Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Juti
Wohnort: 
HD

Bewertungen

Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 21.08.2022
Sortiermaschinen
Mau, Steffen

Sortiermaschinen


weniger gut

Im Westen nichts Neues

Eigentlich bin ich reingefallen auf ein Synonym. Sortiermaschinen ist nämlich nur ein anderes Wort für Grenze, also die Funktion einer Grenze.
Während nämlich innerhalb eines gewissen Raumes wie Schengen die Grenzen abgebaut wurden, wird außerhalb wie bei Trump mit Mexico von neuen Mauern geträumt. Da man im Mittelmeer keine Mauern errichten kann, fängt die europäische Grenzkontrolle schon im Niger in der Oasenstadt Agadir an. Das war wir vom Buch „Türsteher Europas“ aber bereits bekannt.

Das Beste an diesem Aufsatz ist die Abbildung 2 auf S.56. Dort werden Grenzen in die fünf Kategorien „Niemandsland“, „Grenzstein“, „Kontrolliert“, „Barriere“ und „fortifizierte Grenze“ eingeteilt.
Während es das Niemandsland in Europa gar nicht gibt, sondern der Grenzstein und die kontrollierte Grenze überwiegt, kennt man in Afrika und Amerika den Grenzstein nicht. Auch hier überwiegt wie in Asien „kontrolliert“. In Asien gibt es aber eine relativ große Anzahl der letzten beiden Kategorien.


Der Rest bot nur hin und wieder Neues, so dass ich nicht mehr als 2 Sterne rausrücken will. Das Büchlein war in der Shortlist irgendeines Preises. Ich verstehe, dass es zum Gewinn nicht gereicht hat.

Bewertung vom 18.08.2022
Vati
Helfer, Monika

Vati


ausgezeichnet

beeindruckende Familiengeschichte

Endlich habe ich das letzte Buch der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021 gelesen – in meinen Augen das beste. Das einzige Manko ist, dass es Helfers vorherigen Buch „die Bagege“ sehr ähnlich ist.

Es wird aber diesmal keine Außenseiterfamilie eines Dorfes behandelt, sondern der kriegsversehrte kluge Vater, der mit nur noch einem Bein ein Erholungsheim für Kriegsinvaliden auf einem Berg in Österreich leitet. Natürlich spielen auch die Mutter, die dem Vater die Heiratsfrage abnimmt und die Geschwister der Ich-Erzählerin eine Rolle, aber eben nur eine Nebenrolle.

Zentrales Element des Buches ist die Bibliothek des Hauses, die ein Professor für seinen Sohn eingerichtet hat, der als Mehrfachinvalide Sondergast des Heimes ist. Als die Besitzer des Heimes, ein Verein aus Tübingen, das Haus im Sommer wirtschaftlich als Hotel nutzen wollen, verschwendet die Bibliothek nur Platz und Vati muss seine geliebten Bücher evakuieren, weiß aber nicht, dass der Professor jedes einzelne Buch im Testament aufgelistet hat. Als das herauskommt und er als Dieb dasteht will er sich umbringen.

Dieses ist aber nur ein Teil des Buches, nicht erzählt habe ich von der Krebserkrankungen der Mutter und den vielen Onkel und Tanten. Das Werk endet, wie es sich für eine Biografie gehört, mit dem Tod des Vaters.

Wie ich schon anfangs sagte, hätte ich von den Büchern der Shortlist dieses den Buchpreis verliehen. Ich habe aber nichts zu sagen und so sind es „nur“ 5 Sterne.


Zitat: Wenn alle Stricke reißen, hänge ich mich auf. (Nestroy S.77)

Bewertung vom 12.08.2022
Bullshit Jobs
Graeber, David

Bullshit Jobs


weniger gut

Bull Shit Buch über Bull Shit Jobs

In seinem Vorwort schreibt Graeber, das Buch sei aus einem Essay entstanden, den er zum Thema Bull Shit Jobs verfasst habe und auf denen er viele Zuschriften erhalten und ausgewertet habe. Ich wünschte, ich hätte diesen Essay gelesen. Dann wären mir die über 400 Seiten erspart geblieben.

Der Autor wiederholt sich über weite Strecken. Vor allem beschreibt er erst, was in seinen empfangenen Briefen steht, um sie dann wörtlich zu zitieren.

Ganz Wissenschaftler braucht er drei Definitionen, bis er endgültig weiß, was Bull Shit Jobs sind. Und dann macht er fünf Schubladen auf, in denen er diese Jobs reinsteckt.
1. Lakaie, damit andere wichtig sind
2. Schläger, also aggressive Menschen, die von anderen angestellt werden
3. Flickschuster, die nicht existierende Probleme lösen
4. Kästchenankreuzer, die nur etwas tun, um nicht nichts zu tun.
5. Aufgabenverteiler, die nur anderen Arbeit zuweisen
Diese Unterschiede mögen zutreffen, doch wenn er dann diskutiert welcher Bull Shit Job in welche Kategorie fällt, dann frage ich mich, ob die Kategorien nicht helfen sollen einen Überblick zu schaffen, anstatt die Bull Shit Arbeit, sie noch in die Kategorie einzuteilen.

Was mich auch stört, dass der Autor bei seinen Nachfrage von sich als David spricht anstatt einfach „ich“ zu schreiben.

Etwa nach der Hälfte des Buches fängt er an über die allgemeine Arbeitswelt zu diskutieren und endet bei bedingungslosen Grundeinkommen. Ich bin ein Fan dieser Idee, doch dafür wäre ein zweites, neues Buch besser geeignet.


Nur wegen des wichtigen Themas und weil ich mit großflächigem Lesen bis zum Ende durchgehalten habe, erhält das Werk noch einen zweiten, also 2 Sterne.

Bewertung vom 05.08.2022
Die Enkelin
Schlink, Bernhard

Die Enkelin


sehr gut

Nationales Denken

Schlink muss man zu Gute halten, dass er in seinem neuen Buch verschiedene Themen verbindet. Als die Leserin anfangs denkt, dass mit Kaspar aus dem Westen und Birgit, einem Flüchtling aus dem Osten, eine deutsch- deutsche Liebesbeziehung beginnt, stirbt Birgit. Aus ihrem Nachlass erfahren wir ihre Lebensgeschichte.

Und so besteht der zweite aus der Suche nach der Tochter, die im rechten Milieu in Niedersachsen lebt. Auch sie hat eine Tochter, die Enkelin. Wie sie aufwächst und im rechten Gedankengebäude lebt, ist Teil des restlichen Romans. Kaspar nimmt eine Opposition dazu ein und fragt sich, wie weit er gehen darf, ohne die Beziehung zur Enkelin ganz zu verlieren.


Leider stellt mir der Autor zu viele Fragen, die beim Lesen ohnehin intuitiv aufkommen. Und ja der erhobene Zeigefinger hat gegen Ende eine Dauererektion. Dennoch gibt es zum Schluss interessante Wendungen und auch das interessante, gut recherchierte, Thema lassen 4 Sterne völlig berechtigt erscheinen.

Bewertung vom 29.07.2022
VERNICHTEN
Houellebecq, Michel

VERNICHTEN


gut

Gewohntes vom Skandalautor

Michel Houellebecq ist wohl schon eine Marke. Kein anderer beschreibt den Sex so freizügig. Doch wer ihn nicht zum ersten Mal liest, wird sich fragen, was er Neues zu bieten hat.

Natürlich geht es auch um Politik und das Frankreich immer mehr im europäischen Abendland verkommt. Doch bleibt dies ein Nebenschauplatz, auch wenn Hauptfigur Paul 2027 französischer Präsident werden will.

Das eigentliche Thema ist die Familie, der kranke Vater, der im Krankenhaus nicht von der Schwester gepflegt werden darf, weil sich die Gewerkschaft darüber beschwert. Das führt zu Lösungen, die ich nicht spoilern, will mit Folgen, die ich nicht verraten will. Am Ende landet selbst Paul im Krankenhaus, aber auch nicht verraten.


In den letzten Jahren habe ich alle Houellebecq-Bücher gelesen, im Sommer ist es auch ganz nett, doch diesmal fehlte es sehr an Handlung. Mehr als 3 Sterne wäre übertrieben.

Bewertung vom 20.07.2022
Trost
Engelmeier, Hanna

Trost


gut

Seltsame Preisträgerin

Als Heidelberger fühlte ich mich verpflichtet, die Gewinnerin des Clemens-Brentano-Preises kennenzulernen. Aber ich hätte ihr den Preis nicht verliehen.

Ihr Buch „Trost“ beschreibt in 4 sogenannten Übungen eigentlich nur vier andere Autoren, die sich auch mal mit Trost beschäftigt haben. So handelt die erst Übung vom Briefwechsel von Rainer Maria Rilke mit dem Leutnant Franz Xaver Kappus, dessen Briefe erst seit 2019 im gedruckten Briefwechsel aufgenommen wurden. Diese werden mit Briefen von Strayed in Englisch, ich will nicht sagen „verglichen“, aber doch in Beziehung gesetzt.

Das zweite Kapitel huldigt David Forster Wallace, der bei der Autorin wegen seines Bandana erst nicht gemocht wurde, das dritte Kapitel – vielleicht das beste – bringt die Religion und den Tod über Tante Hety mit ins Spiel. Dabei fehlt aber nicht die Literatur: Clemens Brentanos Gedicht „Eingang“. Sollte dieses Zitat den Preisgewinn rechtfertigen? Und dann noch Johanna von Orlean und Myles. Hexenglaube und Katholizismus (130). Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit Eiscafes, Eisdielen genannt, und Adorno.

Da lob ich mir den Epilog, der von einem sehr traurig winselnden Dackel vor einem Geschäft handelt, der aber sein ganzes Leid vergessen hat, als sein Herrchen aus dem Geschäft tritt.

Ich schwanke zwischen zwei und drei Sternen. In dubio pro reo.

Bewertung vom 19.07.2022
Die Jahreszeiten der Ewigkeit
Gauß, Karl-Markus

Die Jahreszeiten der Ewigkeit


sehr gut

politisches Tagebuch

Die kleinen Weisheiten des Autor sind ja ganz nett, lassen sich auch in der Sommerhitze gut lesen, aber man fragt sich am Ende, was man ohne dieses Buch vermisst hätte.

Ex-Jugoslawien ist die Antwort. Völlig zurecht bemängelt Gauß auf S.69, dass niemand von den Autoren der Ex-Weimarer Republik spricht. Mir ist das bisher nicht aufgefallen.

Vor allem seine Bemerkungen zur Sprache gefallen mir, etwa wie das Adjektiv „hold“ verschwand (91). Dann gibt es noch knackige Zitate wie: „Nirgends auf der Welt gibt es so viele Gegner der Europäischen Union wie in Europa“ (96) oder von Jiri Menzel: „Abgesehen davon, dass ich ein Genie bin, ist allzu große Bescheidenheit mein einziger Fehler.“ (305)

Weiter gefällt mir seine Beschreibung von bürgerlich, kommt aber zum Ergebnis, dass dieses bürgerliche Leben in postkommunistischen Staaten fehlt (153). Noch härter ist dieses Urteil: „Früher galt für politisch links, wer es mit den sozial Benachteiligten hielt. Heute hält sich für links, wer eine Abneigung gegen die Verlierer hegt.“ (155)

Angesichts der doch vielen Gründe für dieses Werk, habe ich mich für 4 Sterne entschieden.

Bewertung vom 12.07.2022
Bloodlands
Snyder, Timothy

Bloodlands


ausgezeichnet

Terror in Osteuropa

Es ist schwierig, ein Buch 10 Jahre nach seinem Erscheinen zu bewerten. Eigentlich hätte ich es vor Anne Apfelbaum lesen müssen, dann hätte sie einen Stern weniger bekommen. Den vieles vom roten Hunger der Kulaken steht auch schon hier.

Was mir aber so nicht klar war, dass die jüdischen Opfer der Nazis vor allem im Blutland lebten. Allein in der polnischen Stadt Lodz lebten so viele Juden wie in ganz Deutschland. Und die deutschen Juden konnten zwischen 1933 und 1939 noch das Land verlassen.

Grausam waren auch die Kriegsgefangenenlager der Nazis. Sie ließen ihren Opfern nur Platz zum Stehen und hungerten sie aus.

Auch wenn die FAZ schreibt, es gäbe wieder ein Vorgängerbuch, so ist es nur fair, auch diesem Buch 5 Sterne zu verleihen.

Bewertung vom 11.07.2022
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


ausgezeichnet

Der Münster-Tatort in Island

Nein, ein Krimi ist das nicht, zumal die aufklärende Polizistin nur eine Nebenrolle hat. Denn unser Held Kalmann ist eigentlich der Dorfdepp. Hinzu kommt, dass er immer zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Er hat nämlich die Blutlache des vermissten Robert gefunden. Wurde er von einem Eisbärs gefressen? Doch dann taucht seine Hand im Magen eines Haies auf.

Dann stirbt auch noch seine Fahrerin Magga und es stellt sich heraus, dass sie an einem Stück von Kalmanns Gammelhai erstickt ist. Nun aber genug gespoilert, denn insofern ist es doch ein Krimi: Das Ende ist überraschend.

Mir gefallen aber auch die kleinen Geschichten, die wenig oder nichts mit der Handlung zu tun haben, etwa Kalmanns Liebe zu Frauen, wenn er knallhart aufwacht oder wenn dem Vater der Ball des Kindes „fadengerade in die Eier“ (336) gekickt wird. Nicht zuletzt möchte ich auch Kleinigkeiten wie die Erinnerung an das abgelaufene Haltbarkeitsdatum im Dorfladen erinnern.


Joachim B. Schmidt ist wirklich eine Entdeckung. Von mir gibt es zum zweiten Mal 5 Sterne und das will schon etwas heißen.

Bewertung vom 01.07.2022
Stay away from Gretchen / Gretchen Bd.1
Abel, Susanne

Stay away from Gretchen / Gretchen Bd.1


sehr gut

Rassismus im Nachkriegsdeutschland

Ein Buch überzeugt immer dann, wenn die Leserin nachher klüger ist als vorher. Und was wusste ich von der amerikanischen Besatzung? Klar, dass viele Deutsche erstmals Schwarze sahen, die damals „Neger“ genannt wurden.

Auch bekannt war mir, dass es zu Liebesgeschichten zwischen deutschen Frauen und schwarzer amerikanischer Besatzung kam und es demzufolge auch Mischlingskinder gab. Dass aber diese Kinder ganz anders behandelt wurde als Weiße, ja dass sie sogar – angeblich zu ihrem eigenen Wohl – nach Amerika adoptiert wurden, war mir neu.

Die Darstellung der Besatzungszeit mit guten Ortskenntnissen in Heidelberg ist der Höhepunkt des Buches. Auch die Unterschiede zwischen sozialdemokratischer Gesinnung des Großvaters und des nationalsozialistischen Vaters überzeugt mich. So ist es für mich absolut plausibel, dass die Wiedersehensfreude nach der Kriegsgefangenschaft getrübt wird von der Liebesbeziehung Gretas zu einem „Neger“. Gretas Geschichte geht wirklich zu Herzen.

Der Charakter des Moderators Tom ist schwächer oder soll man sagen, dass das Oberschichtgehabe nicht gut in dieses Buch passt. Seine Dialoge und sein Denken ist aber plausibel, so dass man seine Alkoholexzesse auch überlesen kann.

Also insgesamt 4 Sterne. Eine kleine Anmerkung: Auf S.73 steht, dass der Lehrer am Tag nach dem Anschlag auf Hitler die Schülerinnen informiert. Aber muss das nicht der 21. Juli anstatt der 23. Juli sein? Ich vermute einen Druckfehler, aber in der 10. Auflage?!