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cosmea
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Witten
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Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 02.05.2020
Die Bagage
Helfer, Monika

Die Bagage


ausgezeichnet

Eine schwere Bürde
In „Die Bagage“ begibt sich die Autorin Monika Helfer auf die Spurensuche nach ihrer eigenen Herkunft. Die Geschichte beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts. Josef und Maria Moosbrunner leben am Rande eines Bergdorfs – räumlich und gesellschaftlich ausgegrenzt, denn sie sind sehr arm. Man nennt sie die „Bagage“, eine Anspielung auf den Beruf des Urgroßvaters, der für die Bauern Heuballen schleppte. Josef ist ein stattlicher Mann, mit dem sich niemand anlegt, Maria eine außergewöhnlich schöne Frau. Alle Männer des Dorfes begehren sie, die Frauen hassen sie. Als Josef zu Beginn des Ersten Weltkriegs eingezogen wird, gibt er Gottlieb Fink, dem Bürgermeister, der auch sein Partner bei etwas dubiosen Geschäften ist, den Auftrag, während seiner Abwesenheit auf seine Frau aufzupassen. Der Bürgermeister übernimmt die Aufgabe, wobei er seinen eigenen Vorteil nicht aus den Augen verliert. Er versorgt die Familie mit Lebensmitteln, wird aber öfter zudringlich. Bei einem Marktbesuch verliebt sich Maria in Georg aus Hannover, der sie zweimal besucht. Nach einem Fronturlaub von Josef wird Maria schwanger, und alle im Ort sind sich sicher, dass das Kind nicht von Josef sein kann. Alle wenden sich von Maria ab, und der Pfarrer und der Lehrer der Kinder beschimpfen sie öffentlich als Hure. Margarete genannt Grete wird als 5. Kind der Moosbrunners geboren. Als Josef 1918 aus dem Krieg zurückkehrt, erfährt er von den Gerüchten und glaubt seiner Frau nicht, dass Grete seine Tochter ist. Josef wird Grete niemals ansehen, ansprechen oder berühren.
Das Besondere an dieser Situation ist, dass Grete die Mutter der Autorin ist. Monika Helfer will ihre Herkunft kennen. Ihre Hauptinformationsquelle ist ihre Tante Katharina, die ihre Geschwister nach dem frühen Tod der Eltern betreute. Auch Grete starb früh, und wieder ist es die Tante, die ihre vier Kinder aufnimmt, als die Autorin 11 Jahre alt ist. Ihre Erinnerungen und Geschichten aus der Familie gibt sie allerdings erst gegen Ende ihres Lebens preis.
Die Autorin berichtet als Ich-Erzählerin, welche Bürde die Mitglieder dieser weitverzweigten Familie über Generationen tragen. Sie erzählt nicht streng chronologisch, sondern mit vielen Zeitsprüngen. Der kurze Roman, der auch die zum Teil von traurigen Ereignissen überschatteten Lebenswege von Gretes Geschwistern und deren Familien umfasst, sowie den tragischen Verlust ihrer eigenen Tochter Paula durch einen Bergunfall im Alter von 21 Jahren, ist sehr beeindruckend, nicht zuletzt durch die von Dialektausdrücken durchsetzte Sprache. Sie musste ihre Geschichte aufschreiben, um Ordnung in das Chaos zu bringen und die Erinnerung an all die Toten zu bewahren. Mir hat dieser zu Recht hochgelobte Roman sehr gefallen.

Bewertung vom 24.04.2020
VERGESSEN - Nur du kennst das Geheimnis
Douglas, Claire

VERGESSEN - Nur du kennst das Geheimnis


gut

Lügen und Geheimnisse
In Claire Douglas´ neuem Roman „Vergessen“ (Originaltitel „Do Not Disturb“, nicht „Then She Vanishes“) verlässt Ich-Erzählerin Kirsty, 35 mit ihrem Mann Adrian und den Töchtern Amelia, 11 und Evie, 6 London, um in ihrer alten Heimat Wales einen Neuanfang zu wagen, nachdem Adrian ein Jahr zuvor einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Die Familie hat mit Hilfe ihrer Mutter ein heruntergekommenes ehemaliges Pfarrhaus gekauft, um es unter großem Aufwand in ein Gästehaus zu verwandeln. Sie sind als Fremde nicht willkommen im Dorf, und der Anfang ist für alle sehr schwer. In der Eröffnungswoche kommen nicht nur die ersten Gäste, sondern auch Kirstys Kusine Selena, die sie seit ihrem 18. Lebensjahr nicht mehr gesehen hat, seit es unter sehr unerfreulichen Umständen zum Bruch kam. Kirstys Mutter, die all die Jahre Kontakt zu ihrer Nichte hatte, war bereit, Selena und ihrer 7jährigen Tochter Ruby Unterschlupf zu gewähren. Zwischen Kirsty und Selena kommt es zu einer allmählichen Annäherung, und alle kümmern sich liebevoll um die kränkelnde Ruby.
Diese erste Zeit verläuft allerdings nicht harmonisch und problemlos - weder für die Besitzer noch für die Gäste. Es passieren unerklärliche Dinge, und es wird so oft auf die negative Energie dieses Hauses hingewiesen, in dem in der Vergangenheit furchtbare Dinge passiert sind, dass ich schon eine Spukgeschichte befürchtet habe. Zu allem Überfluss gibt es eine Tote, und es sieht nicht nach einem Unfall aus. Die Polizei ermittelt. Nacheinander geraten fast alle Personen im Haus in Verdacht, von denen jeder Motiv und Gelegenheit hatte. Es kommen immer mehr Geheimnisse aus der Vergangenheit und Gegenwart ans Licht. Die Wahrheit kennen am Ende nur wenige Personen und der Leser. Der Plot wird zwar in der zweiten Hälfte des Romans spannender, weil man nach all den falschen Fährten wissen will, was passiert ist und warum, aber die Handlung wirkt dennoch zunehmend wirr und wenig plausibel. Die Autorin packt zu viel in diese Geschichte: Depression und Selbstmord, Erpressung, eine überbehütende Mutter, die zugleich eine pathologische Lügnerin ist, das Münchhausen-Stellvertretersyndrom, Missbrauch und Mord. Der fehlerhafte und irreführende Klappentext ist da auch nicht hilfreich. Nicht „die“ Wahrheit von damals kommt endlich ans Licht, sondern fast alle haben hier etwas zu verbergen, und manche Dinge dürfen auch am Ende nicht bekannt werden.
“Vergessen“ ist für mich kein Meisterwerk. Ich erinnere mich, dass mir „The Sisters“ vor Jahren wesentlich besser gefallen hat.

Bewertung vom 06.04.2020
Offene See
Myers, Benjamin

Offene See


ausgezeichnet

Herkunft ist kein Schicksal
Benjamin Myers Roman „Offene See“ spielt unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im Nordosten Englands. Der 16jährige Robert Appleyard hat eben die Schule abgeschlossen und will sich auf Wanderschaft begeben, ehe er unter Tage in seinem schmuddeligen kleinen Bergbaudorf arbeitet wie sein Vater und Großvater vor ihm. Er hat zwar nicht die geringste Lust dazu, aber das wird nun einmal von ihm erwartet. So macht er sich mit Rucksack und Schlafsack auf den Weg Richtung Meer, das er nur einmal bei einem Ausflug mit seinem Vater gesehen hat. Er verdingt sich unterwegs als Tagelöhner und bekommt dafür Verpflegung. Überall wird Hilfe gebraucht, weil die Männer entweder gar nicht oder an Leib und Seele beschädigt zurückgekommen sind. Robert hat ein Auge für die Landschaft seiner Heimat, für Flora und Fauna und das Licht über allem. Eines Tages stößt er durch Zufall auf das im Gestrüpp verborgene Cottage einer älteren Frau. Sie lädt ihn zum Essen ein, und er revanchiert sich mit Gartenarbeit und Renovierungsarbeiten in einer Hütte auf dem Grundstück. Robert bleibt wesentlich länger, als er eigentlich vorhatte. Schnell merkt er, dass Dulcie ein Geheimnis hat, über das sie zunächst nicht spricht. Ihre Begegnung verändert ihrer beider Leben für immer. Dulcie ist eine selbstbewusste, sehr wortgewandte Frau, die auch gelegentlich ausgesprochen vulgär werden kann. Sie lässt sich von niemand etwas vorschreiben und erkennt Autoritäten nicht an. Dulcie führt Robert an die Literatur, vor allem die Poesie heran und macht ihm deutlich, dass er das Recht hat, sein Leben zu leben, wie er will, und dass es keineswegs darum geht, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Auf ein Studium sollte er nicht deshalb verzichten, weil er aus einem bildungsfernen Milieu stammt. Auch Dulcie profitiert von der sich entwickelnden symbiotischen Beziehung, weil sie sich nach sechs Jahren endlich ihrer Trauer über den Verlust der geliebten Dichterin Romy Landau stellen und deren dichterisches Vermächtnis akzeptieren kann.
Myers Roman zeichnet in einer lyrischen Sprache das Bild einer Freundschaft zwischen zwei Menschen, die eigentlich alles trennt: Alter, Geschlecht und Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse. Genauso wichtig wie das Porträt dieser Freundschaft ist die Beschreibung von England in der Nachkriegszeit. Die Menschen sind schwer traumatisiert von der Kriegserfahrung und leiden Hunger. Viele leben in Angst vor dem nächsten Krieg und empfinden nur noch Trauer und Verzweiflung. Ich habe den dem neuen Trend „nature writing“ zuzuordnenden Roman sehr gern gelesen, nachdem ich mich an die ungewohnt barocke Sprache gewöhnt hatte. Der Autor lässt in einem Prolog und Epilog Robert als alten Mann auf sein Leben zurückblicken und konzentriert sich dabei auf das eine entscheidende Jahr des Erwachsenwerdens im Leben des jungen Robert, wie im Originaltitel “The Offing“ ein fließender Übergang wie der zwischen Himmel und Meer am Horizont, der auch als Metapher verstanden werden kann.

Bewertung vom 06.04.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


sehr gut

Der Verlust der Sprache
Michèle Seld, genannt Michka ist zu alt, um noch allein in ihrer Wohnung zu leben. Die junge Marie, um die sich Michka liebevoll gekümmert hat, als sie ein Kind war und unter schwierigen Verhältnissen aufwuchs, beschafft ihr einen Platz in einem Heim. Michka fällt die Umstellung auf den streng reglementierten Heimbetrieb schwer. Ihr größtes Problem ist jedoch der Verlust der Sprache. Immer wieder fällt ihr im entscheidenden Moment das treffende Wort nicht ein und sie benutzt ein ähnlich klingendes, was zu unfreiwilliger Komik führt und oft unverständlich ist. Diese Entwicklung ist besonders schmerzlich für die alte Frau, weil sie ihr Leben lang im Verlagswesen gearbeitet hat und Sprache immer ihr Werkzeug war. Diese Entwicklung kann auch Jérôme, ihr Sprachtherapeut nicht aufhalten. Michka hat noch eine Sache im Leben zu erledigen: Sie sucht nach dem Paar, das ihr in ihrer Kindheit das Leben gerettet hat, als ihre Eltern deportiert wurden. Ihre Suche mit Hilfe von Annoncen war bis dahin erfolglos, weil sie nur die Vornamen kennt. Jérôme, der eine tiefe Beziehung zu dieser Patientin aufgebaut hat, unterstützt sie bei ihrer Suche.
In diesem sehr berührenden Roman zeigt die Autorin, wie wichtig mitmenschliches Verhalten ist. Wir müssen Dankbarkeit und Zuneigung zeigen und dürfen damit nicht warten, bis es zu spät ist.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl frühere Werke, z.B. Ich hatte vergessen, dass ich verletzlich bin oder Das Lächeln meiner Mutter mich noch mehr beeindruckt haben.

Bewertung vom 05.04.2020
Das wirkliche Leben
Dieudonné, Adeline

Das wirkliche Leben


ausgezeichnet

Der Jäger und seine Beute
In Adeline Dieudonnés hochgelobtem und vielfach ausgezeichnetem Debütroman „Das wirkliche Leben“ (“La vraie vie“) geht es um eine besondere Familie, die in einer hässlichen Siedlung in einer belgischen Vorstadt lebt. Ein Haus gleicht dem anderen, und dennoch ist dieses eine Haus anders als alle anderen. Die 10jährige Erzählerin und ihr Bruder Gilles, 6, haben einen gewalttätigen Vater, der drei Dinge im Leben liebt: die Großwildjagd, Fernsehen und Whiskey. Die Mutter der Kinder, von der Tochter als Amöbe bezeichnet, wird von ihrem Mann immer wieder schwer misshandelt und verletzt. Sie wehrt sich nicht, hat nur noch Angst. Die Kinder verstecken sich in ihren Zimmern, machen sich unsichtbar. Das Verhältnis der Geschwister ist sehr eng. Sie spielen im verbotenen Zimmer mit den ausgestopften Tierkadavern oder in kaputten Autos auf einem Schrottplatz. Eines Tages passiert etwas Schreckliches, und Gilles verändert sich völlig. Er verliert sein Lachen und wendet sich von seiner Schwester ab. Sein Vater bildet ihn zum Schützen aus, und der kleine Junge droht genau so blutrünstig und gewalttätig zu werden wie sein Vater. Seine Schwester versucht, eine Zeitmaschine aus einem kaputten Auto zu bauen, um in der Zeit zurückzugehen, das furchtbare Ereignis ungeschehen zu machen, damit ihr Bruder das wirkliche Leben führen kann und das Böse - symbolisch dargestellt von einer Hyäne im Kadaverzimmer - nicht völlig von ihm Besitz ergreift. Auch das Mädchen ändert sich, weil sie zur Kämpferin wird. Als sich herausstellt, dass sie überdurchschnittlich begabt im naturwissenschaftlichen Bereich ist, nimmt sie Privatstunden bei einem Physikprofessor, wodurch sie schnell ein erstaunliches Niveau erreicht. Sie gerät allerdings durch ihren überragenden Intellekt in den Fokus ihres Vaters und muss sich vor seiner Aufmerksamkeit schützen. Ihr Vater hat eines Tages die perfide Idee, sie bei einem nächtlichen Jagdspiel mit zwei weiteren Männern und drei Jungen, darunter Gilles, zur Beute zu machen. Bei der gnadenlosen Jagd durch den dunklen Wald wird sie erheblich verletzt, wodurch sie zum ersten Mal so etwas wie Liebe und Fürsorge von ihrer Mutter erfährt. Die Dinge eskalieren und steuern unausweichlich auf eine Katastrophe zu.
Die Handlung erstreckt sich über fünf Jahre. Das Mädchen ist 15, verliebt sich und hat ihr erstes sexuelles Erlebnis. Sie verliert keinen Augenblick ihre Ziele aus den Augen: dem Bruder das Lächeln zurückzugeben, sich nicht zur wehrlosen Beute machen zu lassen, nicht das Leben ihrer mutlosen Mutter zu wiederholen. Der kurze Roman über dieses besondere Erwachsenwerden ist packend erzählt, aber überwiegend sehr düster und ziemlich grausam. Die Geschichte aus dem Horrorhaus erinnert an die grausamsten Märchen der Gebrüder Grimm. Der Tod ist allgegenwärtig. Dennoch verdient dieses Buch die Beachtung, die es bekommen hat, auch weil es überzeugend häusliche Gewalt gegen Frauen thematisiert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.03.2020
Die Geheimnisse meiner Mutter
Burton, Jessie

Die Geheimnisse meiner Mutter


sehr gut

Der lange Weg zum Licht
In Jessie Burtons neuem Roman „Die Geheimnisse meiner Mutter" geht es im Wesentlichen um zwei Generationen von Frauen, aber auch allgemein um Rollenbilder und feministische Themen. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen: 1979-1983 und 2017-2018.
Die 20jährige Elise Morceau begegnet eines Tages in Hampstead Heath im Londoner Norden der berühmten Schriftstellerin Constance Holden. Die beiden Frauen kommen sich näher, haben eine leidenschaftliche Beziehung. Die deutlich ältere Constance genannt Conny ist sehr dominant, und die junge Elise kann sich ihrem Einfluss nicht entziehen. Sie begleitet die Freundin nach Los Angeles, wo iner ihrer Romane mit der glamourösen Schauspielerin Barbara Lowden verfilmt wird. Elise fühlt sich nicht wohl. Sie wird von allen übersehen, die nur die Berühmtheiten im Blick haben. Eifersucht und Verrat führen zum Bruch. Später lebt Elise mit dem verheirateten Drehbuchautor Matt in New York und bekommt ein Baby. Sie hat aber so große psychische Probleme, dass sie sich weder in dieser Beziehung noch in der Mutterrolle wohlfühlt. Eines Tages verschwindet sie spurlos, und lässt ihre nicht einmal 1jährige Tochter Rose zurück. Matt zieht sie allein auf. Rose hat ihre Mutter nie gesehen und weiß fast nichts über sie.
2017 ist Rose 34 Jahre alt und lebt seit fast neun Jahren mit ihrem Freund Joe zusammen. Sie hat nie aufgehört, sich zu fragen, was damals mit ihrer Mutter passiert ist und beschließt, sie zu suchen. Sie hat das Gefühl, in ihrem bisherigen Leben nichts erreicht zu haben und erst dann sinnvolle Entscheidungen treffen zu können, wenn wie ihre Vergangenheit kennt. Ihr Vater erzählt ihr zum ersten Mal von Constance Holden, die die letzte war, die damals ihre Mutter gesehen hat. Begünstigt durch einen Zufall nimmt Elise unter dem Namen Laura Brown eine Stelle bei Constance Holden, die nunmehr in den 70ern wegen körperlicher Gebrechen Hilfe braucht. Zum Beispiel zum Tippen ihres ersten Romans seit 30 Jahren. Elise hofft, auf diese Weise an Informationen über ihre Mutter zu kommen. Die beiden Frauen kommen, ohne dass es zunächst neue Erkenntnisse gibt. Weder spricht Constance über ihre Vergangenheit, noch kann das Manuskript als Schlüssel zu den damaligen Ereignissen dienen. Im Laufe der Zeit begreift Elise, dass ihre Suche eine zweifache ist: nach der verschwundenen Mutter und nach der eigenen Identität. Sie verändert sich und trifft weitriechende Entscheidungen, die sie als Befreiung aus dem Dunkel begreift, als Wendepunkt in ihrem Leben.
Der gut lesbare Roman schneidet viele Themen an, zum Beispiel Mutterschaft und Kreativität, die Selbstfindung von Frauen, Freundschaft, Liebe und Verrat. Die Charakterisierung der Frauenfiguren ist der Autorin hervorragend gelungen, wohingegen die Männer durchweg etwas blass bleiben. Mit hat das Buch trotz einiger Längen gut gefallen, auch wenn das halboffene Ende nicht alle Fragen des Lesers beantwortet.

Bewertung vom 29.03.2020
Beute / Bennie Griessel Bd.7
Meyer, Deon

Beute / Bennie Griessel Bd.7


sehr gut

Mord oder Selbstmord?
In „Beute“, dem neuen Roman von Deon Meyer, überträgt Kolonel Mbali Kaleni von der Eliteeinheit Valke ihren Mitarbeitern Captain Bennie Griessel und Captain Vaughn Cupido einen ungelösten Mordfall, an dem andere Ermittler gescheitert sind. Sie müssen diskret ermitteln, denn die Sicherheitsbehörden haben den Fall zum Selbstmord deklariert und die Akte geschlossen. Was war passiert? Johnson Johnson genannt J.J., ein ehemaliger Polizist, arbeitete zuletzt als Sicherheitsberater und begleitete eine Holländerin auf ihrer Fahrt in einem Luxuszug. Dann wurde seine Leiche mit einer Stichwunde im Nacken neben den Gleisen gefunden. Etwas später gibt es einen weiteren Toten. Menzi Dikela, der Vater von Kalenis Freundin Thandi, wurde erschossen aufgefunden. Thandi glaubt, dass es Mord war und nicht Selbstmord und bittet ihre Freundin inständig zu ermitteln. Kolonel Kaleni riskiert ihre eigene Karriere und die ihrer Mitarbeiter, als sie den Fall heimlich untersuchen lässt.
Parallel zu den Geschehnissen in Südafrika gibt es einen zweiten Handlungsstrang in Frankreich. Der ehemaliger Freiheitskämpfer Tobela , der sich unter dem Namen Daniel Darret in der Nähe von Bordeaux zur Ruhe gesetzt hat, bekommt Besuch von seinem ehemaligen Mitstreiter Lonnie, der ihn im Auftrag einer neuen Organisation von alten Kämpfern bittet, den Präsidenten des Landes bei seinem Besuch in Paris zu töten, da er der beste Scharfschütze von allen ist. Daniel Darret weigert sich anfangs, kann sich dem dringenden Appell, das Erbe Mandelas zu retten und der Kleptokratie unter dem amtierenden Präsidenten, der sein Land an indische Milliardäre und ausländische Mächte verkauft, nicht lange widersetzen. Es gilt, die bedrohte Demokratie zu retten und der allgegenwärtigen Korruption ein Ende zu machen.
In diesem raffiniert konstruierten Roman bewegen sich beide Handlungsstränge bis zur Auflösung am Ende aufeinander zu. Wie in seinen anderen Büchern legt Meyer einen kenntnisreichen, gut recherchierten Thriller vor, in dem auch Bennie Griessels private Situation immer wieder zur Sprache kommt, denn Bennie will endlich seiner großen Liebe Alexa einen Heiratsantrag machen und fürchtet, abgewiesen zu werden. Der detailreiche Roman ist nicht immer leicht zu lesen und hat im Mittelteil ein paar Längen. Dennoch zeigt Deon Meyer auch hier wieder, dass er der beste Autor Südafrikas ist und vermittelt tiefe Einblicke in die Geschichte und gegenwärtige Situation des Landes. Eine sehr lohnende Lektüre.

Bewertung vom 25.03.2020
Pandora / Stein und Wuttke Bd.1
Amber, Liv;Berg, Alexander

Pandora / Stein und Wuttke Bd.1


ausgezeichnet

Berlin im Jahr 1948
“Pandora“, der Debütroman von Amber & Berg, spielt im Jahr 1948 im zerstörten Berlin. Hans-Joachim Stein, der mit seinem Vater 1933 nach England emigrierte, ist nach Berlin zurückkehrt und erkennt es nicht wieder. Der bei Scotland Yard ausgebildete Deutsche arbeitet nach einem kurzen Zwischenspiel im Osten bei der neu gegründeten Mordinspektion West, während sein Vater, ein strammer Kommunist, im Osten Karriere macht. Von seinem Kollegen Max Wuttke und seinem Vorgesetzten Curt Krüger wird er mit viel Argwohn aufgenommen. Vor allem Krüger möchte den „Tommy“ so schnell wie möglich wieder loswerden. Stein sieht zufällig eine Akte auf seinem Schreibtisch, wo es um fünf tote Frauen geht. Ihm wird strikt untersagt, in diesem Fall zu ermitteln und Befragungen durchzuführen. Stein wird sofort misstrauisch. Da wird etwas vertuscht. Kommissar Wuttke soll ihn offensichtlich bespitzeln und alle Informationen an den Chef weiterleiten. Sympathisch ist nur die junge Schreibkraft Lore Krause, die sich in der Folge immer wieder in die Ermittlungen einmischt. Dann wird der Schieberkönig Braunke im Bordell Pandura ermordet aufgefunden. Die Leiche ist mit rotem Kopierstift beschriftet. Weitere Morde passieren, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Immer wieder sabotiert Kriminalrat Krüger die Ermittlungen und will den Zusammenhang verschleiern. Jede(r) beliebige Verdächtige ist ihm Recht, Hauptsache die alten Seilschaften schützen die alten Nazis und ermöglichen ihr Verbleiben im Amt. Der unbestechliche Stein durchschaut schnell, dass Verbrechen aus der Nazizeit hinter den Taten stehen und jemand dafür Rache nimmt, denn Gerechtigkeit ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Zu viele Nazis sind trotz der Nürnberger Prozesse und der offiziellen Entnazifizierung noch in Amt und Würden. Stein und Wuttke, die inzwischen kollegial miteinander umgehen, lassen sich von ihrem Chef nicht einschüchtern und lösen den Fall.
Amber & Berg haben einen spannenden und sehr gut recherchierten Roman geschrieben, ein Geschichtsbuch in Krimiform. „Pandora“ thematisiert nicht nur entsetzliche Naziverbrechen, sondern vermittelt auch einen sehr präzisen Eindruck vom Nachkriegsberlin mit seiner Zerrissenheit, dem Mangel an Wohnraum und Nahrung und dem erbitterten Gegeneinander von West und Ost. Als Leser freut man sich auf die Fortsetzung nach dem vielverspechenden Auftakt der Serie.

Bewertung vom 23.02.2020
Ein wenig Glaube
Butler, Nickolas

Ein wenig Glaube


sehr gut

Was kann und darf der Glaube
Im Mittelpunkt von Nickolas Butlers drittem Roman steht eine Familie, die nach friedlichen und glücklichen Jahren eine schwere Krise durchlebt. Lyle und Peg, Mitte 60, leben in einer Kleinstadt im ländlichen Wisconsin an der Grenze zu Minnesota. Sie konnten nach dem Tod ihres Sohnes Peter im Alter von 9 Monaten keine weiteren Kinder bekommen und adoptierten drei Jahre später das Mädchen Shiloh. Shiloh war immer schwierig und verließ das Elternhaus direkt nach dem Schulabschluss. Jahre später kehrt sie mit ihrem 5jährigen Sohn Isaac zu den Eltern zurück. Lyle und Peg sind sehr glücklich, Shiloh und den liebenswerten kleinen Jungen bei sich zu haben. Shiloh hält ihre Eltern noch immer auf Abstand, aber die Situation verschärft sich, als sie in die Fänge einer Sekte gerät und dem charismatischen Prediger Steven verfällt. Ihrer Tochter zuliebe besuchen die Eltern die Gottesdienste in einem ehemaligen Kino und ertragen stundenlange mit Inbrunst vorgetragene Predigten. Der dubiose Steven ist den Eltern nicht nur als Schwiegersohn, sondern vor allem deshalb nicht geheuer, weil er das Kind zum Heiler deklariert und für seine Zwecke instrumentalisiert. Kritisch wird es, als Isaac während eines Wochenendes bei den Großeltern an Diabetes erkrankt. Shiloh gibt dem Vater die Schuld. Durch seinen Unglauben sei er vom Teufel besessen und habe seinen Enkel krank gemacht. Lyle darf Isaac nicht mehr sehen. Die Dinge steuern unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu.
Butler zeichnet das Bild einer engen dörflichen Gemeinschaft, wo jeder jeden seit der Kindheit kennt, wo Freude und Schmerz geteilt werden und Hilfe nie verweigert wird. So steht Lyle dem Freund Hoot bei, der unter Krebs im Endstadium leidet und pflegt engen Kontakt zu seinem alten Freund Charlie, dem Pastor der lutherischen Gemeinde. Die Hochschätzung von Freundschaft, Gemeinschaft und Familie bildet einen starken Kontrast zu dem religiösen Fanatismus der Sektenanhänger, die um ihrer Ideologie willen das Leben von Menschen gefährden. Immer wieder werden Glaube und Zweifel thematisiert, so dass auch der Leser seine eigene Einstellung dazu überprüft. Am Ende gibt es einen dramatischen Höhepunkt mit halboffenem Ausgang, den jeder je nach persönlicher Einstellung für sich deuten kann.

Bewertung vom 23.02.2020
Milchmann
Burns, Anna

Milchmann


weniger gut

Schwierige Zeiten
In Anna Burns Roman “Milchmann“ steht eine namenlose 18jährige im Mittelpunkt, die in einem katholischen Viertel vermutlich von Belfast aufgewachsen ist. Die im Roman beschriebenen Ereignisse spielen sich Ende 1979 in einem Zeitraum von etwa zwei Monaten ab. In dieser Zeit gerät das Leben der Protagonistin völlig aus den Fugen. Eines Tages heftet sich Milchmann, ein 41jähriges hochrangiges Mitglied der IRA, an ihre Fersen, obwohl er verheiratet ist und sie ihm ausweicht. Doch der Stalker lässt nicht locker und droht ziemlich direkt, ihren Vielleicht-Freund, mit dem sie seit fast einem Jahr eine Art Beziehung hat, mit einer Autobombe zu töten. Tratsch und Klatsch gedeihen in dieser Gemeinschaft, zumal ihr eigener Schwager für die Verbreitung der Gerüchte sorgt. Man dichtet ihr schnell eine Affäre mit dem Milchmann an und beschimpft sie als Schlampe. Nicht einmal die eigene Mutter glaubt ihr. Im übrigen hat es ohnehin keinen Sinn, irgendwelche Erklärungen abzugeben, sich zu verteidigen, denn in diesen Zeiten gehört es zur Überlebensstrategie, nichts von sich preiszugeben, nicht aufzufallen und schon gar nicht, die Aufmerksamkeit der gewaltbereiten Extremisten auf beiden Seiten auf sich zu ziehen. Die junge Frau befindet sich in einer ausweglosen Situation, resigniert.
Was macht diese Situation so brisant? Ebenso wenig, wie irgendjemand einen Namen hat, werden die zeitgenössischen Fakten präzise benannt. Ende 1979 dauern die Troubles, die bürgerkriegsähnlichen blutigen Unruhen in Nordirland, bereits seit 12 Jahren an. Es ist ein gnadenloser Kampf zwischen der protestantischen Mehrheit, die den Verbleib im Vereinigten Königreich wünscht, und der katholischen Minderheit, die für die Vereinigung mit der irischen Republik kämpft. Auf beiden Seiten gibt es paramilitärische Einheiten, die immer wieder mit blutigem Terror Schlagzeilen machen. Die Zivilbevölkerung sympathisiert mit ihren eigenen Leuten, auch wenn sie selbst nicht militant ist. Und dann sind da noch die englischen Soldaten, die Polizei und jede andere als Obrigkeit betrachtete Organisation, die die katholischen Bürger fürchten müssen. Da ist keine Kooperation erlaubt. Andernfalls werden sie als Denunzianten verdächtigt und von den IRA-Mitgliedern – im Roman Verweigerer genannt -- grausam bestraft. Beliebt war Verprügeln, das Zerschießen der Kniescheiben und natürlich Mord.
Die Autorin zeichnet ein trostloses Bild dieser Epoche, die erst 1998 nach 30 Jahren mit dem Karfreitagsabkommen ein Ende fand. So interessant das Thema ist, gefällt mir nicht, dass man den Roman nur mit Hintergrundkenntnissen versteht, dass die Geschichte in einer derartigen epischen Breite und einer wahrscheinlich nicht nur in der Übersetzung furchtbaren Sprache abgehandelt wird. Endlose Schachtelsätze werden aneinandergereiht, seitenlang gibt es bei dem in nur sieben Kapitel unterteilten Buch keinen einzigen Absatz. Ein so sperriges Buch habe ich selten gelesen.