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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 457 Bewertungen
Bewertung vom 27.02.2025
Dunkle Momente
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


ausgezeichnet

Die Protagonistin Eva Herbergen ist Strafverteidigerin in Berlin, Mitte 60, und kann auf einige spektakuläre Fälle zurückblicken. Eingefasst von einer kurzen Rahmenhandlung schildert das Buch in neun abgeschlossenen Kapiteln jeweils einen prägenden Fall aus ihrem Berufsleben.
Besonders neugierig war ich auf dieses Buch, da die Autorin Elisa Hoven selbst Professorin für Strafrecht und Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof ist. Im Interview, das dem Roman vorangeht, erwähnt sie, dass die einzelnen Fälle fiktiv sind, häufig jedoch von realen Fällen inspiriert wurden. Beim Lesen habe ich mich dann auch an manchen Fall, der in den letzten 20 Jahren durch die Presse ging, erinnert, etwa im Kapitel „Salz“.
Bei manchen Fällen hätte ich gerne noch weitere Details erfahren, und insbesondere der zweite Fall „Leben lassen“ verlief mir etwas zu glatt. Hier kann ich mir nicht vorstellen, dass die Ermittlungen seitens der Polizei zum Verschwinden der Person keine Ungereimtheiten aufgedeckt hätten.
Ich empfand es als sehr angenehm, dass Elisa Hoven die Fälle sachlich erzählt, ohne Effekthascherei oder sensationslüsterne Details, wie es vielfach bei True Crime üblich ist. Stattdessen stehen die beteiligten Personen, Täter wie Opfer, im Vordergrund und der Strafprozess. Hier kommt die Sachkunde der Autorin zum Tragen, die falsche Vorstellungen aus amerikanischen Serien oder Krimis richtigstellt und auf anschauliche, für Laien verständliche Weise die eine oder andere Besonderheit des deutschen Rechtssystems erklärt. Sie zeigt bei vielen Fällen, dass es oft kein klares Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse, gibt, sondern viele Graustufen dazwischen. Dies macht es sehr schwierig und manchmal nahezu unmöglich, ein gerechtes Urteil zu finden. Überhaupt regt das Buch dazu an, intensiv über Recht und Gerechtigkeit nachzudenken. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 27.02.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


sehr gut

Ich muss gestehen, dass ich Takis Würger bisher nicht kannte und „Für Polina“ mein erstes Buch des Autors war. Gleich von Beginn an gefielen mir besonders die außergewöhnlichen Figuren: Die junge Fritzi Prager, die sich mit ihrem Sohn Hannes für einen ungewöhnlichen Lebensweg entscheidet, ihre Freundin Günes und deren Tochter Polina und der kauzige, etwas schroff wirkende, aber doch sehr liebenswerte Heinrich Hildebrand. Der kleine Hannes ist ein stilles Kind, das so anders ist und auf Außenstehende etwas zurückgeblieben wirkt, aber ein ganz feinfühliger Beobachter ist, der seine Gefühle leichter durch Musik als durch Worte ausdrücken kann. Ganz anders die lebhaftere Polina, und dennoch wächst zwischen den beiden von Kindesbeinen an eine einzigartige Freundschaft.

Takis Würger entwirft eine berührende Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die sich so nahe stehen und die dennoch in den entscheidenden Momenten nicht miteinander kommunizieren können. Würger erzählt hierbei aus Hannes‘ Sicht, so dass sein Leben und seine Gefühlswelt sehr gut nachzuvollziehen sind, während Polina mir ein bisschen zu kurz kommt. Auch sind eine Momente etwas kitschig geraten, und manche Details wirken nicht ganz stimmig, so dass die Authentizität der Figuren mitunter etwas leidet: Wer transportiert beispielsweise ein Baby auf dem Fahrrad ernsthaft in einem alten Schulrucksack? Und es erscheint mir unglaubwürdig, dass jemand, der als Möbelträger gearbeitet hat, was der Fingerfertigkeit nicht zuträglich ist, und einen Finger verloren hat, sich nach jahrelanger Pause plötzlich ans Klavier setzt und spielt wie ein junger Gott. Wenn man über diese Dinge hinwegsieht, ist „Für Polina“ ein sehr berührender, warmherziger Roman, der einfach großartig erzählt ist. Er zeigt, welche verschlungenen Wege das Leben manchmal nehmen kann und lässt einen mit einem warmen, hoffnungsvollen Gefühl zurück.

Bewertung vom 25.02.2025
True Crime in Nature
Graßmann, Farina

True Crime in Nature


ausgezeichnet

Bevor ich „True Crime in Nature“ gelesen hatte, war mir nicht im Entferntesten bewusst, wie viele Tiere als Parasiten oder Parasitoide leben, und wie erfinderisch sie dabei vorgehen, um teilweise sogar mehrere Zwischenwirte hintereinander zu parasitieren. Wer hätte gedacht, welche heimtückischen Überfälle, Kidnapping und Anschläge sind allein im heimischen Garten unter den Insekten abspielen oder wie der Kleine Leberegel auf der Kuhweide sein Unwesen treibt, um Ameisengehirne zu kapern! Ich werde heuer sicher mit anderen Augen das Treiben in meinem Garten beobachten.
Die Autorin Farina Graßmann schreibt dabei so locker und unterhaltsam, dass das Buch nie wie ein trockenes Sachbuch wirkt, sondern man regelrecht durch die Seiten fliegt. Wunderbar ergänzt wird der Text durch comicartige, humorvolle Illustrationen in rot, schwarz und weiß und durch einzelne Fotos.
Eine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.02.2025
FREI - Bester Sommer (FREI 1)
Welk, Sarah

FREI - Bester Sommer (FREI 1)


ausgezeichnet

Ich muss zugeben, das Cover hat mich zuerst in die Irre geleitet, und ich hielt es eher für ein Mädchenbuch. Glücklicherweise habe ich mir den Klappentext doch noch genauer angesehen und wurde neugierig.

Der Ich-Erzähler Joshua ist ein aufgeweckter 14-jähriger Junge, der in seinem Leben schon zwölfmal umgezogen ist, da seine Mutter als Künstlerin ständig auf der Suche nach neuer Inspiration ist. Und nach Stationen wie Berlin, Neapel, Wien oder Hamburg verschlägt es Joshua diesmal in das kleine Nest Rottloch. Joshua ist alles andere als begeistert, und sein Bestreben, in der Schule neue Freunde zu finden, hält sich in Grenzen. Wozu auch, schließlich geht es in ein paar Monaten sicher wieder an den nächsten Ort. Doch die lokale Schule entpuppt sich als äußerst ungewöhnlich mit einem sehr freien und experimentellen pädagogischen Ansatz, und das Schuljahr startet für die Achtklässler gleich mit einer Projektwoche: Fünf Tage geht es allein ohne Handy und Erwachsene in Kleingruppen zum Wandern und Campen in den Wald. Joshua wird mit Nico, Koray, Nasrin und Nina in eine Gruppe eingeteilt. Die ungleiche Gruppe macht sich auf den Weg, und jeder hat nicht nur die nötigste Wanderausrüstung im Gepäck, sondern auch seine ganz eigenen Probleme und Geheimnisse. Die Fünf unterschiedlichen Charaktere müssen sich zu einem Team zusammenfinden, und das ist angesichts der Dynamiken, die sich in Gruppen unweigerlich ausbilden, gar nicht so einfach. Und dann stoßen die Fünf im Wald auch noch auf merkwürdige Dinge…

Sarah Welk trifft den jugendlichen Ton perfekt, und beim Lesen hatte ich tatsächlich das Gefühl, in die Gedanken- und Gefühlswelt eines 14-Jährigen einzutauchen, mit all ihren Unsicherheiten, Träumen und Ängsten. Besonders gut hat mir gefallen, dass die Geschichte dazu ermutigt, hinter die Fassade anderer Menschen zu blicken und nicht vorschnell zu urteilen.

Die Autorin verwendet umgangssprachliche Satzkonstruktionen („weil da war…“) und Wortwahl, jedoch so wohldosiert und gekonnt, dass es niemals gewollt oder künstlich wirkt, ganz im Gegenteil. Der Schreibstil ist so herrlich natürlich, lebendig und voller trockenem Humor, das ich dieses Buch an einem Tag verschlungen habe. Es hat mich stilistisch an William Sutcliffe erinnert, dessen Bücher „Grüner wird’s nicht“ und „Genial normal“ ich letztes Jahr gelesen und mich dabei köstlich amüsiert habe, obwohl ich schon aus dem Alter der Zielgruppe herausgewachsen bin (und mein Sohn mit 10 noch etwas dafür ist – aber ich hoffe, er wird sie in 1-2 Jahren ebenso begeistert lesen).

Dieser erste Band macht Lust auf mehr, und ich bin schon gespannt, wie es mit den Fünfen in Rottloch weitergeht!

Bewertung vom 25.02.2025
Das Trumpeltier
Dormeyer, Thea

Das Trumpeltier


ausgezeichnet

Maki lebt mit vielen anderen Tieren zusammen im Dschungel, als eines Tages ein großer braun-oranger Oran-Utan auftaucht und den Dschungeltieren einredet, sie bräuchten einen Anführer, um ihre Interessen gegenüber anderen zu vertreten, nach dem Motto „Dschungel zuerst!“. Indem das Trumpeltier die Tiere geschickt manipuliert und täuscht, erweckt es den Eindruck, der perfekte Kandidat zu sein und lässt sich zum Anführer wählen. Als erstes wird eine Mauer errichtet, um andere Tiere vom Dschungel fernzuhalten. Doch bald kommen dem Maki und den anderen Zweifel: Ging da wirklich alles mit rechten Dingen zu? Und was macht überhaupt einen guten Anführer aus?
Als vorlesender Erwachsener hat man natürlich sofort eine bestimmte Person der Zeitgeschichte vor Augen, und bereits der Titel und auch die Frisur des Trumpeltieres wurden schon dementsprechend gewählt. Ich liebe es, wenn Kinderbücher auch für die Eltern eine kleine Ebene einbauen, die zum Schmunzeln oder Nachdenken einlädt, und das ist hier wunderbar gelungen. Die Zielgruppe ab 4 Jahren wird die Parallelen noch nicht erkennen, aber spielerisch eine wichtige Botschaft zur Demokratie lernen: Nach welchen Kriterien sollten Personen ausgewählt werden, die eine Gruppe anführen? Müssen das die Stärksten und Größten sein, oder eher diejenigen, die die Bedürfnisse aller im Blick haben und mit anpacken, wenn Hilfe gebraucht wird? Ganz besonders gut gefällt mir, wie die Botschaft des Buches am Schluss verpackt ist – das ist wirklich sehr schön gelöst!
Sehr gut gefallen hat mir auch der Zeichenstil. Besonders goldig in der kleine Makake Maki, den man sofort ins Herz schließt. Die Illustrationen sind farbenfroh und dynamisch, aber nicht knallig. Einziger winziger Kritikpunkt: Da immer vom Bär, dem Tiger etc. die Rede ist, kommen implizit ausschließlich männliche Tiere vor. Ich hätte es wünschenswert gefunden, wenn auch Dschungelbewohnerinnen eine Rolle gespielt hätten.
Ein wirklich tolles Buch, das nicht nur zu Hause viel Freude beim Lesen macht, sondern auch in KiTas oder Kindergärten eine anregende Vorleselektüre sein kann, um anschließend darüber zu sprechen. Und nicht zuletzt ist es auch kleines Zeitdokument – wobei zu hoffen bleibt, dass die Menschen genauso schnell lernen wie die Tiere…

Bewertung vom 25.02.2025
Die Bibliothek der Wahren Lügen
Cañadas, Jesús

Die Bibliothek der Wahren Lügen


schlecht

Mein Sohn (11) und ich lesen gerne gemeinsam fantasievolle Romane voller Magie und Abenteuer, und so waren wir sehr neugierig auf die „Bibliothek der Wahren Lügen“.
Oskar, 14 Jahre alt, lebt nach dem Tod seines Vaters zusammen mit seiner Schwester Bibi, seiner im Rollstuhl sitzenden Mutter und deren neuem Freund. In der Schule wird er gemobbt, und am liebsten zieht er sich zuhause mit einem Buch von Simon Bruma zurück, der bereits der Lieblingsautor seines Vaters war, und schreibt Fanfiction. Als er den Schreibwettbewerb von Simon Bruma gewinnt, und zu ihm nach Hause eingeladen wird, um vom Bruma im Schreiben unterrichtet zu werden, ist er überglücklich. Doch im Hause des Autors passieren seltsame Dinge. Seine Tochter November ist schwer krank und kann nur durch Oskar gerettet werden…
Uns ist bereits der Einstieg in das Buch sehr schwer gefallen, da von Anfang an nicht klar ist, was real ist und was Phantasie. So bezeichnet Oskar seine kleine Schwester als Maus, sieht ihre Schnurrhaare, und auch Simon Bruma bezeichnet sie so, streicht ihr über die Schnurrhaare und gibt ihr Käse. Seine Mutter sieht Oskar als Eiskönigin, den Stiefvater als Echse. Im Verlauf der Geschichte vermischen sich Fiktion und Realität immer mehr. Die Handlung wird zunehmend verworrener bis hanebüchen, und es ist weder ein roter Faden noch ein schlüssiges Gesamtkonzept erkennbar, von Logik ganz zu schweigen. Mein Sohn hat bereits nach zwei Kapitel aufgegeben, ich habe das Buch beendet, muss aber sagen, dass es letztendlich ein Durchquälen war. Im Nachhinein bin ich froh, dass mein Sohn abgebrochen hat, da im Verlauf des Buches viele Kamphandlungen und Gemetzel stattfinden, hinzu kommen ekelhafte, gruselige Szenen, die Kinder verstören könnten. Das ständige Gezanke zwischen November und Oskar nervt zusätzlich.
Ich halte dem Autor zugute, dass es sich um ein sehr fantasievolles, sprachlich gewandtes Buch handelt, doch leider schießt er übers Ziel hinaus und verliert sich in einem wirren Wust verschiedener Handlungs- und Metaebenen. Leider konnten mich weder die Handlung noch die Charaktere überzeugen, und die Altersempfehlung ist mit 11 Jahren meines Erachtens zu niedrig angesetzt. Ich sehe die Zielgruppe bei 13 Jahren aufwärts.
Meinen Sohn und mich hat dieses Buch leider komplett enttäuscht.

Bewertung vom 18.02.2025
Russische Spezialitäten
Kapitelman, Dmitrij

Russische Spezialitäten


ausgezeichnet

In „Russische Spezialitäten“ schildert Dmitrij Kapitelman eindrucksvoll seine innere Zerrissenheit angesichts des Ukraine-Krieges. Der Autor selbst ist in Kyjiw geboren und dort russischsprachig aufgewachsen, bevor er im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach Deutschland kam. Dort führte die Familie in Leipzig über 25 Jahre ein Geschäft für russische Spezialitäten.

Seit Beginn des Krieges geht eine Spaltung durch die Familie, engste Freundschaften werden auf die Probe gestellt. Während sich der Autor westlich positioniert, verfolgt seine Mutter russisches Staatsfernsehen und glaubt der russischen Propaganda. Kapitelman spürt, wie sich auch sein Leben durch den Krieg verändert und er nach seiner eigenen Identität sucht, da er seit Kriegsbeginn „weder vollständig lachen noch weinen kann“ (Kapitel „Tate ist noch auf dem Spielplatz“). So fasst er schließlich den Entschluss, trotz der Gefahr nach Kyjiw zu reisen.

Kapitelman erzählt sehr persönlich, pointiert, mit großem Sprachgefühl und einem messerscharfen schwarzen Humor. Trotz des schweren Themas enthält sein Buch auch viele komische Momente.

Mich hat das Buch sehr bewegt und mir noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie komplex nicht nur die politischen, sondern auch die zwischenmenschlichen und innerfamiliären Auswirkungen des Ukraine-Krieges sind. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 18.02.2025
Achtzehnter Stock
Gmuer, Sara

Achtzehnter Stock


sehr gut

Ich muss gestehen, dass ich an diesem Roman zunächst vorbeiging und erst durch eine Empfehlung darauf aufmerksam wurde.

Von Anfang an hat mich die Hauptfigur, Wanda, ganz besonders herausgefordert. Sie war mir nicht unbedingt sympathisch, sondern ist eine Person, an der ich mich als Leserin immer wieder reiben konnte. Manchmal – gerade, wenn es um ihre Tochter Karlie ging – war ich beim Lesen ziemlich aufgewühlt und hätte ihr am liebsten die Meinung gesagt. Und dann gab es wieder Stellen, an denen ich mich Wanda sehr nahe fühlte und mich genau in sie hineinversetzen konnte. Ich liebe Bücher, deren Charaktere nicht glatt sind, sondern ambivalent mit Ecken und Kanten, und Wanda ist so ein Charakter.

Die Autorin Sara Gmuer schreibt eindringlich und lebendig, so dass ich mir das Hochhaus und seine Atmosphäre, die Bewohner und Bewohnerinnen, aber auch die Szenen am Film-Set und im Schickimicki-Restaurant in allen Details vorstellen konnte. Inwieweit die beschriebene Situation in der Filmbranche der Realität entspricht, kann ich nicht beurteilen, Ich vermute jedoch, dass hier deutlich überzeichnet wurde, und hätte mir ein bisschen weniger Klischee gewünscht, da an diesen Stellen die Geschichte etwas vorhersehbar und schablonenhaft wirkt.

Der Roman zeigt, wie sehr uns das Milieu unserer Herkunft prägt und wie schwer es ist, die gläserne Decke zwischen den sozialen Schichten zu durchbrechen, auch in unserem Verhalten und Denken. Wanda ist dies bewusst, und sie kämpft immer wieder dagegen an.

Ein unerwartet tiefgründiger, bewegender Roman, dessen Ende mich mit gemischten Gefühlen zurücklässt, auch wenn es sehr passend ist. Für Wanda und die Handlung rund um das Hochhaus würde ich 5 Sterne vergeben, einen Stern ziehe ich ab für die Geschichte rund um die Schauspielerei, da sie mir zu stereotyp war.

Bewertung vom 18.02.2025
Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete
Maisel, Lukas

Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete


ausgezeichnet

Ich hatte bereits vor Jahren von Stanislaw Petrow gehört, der durch sein besonnenes Handeln den dritten Weltkrieg verhindert hatte, und war nun neugierig, Näheres über die damaligen Ereignisse und Petrows Leben zu erfahren.

Lukas Meisel zeichnet die Tage im September 1983 nach, in denen das Schicksal der Menschheit in den Händen von Stanislaw Petrow lag. Hierbei ist er sehr um ein wahrheitsgemäßes Bild von Petrow bemüht. Er sprach unter anderem mit Petrows Sohn und Kurt Schuhmacher, einem Bestatter aus Oberhausen, der Petrow zum Dank in Russland besucht und ihn auch nach Deutschland eingeladen hatte. Petrow selbst ist 2017 verstorben, und der Vorfall unterlag viele Jahre strengster Geheimhaltung.

Der Verlauf der Ereignisse zeigt, wie knapp damals die Welt einem Atomkrieg entging und auch, wie riskant es ist, sich blind auf technische Systeme zu verlassen. Hätte an diesem Tag nicht Petrow, der kurzfristig für einen erkrankten Kollegen einsprang, Dienst gehabt, würde möglicherweise keiner von uns heute existieren. Computersysteme, smarte Technologien und KI sind heute nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken. Petrows Geschichte sollte uns eine Mahnung sein, wie wichtig ist, diesen nicht die alleinige Kontrolle zu überlassen. Ein wacher, die einzelnen Faktoren besonnen abwägender menschlicher Verstand kann einen lebenswichtigen Unterschied machen.

Sehr lesenswert!

Bewertung vom 18.02.2025
Dienstmädchen für ein Jahr
Boo, Sigrid

Dienstmädchen für ein Jahr


ausgezeichnet

Da ich im letzten Jahr eine Vorliebe für skandinavische Literatur entwickelt habe, hat mich die Wiederentdeckung von Sigrid Boos „Dienstmädchen für ein Jahr“ von 1930 sehr neugierig gemacht.

Der Schreibstil hat mich gleich von Beginn an begeistert. Auch wenn das Buch fast 100 Jahre alt ist, liest es sich so frisch und lebendig, dass die Seiten nur so dahin fliegen. Die Ich-Erzählerin Helga hat gerade das Abitur in der Tasche. Als Tochter eines Fabrikdirektors gehört sie in ihrer Kleinstadt zur gehobenen Gesellschaft, den Haushalt versorgen Dienstmädchen, und sie ist durchaus verwöhnt, obgleich sich die Wirtschaftskrise auch bei ihrer Familie bemerkbar macht. Mehr oder weniger zufällig lässt sie sich im Freundeskreis während einer Diskussion darüber, ob „moderne junge Mädchen etwas taugten“, zu einer Wette hinreißen, und sie erklärt sich bereit, für ein Jahr inkognito als Hausmädchen in Dienst zu gehen.

Ihre Erlebnisse und Eindrücke schildert sie in 19 Briefen an ihre Freundin Grete. Diese lesen sich äußerst unterhaltsam, da Helga eine treffsichere Beobachterin ist, intelligent, eloquent und humorvoll, und auch über eine gute Portion Selbstironie verfügt. Auch wenn sie anfangs wenig Ahnung von Hauswirtschaft hat, arbeitet sie sich eifrig und schnell ein, und durch den Perspektivwechsel gewinnt sie Achtung vor dem, was die Hausangestellten täglich zu leisten haben. Das Jahr tut ihrer Persönlichkeitsentwicklung in jedem Falle gut, und sie sieht ihr altes Leben nun mit anderen Augen.

Trotz des überwiegend heiteren Grundtons werden im Roman auch die Probleme, mit denen die Dienstmädchen im Alltag konfrontiert sind, sichtbar. So wird in ihrer Gegenwart ungeniert über sie gesprochen, und man begegnet ihnen mit Misstrauen und Unterstellungen. Die Standesgrenzen sind zwar nicht mehr so scharf gezogen wie in den Jahrhunderten zuvor, jedoch noch immer vorhanden, und werden auch in diesem Roman nicht wirklich überwunden.
Ich habe dieses Buch in einem Rutsch gelesen und war beinahe traurig, als ich am Ende angekommen war – zu gerne hätte ich noch mehr über Helga, die mir im Laufe der Geschichte richtig ans Herz wuchs, erfahren.

Sehr interessant auch hinsichtlich der literarischen Einordnung ist das ausführliche Nachwort der Herausgeberin Nicole Seufert. Ich freue mich sehr, dass dieser wunderbare Roman wieder neu entdeckt wurde, und empfehle ihn allen, die Lust auf einen heitere, sprachgewandt verfasste Geschichte haben, die gleichzeitig einen interessanten Einblick in die norwegische Gesellschaft in den 1930er Jahren bietet. Sehr lesenswert!