wie entstehen Marken, woher kommt unsere Liebe zu bestimmten Marken, die mitunter nahezu religiöse Züge annimmt, welche Sehnsüchte sprechen sie an und wie lassen wir uns durch Marken manipulieren?

Der Autor verbindet informative Fakten, anschauliche Beispiele und wissenschaftliche Studienergebnisse und lockert die Thematik immer wieder durch eigene Erfahrungen auf. Dank des kurzweiligen Schreibstils liest sich das Buch sehr angenehm und flüssig. Es brachte mich dazu, mein eigenes Konsumverhalten, das ich als sehr markenkritisch bezeichnen würde, zu hinterfragen und zeigte mir auf, wo ich unbewusst in die Manipulationsfalle der Marken tappe. Entsprechend fand ich auch das Kapitel „Manipulation“ ganz besonders spannend und hätte hierzu gerne noch mehr gelesen (vielleicht in einem nächsten Buch?).

Am Ende des Buches stellt der Autor noch zehn verschiedene Markentypen vor inklusive eines kleinen Tests, anhand dessen man seine eigene Markentyp-Kombination bestimmen kann. Diese traf bei mir erstaunlich gut zu.

Aufgrund der gelungen Mischung aus interessanten Sachinformationen und unterhaltsamer Lektüre eignet sich das Buch auch sehr gut als Geschenk an alle, die sich für die Mechanismen hinter den Markenversprechen interessieren. Unbedingt lesenswert!

Bewertung vom 15.06.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


gut

Knapp 60 Jahre nach dem Tod ihres Vaters bei einem Autounfall macht sich Zora del Buono in ihrem autofiktionalen Buch auf die Suche nach dem damaligen Unfallverursacher. Ihre Mutter ist an Demenz erkrankt, in ihrem Umfeld ist niemand mehr da, den sie nach den Ereignissen damals fragen könnte. Als Leserin habe ich mich gefragt, warum sie mit ihrer Recherche so lange gewartet hat. Del Buono versucht zwar, hierfür Begründungen zu liefern, doch es bleibt für mich nur schwer nachvollziehbar. Während der Recherche schwankt sie zudem immer wieder zwischen ihrem Wunsch nach Gewissheiten und der Scheu vor neuen Erkenntnissen. Auch wenn ich dies aus meinem Familienkreis bezüglich einer ähnlichen Situation kenne, habe ich Schwierigkeiten, dies zu verstehen. Das ist vermutlich Typsache.

Einen großen Teil des Buches nehmen Kindheitserinnerungen und ihre Gedanken zu frühkindlicher Bindung und Verlust ein sowie ihre diesbezüglichen Gespräche mit drei langjährigen Freunden während diverser Kaffeehausbesuche. Auch ihre Empfindungen und Assoziationen während ihrer Recherchereise in die Umgebung des Unfallortes gibt sie viel Raum. Beides ist zuweilen durchaus interessant und regt zu Nachdenken an, manchmal wurden mir die Abschweifungen aber doch zu viel (etwa in die Homosexuellenszene Berlins der späten 80er Jahre oder zu den letzten Hexenverbrennungen der Schweiz 1782) und ich hätte ich mir etwas mehr Fokussierung gewünscht. Da seit dem Unfall knapp 60 Jahre vergangen sind, ist es nicht verwunderlich, dass del Buonos Erkenntnisse bezüglich des Unfallverursachers eher dürftig bleiben.

Am eindrücklichsten bleibt mir der dünkelhafte Tenor alter Gerichtsakten und eines Leserbriefes aus den 1960er Jahren in Erinnerung, in denen der Eindruck entsteht, dass der Wert eines Menschenlebens von seiner gesellschaftlichen und beruflichen Stellung abhängt. Hier hat sich in den vergangenen Jahrzehnten glücklicherweise einiges getan.

Ein interessantes Buch für alle, die sich generell für den Themenkomplex frühkindlicher Prägungen und Verlusterfahrungen und deren Wirkungen bis ins Erwachsenenalter interessieren. Wer vor allem eine emotionale Suche nach Erkenntnissen über den Vater oder den Unfallverursacher erwartet, wird eher enttäuscht sein.

Bewertung vom 13.06.2024
Lebensmitteallergie
Riedel, Susanne M.

Lebensmitteallergie


ausgezeichnet

Die Autorin Susanne Riedel verbindet ihre Gedanken, Alltagsbeobachtungen und Erlebnisse in kurzen Kapiteln zu einem sehr unterhaltsamen Buch für alle, die die Fünfzig am Horizont sehen oder bereits überschritten haben. Es ist locker-leicht und humorvoll geschrieben und eignet sich perfekt als gemütliche Lektüre für zwischendurch. Ich habe es auf einen Satz an einem Nachmittag durchgelesen und musste an mehreren Stellen laut lachen. Trotz der kleinen Melancholie, die sich angesichts des Alterns einstellt, schließt man das Buch mit einem guten Gefühl und einem Lächeln im Gesicht.

Bewertung vom 12.06.2024
Mord stand nicht im Drehbuch
Horowitz, Anthony

Mord stand nicht im Drehbuch


gut

Mit "Mord stand nicht im Drehbuch" als viertem Band setzt Anthony Horowitz seine Reihe um den ehemaligen Kriminalbeamten Daniel Hawthorne fort, der als Berater der Polizei arbeitet und bei komplexen Fällen hinzugezogen wird. Ich kenne bereits den dritten Teil, doch da die Fälle in sich abgeschlossen sind, ist es problemlos möglich, die Bücher unabhängig voneinander zu lesen oder zu hören.

Wie immer tritt der Autor Anthony Horowitz als autofiktionaler Ich-Erzähler auf, der in Watson- bzw. Hastings-Manier den eigenwilligen, aber brillanten Detektiv Daniel Hawthorne bei seinen Ermittlungen begleitet und darüber schreibt. Das Konstruktionsprinzip der Fälle und der Schreibstil erinnern stark an Doyles Sherlock-Holmes-Reihe oder Agatha Christies Hercule-Poirot-Romane, was nicht verwunderlich ist, nachdem Horowitz selbst mehrere neuere Sherlock-Holmes-Romane verfasst hat sowie die Drehbücher zur Poirot-Fernsehserie. Diese Ähnlichkeit ist gleichzeitig die Stärke wie auch die Schwäche seiner Romane. Für Liebhaber dieses Genres sind Horowitz‘ Romane wunderbar wendungsreiche Geschichten, bei denen es auf kleinste Details ankommt, gespickt mit feinem Humor und originellen Protagonisten. Allerdings werden diese nach bekanntem Muster gestrickten Krimis für geübte Leser auch schnell durchschaubar. So war mir bei diesem Fall bereits sehr früh klar, wer der wahre Täter sein würde.

Hawthorne wurde mir auch in diesem Band nicht wirklich sympathisch, er bleibt jedoch eine interessante Figur mit Geheimnissen. Auf die Dauer etwas nervig fand ich seine ständige Anrede „Sportsfreund“ für Anthony Horowitz (die sich auch durch die früheren Bände zieht).

Insgesamt wirkte die Geschichte, bei der Horowitz selbst ins Visier der Ermittler gerät, doch recht konstruiert und nicht ganz rund, und das dahinterstehende Prinzip allzu durchsichtig. Für mich war dies ein etwas schwächerer Band der beliebten Horowitz-Reihe, aber dennoch ein unterhaltsamer Krimi für Zwischendurch.

Das Hörbuch wird wie immer von dem wunderbaren Uve Teschner eingesprochen, dessen angenehmer Stimme ich immer wieder gerne lausche.

Bewertung vom 12.06.2024
Ich stelle mich schlafend
Ohde, Deniz

Ich stelle mich schlafend


gut

Da ich das Debüt „Streulicht“ bisher nicht gelesen habe, war „Ich stelle mich schlafend“ mein erster Roman von Deniz Ohde. Die Grundthematik des Buches hat mich sehr angesprochen – wohl jede Frau wird in ihrem Leben mit Grenzüberschreitungen konfrontiert. Und anstatt uns selbstbewusst abzugrenzen, reagieren wir oft zögerlich, geben uns selbst die Schuld, schämen uns – denn schließlich wurden wir häufig noch dazu erzogen, brav und „pflegeleicht“ zu sein und uns und unsere Bedürfnisse im Zweifel um der Harmonie willen zurückzunehmen.
Der Einstieg in die Geschichte war zunächst etwas sperrig und es dauerte ein bisschen, bis ich mich zurechtgefunden habe. Auch die Figuren waren für mich emotional schwer greifbar und es gelang mir nur bedingt, mich in sie hineinzuversetzen, insbesondere bei Yasemin und Vito. Vielleicht hätte ich sie besser verstehen können, wenn die Biografien ihrer Figuren etwas stärker ausgearbeitet worden wären. So habe ich mich immer wieder gefragt, warum Yasemin so passiv agiert und sie starr in ihrer Opferrolle verharrt. Teilweise hat mich das beim Lesen regelrecht wütend gemacht und ich hätte sie am liebsten wachgerüttelt. Um auf Beziehungs- und Rollenmuster aufmerksam zu machen, überzeichnet Ohde ihre Figuren für mein Empfinden zu stark, so dass sie wenig glaubhaft wirken und alles ein bisschen „too much“ ist.
Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass Deniz Ohde zu viel auf einmal wollte und die Geschichte überfrachtet hat. Gerade gegen Ende quetscht sie auch noch politische Botschaften ins Buch, die an sich zwar wichtig sind, aber dazu beitragen, dass das Buch stark konstruiert wirkt. Um sicherzugehen, dass ihre Botschaft wirklich beim Leser/der Leserin ankommt, erklärt sie diese sicherheitshalber detailreich – hier hätte sie ihren Leser/innen gerne etwas mehr zutrauen und Raum für Interpretation lassen dürfen.
Leider konnte der Roman meine hohen Erwartungen nicht erfüllen und mich haben andere Bücher zu diesen Themenbereich stärker bewegt, etwa „Geordnete Verhältnisse“ von Lana Lux.

Bewertung vom 10.06.2024
#ALS und andere Ansichtssachen
Bär, Christian

#ALS und andere Ansichtssachen


gut

Ein sehr bewegendes, interessantes und informatives Buch über das Leben mit ALS. Bewundernswert, wie Christian Bär mit dieser Diagnose umgeht, und mit wie viel Kraft und Zuversicht trotz aller Widrigkeiten seine Familie und er das Leben meistern. Besonders interessant und wichtig fand ich seine Ausführungen über den Entwurf zum „Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz“ der alten Bundesregierung – dieser zeigt wieder einmal eindrucksvoll, dass nicht das Wohl der Betroffenen im Vordergrund steht sondern die Kosteneffizienz.
Christian Bär schreibt trotz des schweren Themas sehr unterhaltsam und mit viel Sinn für Humor. Auf die Dauer war mir der durchgehende, mitunter bemüht wirkende Witz aber doch etwas zu viel. Auch die zahlreichen Abschweifungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben mich beim Lesen gestört, da hier Herr Bär öfters Gefahr läuft, in genau die Polemik zu verfallen, die er selbst kritisiert. Da bewegte sich das Buch dann doch leider auf Stammtisch-Niveau.
Beim Lesen ist mir aufgefallen, dass sich inhaltlich vieles wiederholt; es wirkt mitunter, als wären vor allem Blogbeiträge aneinander gereiht und in Buchform veröffentlicht worden. Ein straffendes Lektorat hätte hier gut getan.

Bewertung vom 10.06.2024
Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente
Standish, Ali

Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente


gut

In „Baskerville Hall“ erzählt Alis Standish die rein fiktive Schulzeit des jungen Arthur Conan Doyle. Hierbei baut sie einige Figuren und Begebenheiten ein, die Liebhabern seiner späteren Romane bekannt vorkommen werden. Die junge Zielgruppe wird diese kleinen Reminiszenzen jedoch eher noch nicht erkennen.

Der junge, hochintelligente Arthur wächst in einer liebevollen, kinderreichen und sehr armen Familie auf. Eines Tages erhält er überraschend per Brief eine Einladung an eine geheimnisvolle Schule – bereits am nächsten Tag soll es losgehen, die Abreise erfolgt per Luftschiff. Im Internat erwarten ihn nicht nur teils sehr skurille Lehrkräfte wie der Anatomielehrer Dr. Watson oder die Professorin Grey (Fachgebiet Elektrizität), sondern auch Mitschüler*innen mit recht speziellen Marotten. So beschäftigt sich Grover leidenschaftlich gerne mit Grabinschriften, während „Pocket“ in ihren unzähligen Taschen die wunderlichsten Dinge mit sich führt. Und auch ein zwielichtiger Geheimbund zieht an der Schule seine Strippen – auf Arthur und seine Freunde warten ungeahnte Herausforderungen.

Ich habe das Buch zusammen mit meinem zehnjährigen Sohn gelesen, und wir sind sofort gut in die Geschichte reingekommen. Der sprachlich gewandte Schreibstil ist angenehm, humorvoll und sehr unterhaltsam zu lesen. Auch die Spannung kommt natürlich nicht zu kurz, da der mysteriöse Geheimbund und seine Absichten Raum für viel Spekulation lassen. Dieser Bund stellt Arthur und seinen Freunden vor schwierige Entscheidungen, die auch moralisch viel Potential zur Diskussion bieten.

Die Leidenschaft des wahren Arthur Conan Doyle für paranormale Phänomene spiegelt sich auch in diesem Buch wider. Dies ist nicht jedermanns Sache, und auch ich hätte hierauf gerne verzichtet. Nicht nur, dass Arthur quasi ad hoc die Kunst der Hypnose beherrscht, sondern auch weitere, im Verlauf des Buches zunehmend irrationale und teils hahnebüchene Ereignisse trübten hier leider unseren Lesegenuss.

Mein größter Kritikpunkt ist jedoch ein anderer: Die Schule ermutigt die Schüler und Schülerinnen, Regeln zu brechen und Risiken einzugehen. Zweifellos ist es wichtig selbstständig zu denken, Regeln zu hinterfragen. Allerdings geht das Buch hier zweifelhafte Wege. Hierzu gehört zum einen eine riskante Mutprobe, bei der ich Arthurs Handeln als unbedacht und höchst fahrlässig empfinde. Das hätte auch mit einer Querschnittslähmung enden können. Näher kann ich hier nicht darauf eingehen, da ich nicht spoilern möchte. Als besonders bedenklich erachte ich jedoch zwei Abschnitte über den Unterricht bei Professorin Grey, deren Spezialgebiet die damals noch in ihren Anfängen steckende Elektrizitätslehre ist. Als Naturwissenschaftlerin finde ich es grundsätzlich toll, wenn Bücher hierzu Wissen vermitteln, in diesem Fall jedoch stehe ich der Art und Weise sehr kritisch gegenüber. Im einen Abschnitt erhalten die Schüler*innen einen beabsichtigten Stromschlag an Leidener Flaschen. Diese frühen Versionen von Kondensatoren können leicht nachgebaut werden und stellen unter fachkundiger Anleitung einen eindrucksvollen Versuch zur Veranschaulichung elektrischer Ladungen dar. Sie können je nach Versuchsanordnung jedoch mitunter erhebliche Energien speichern, so dass das Risiko lebensgefährlicher Stromschläge besteht. Im zweiten Abschnitt schickt Professorin Grey ihre Klasse bei Gewitter zum Drachensteigen, um den berühmten Versuch Benjamin Franklins nachzustellen, der 1752 damit den Blitzableiter erfand. Hierbei nutzen die Kinder wie Franklin einen präparierten Drachen mit Metalldrähten auf der Oberseite und einer (im nassen Zustand leitfähigen) Hanfschnur, an der ein Schlüssel befestigt ist. Die Hanfschnur ist wiederum an einen seidenen Haltefaden gebunden. Nicht nur, dass die Versuchsanordnung fehlerhaft wiedergegeben ist (es ist nicht sicher, den „trockenen“ Seidenfaden in der Faust zu halten, während man durch den Regen rennt, Franklin wählte einen Regenunterstand, der den langen Seidenfaden trocken hielt), auch suggeriert das Buch, dass hierbei keine Gefahr besteht. Das ist für mich im höchsten Maße fahrlässig und könnte Kinder animieren, das selbst beim nächsten Gewitter auszuprobieren. Zudem versäumt die Autorin die Gelegenheit, an dieser Stelle den Leser*innen altersgerecht die physikalischen Hintergründe Leidener Flaschen bzw. von Franklins Versuch zu erklären, so dass eine tolle Möglichkeit zur Wissensvermittlung verschenkt wird und die Experimente unmotiviert im Raum stehen.

Angesichts der riskanten Experimente im Buch, auf deren Gefahren nicht ausreichend hingewiesen wird, und den vor allem in der zweiten Hälfte sehr abstrusen fantastischen Ereignissen kann ich das Buch leider nur bedingt empfehlen. Das ist wirklich schade, denn das Setting an sich und die Figuren hatten an sich viel Potential für ein spannendes Kinderbuch.