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Benutzername: 
LindaRabbit
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Freiburg
Über mich: 
Leseratte erster Klasse!

Bewertungen

Insgesamt 248 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2021
Die letzte Tochter von Versailles
Stachniak, Eva

Die letzte Tochter von Versailles


ausgezeichnet

Versailles 1755, Paris 1789

Versailles 1755. Es fehlen nur noch wenige Jahrzehnte (1789) bis zur Französischen Revolution. In Frankreich verarmt die Bevölkerung zunehmend, während der Adel die Reichtümer des Landes verprasst.
Ludwig, der 15., nimmt sich seine Geliebten wie es ihm passt, rücksichtslos. Denn es geht ja nur um ihn und seinem Lustgewinn. Als Feudalherr kann er das. (Die königlichen Hunde werden besser behandelt als seine Bettgefährtinnen, die sich das Ganze aufzwingen lassen müssen. Heute würde man dazu 'Vergewaltigung' sagen). Bald gibt es auch einen Begriff für diese jungen Frauen - die Hirschpark Mädels. Es sind blutjunge Schönheiten aus dem einfachen Volk. Doch sobald sie schwanger sind mit königlichen Bastarden wird solch einer jungen Frau das Kind weggenommen. Man entlohnt sie gut für ihre königlichen Dienste - aber das war's!

Hintergrund zum Roman ist eine höchst turbulente Zeit in Frankreich (die bis heute das Land prägt - liberte-egalite-fraternite). Am Beispiel von Veronique, aus einer verarmten Familie ohne Vater, wird gezeigt wie sie schutzlos zum Spielball wird. Ihr Kind wächst mutterlos heran und die Revolution naht mit Siebenmeilen Schritten.

Wie ergeht es nun einem königlichen Bastard? Denn Verbindungen zur Aristokratie sind nicht gern gesehen, egal wie sie zustande kamen. (Gerne in Romanen ein Thema, ein aristokratisches Findelkind.... siehe 'Kaspar Hauser')

Paris, 1789
Eine Frau rennt einem Wagen hinterher, der Mann auf dem Wagen (auf dem Weg zum Schafott) schaut zu ihr hin, beobachtet sie. Der letzte Liebesbeweis!

Versailles, 1755
Eine ärmliche Familie, Vater tot, Witwe klagend, einzige Tochter muss alles machen, drei Söhne, die nur herum toben. Die Tochter wird mehr oder weniger verkauft. Frauenschicksal im 18. Jahrhundert.

Es ist ein Sittenbild einer Zeit, in der die Menschen rechtlos waren, eine Frau nichts galt und die Revolution von Männern gemacht war, die sich selbst gegenseitig umbrachten (die Revolution frisst ihre Kinder).

Stil: Sehr wortgewaltig mit interessanten Metaphern:
Z.B. im Prolog - Paris 1793, der Morgen ist frisch, der Himmel eierschalenblau… (wie sieht ein Eierschalen blauer Himmel aus?).
Madame Guillotine ist nicht schnell genug…

Das Buch ist hochspannend! Schwer aus der Hand zu legen, das Lesen verursacht gemischte Gefühle: Wut auf diejenigen, die andere respektlos und wie ihr Eigentum behandeln. Freude über diejenigen, die viel Liebe und Zuneigung den gebeutelten Menschen zeigen. Gleichzeitig fühlt man durchaus auch Mitleid mit den schlimmen Charakteren - sie sind ebenfalls nur Spielball im Gespinst der Intrigen und Machtgelüsten. Ein König war nicht wirklich frei, denn er war starren Regeln unterworfen, umgeben von Menschen, die ihn kontrollierten. Nur ein willenstarker Mensch konnte sich diesem Spinnennetz entziehen.
Die Autorin zeichnet die unterschiedlichen Charaktere im Buch sehr feinsinnig. Auffallend jedoch, dass diese Menschentypen auch heute noch existieren.

Buchumschlag: Ein luxuriöses weißes Kleid an einer jungen Frau im Spiegelsaal von Versailles. Spricht eine Leserschaft an, die an Historischem interessiert ist

Eine englische Originalausgabe erscheint 2022, School of Mirrors, Penguin Random House Canada. Die deutsche Erstausgabe erschien im Insel Verlag 2021.

Bewertung vom 20.11.2021
Das Buch der verschollenen Namen
Harmel, Kristin

Das Buch der verschollenen Namen


ausgezeichnet

Die Meisterfälscherin und ihr Schicksal
Eva Traube ist eine gute Fälscherin und sie verhilft jüdischen Kindern dadurch zu einer neuen (sicheren) Identität. Es gibt zwei Stränge im Buch: Der Hauptstrang ist die Geschichte der jungen Eva, in den Vierzigerjahren. Der zweite Strang ist derjenige von 2005, der älteren Eva, die einen wichtigen Teil ihres Lebens bisher versteckt hielt. 2005 sieht eine Bibliothekarin zufällig einen Artikel mit einem Foto über ein Buch… ihr Buch…Das Buch hat sie zuletzt 1945 gesehen… 60 Jahre später fliegt Eva deswegen nach Berlin und in einer dramatischen und emotionalen Weise schließen sich die zwei Stränge zu einem Ganzen.

Nach einer wahren Geschichte… Der Fakt, dass jüdische Kinder mit gefälschten Dokumenten gerettet wurden, fand sich bereits in Zeitungsartikel wieder. Doch die Rolle, die einige Franzosen als Mitläufer:innen und in der Vichy - Regierung einnahmen, ist noch nicht genügend beschrieben. Dagegen kann die Rolle der tapferen ‚resistance‘ nicht ausreichend genug wertgeschätzt werden und auch dass ganz normale Leute mitgemacht haben (die stillen Held:innen).

Stil: Leicht lesbar, emotional, aufwühlend
Dieses Buch wollte ich unbedingt, denn – eine mutige junge Frau, Nazi-Zeit, Frankreich, jüdische Menschen und ihre Flucht - genügend Stoff für einen spannenden Roman. Nicht nur erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange verharren, sondern aktiv werden. Genau mein Ding!

Ein sehr emotionales Buch, Eva hat meine größte Bewunderung und zum Schluss liefen Tränen der Rührung. Der Charakter der Mamusi jedoch hat mich aufgeregt – literarisch ein guter Kniff. Doch eben auch mit realem Hintergrund: Wie viele Mütter reden ihren Kindern schlechtes Gewissen ein und ‚missbrauchen‘ sie eigentlich? Überhaupt sind sehr geschickte Wendungen im Ablauf der Geschichte von der Autorin eingebaut worden. Einige Charaktere sind äußerst sympathisch, andere dagegen – vor allem der Verräter – zerren an den Nerven.

Ein sehr schönes Titelbild, eine junge Frau hält ein Buch hinter ihren Rücken – der Buchumschlag erinnert an Märchen, Fantasy, orientalische Geschichte…dabei soll es ein christliches Buch darstellen (das Buch mit den ‚Codes‘ über die Namen der Kinder).

Die Lektüre des Romans ist mehr als empfehlenswert! Eine Hommage an die Menschlichkeit.

Bewertung vom 12.11.2021
Operation Babel
Wortmann, Roger

Operation Babel


ausgezeichnet

Bagdad und das Spiral-Minarett von Samarra

Der Journalist Henning Lauritz hat ständig Visionen von übelsten Kriegsszenen, sie überfallen ihn nachts, aber auch schon tagsüber. Er war noch nie in einem Kriegsgebiet.

Unerklärlicherweise erhält Henning den wichtigsten Journalistenpreis seiner Branche. Dabei ist er doch aussortiert worden, besser gesagt, kaltgestellt worden, weil er ein investigativer Journalist ist und intensiv zu HIV Aids recherchiert hat. Das gefiel nicht allen, deutlicher noch, es gefiel kaum jemanden. Also hatte er plötzlich keinen Broterwerb mehr.

Sein erstes Buch war über seine eher ungewöhnliche Art der Zeugung. In vitro. Ein Fremdspender gab seinen Samen, um damit eine Eizelle zu befruchten, die dann seiner Mutter eingepflanzt wurde (also genetisch war er mit keinem seiner beiden Eltern verwandt). Das erfuhr er aber erst mit zwölf Jahren, als sein Vater dringend Hilfe eines Blutverwandten brauchte und seine Mutter einen Schlaganfall erlitt. Aus dem nachfolgenden Koma erwachte sie nicht mehr. Plötzlich Vollwaise und plötzlich die Erkenntnis, dass seine Eltern nicht seine Eltern waren, stürzte für Henning zuerst einmal alles zusammen. Deswegen reiste er nach Texas (wo er ‚entstand) und recherchierte. Dieses Buch machte ihn berühmt und brachte ihm viel Geld ein. Und doch bereits damals stieß er an Grenzen. Und auch sonst ging einiges in seinem Leben schief. Das brachte ihn an den Abgrund, Alkohol, Drogen, unbändiger Sex.

Nun steht er also vor Cosima de Burnes, die ihm bei der Verleihung zuflüstert, dass er sich gefällig zusammenreißen soll. Sein Lebensmensch Peter Sämann und dessen Liebespartner sind bei der Verleihung dabei. Ehemalige Arbeitskollegen, die ihn bislang schnitten, kommen jetzt wieder auf ihn zu. Was so ‚fünfzehn Minuten Ruhm’ ausmachen... Auch ein Kollege, mit dem er früher ganz gerne zusammenarbeitete, spricht ihn an, will ihn am nächsten Tag treffen. Obwohl dieser auf die Dringlichkeit des Treffens hinwies, erscheint er jedoch nicht. Man findet ihn tot, erstickt an einem Stück Sachertorte. Schließlich ist man ja in Wien. Und alles hängt irgendwie mit Bagdad zusammen...

Warum ein Journalist sich leichtfertig in gefahrvolle Situationen begibt, ist ungewöhnlich (sagt ein Schreiberling mit Erfahrungen in Kriegsgebieten). Aber natürlich ist das für die Dramatik des Buches von besonderer Bedeutung. Also wird mal von Rügen abgesehen...(kein Verweis vom Presserat für vorsätzliche Gefährdung, mit einem Zwinkern in den Augen).

Was jedoch erfolgt im Roman ist ein Feuerwerk an Ereignissen, der eher ungewöhnlichen und unglaublichen Art. Hier passiert so viel, dass der lesende Mensch das gar nicht glauben mag. (Und doch könnte ein Körnchen oder gar ein ganzer Felsenblock Wahrheit in diesem Roman stecken). Auf jeden Fall spielt der Roman mit Dingen, die heutzutage (leider) nicht unvorstellbar sind. Larry Beinhart in ‚American Hero’ hat es in den 90ern bereits vorgemacht. Es gibt Dinge, die sind unglaublich. ‚Embedded journalists‘ und Edward Snowdon …, und sie passieren tatsächlich.

Sprachlich liest sich das Buch großartig, dazu die schnelle Abfolge von Ereignissen. So dass man gar nicht großartig merkt, dass es an die 750 Seiten sind, die man dabei ist heftigst durchzulesen.

Zitat: „Manchmal kann sich auch ein Engel nach Babel verirren“ (der Turm zu Babel steht für sprachliche Verwirrung). Und bald folgt ‚Nullort’, ein neues Buch von Roger Wortmann, dem wortgewaltigen Wortmann.

Das Umschlagsbild ist sehr modern gestaltet: in Rot, auffallend, rote Pixel, die aus Babal Babel Babel bestehen, durch die das Minarett von Samarra (spirale of Samarra) scheint. Optimal passend zum Inhalt, denn es ist nichts wie es scheint…

Bewertung vom 10.11.2021
Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher
Rygiert, Beate

Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher


ausgezeichnet

Rosalie

Beate, Rygiert (als Autorin bereits bekannt für gut geschriebene Lektüren)
Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher

Eines der wichtigsten deutschen Verlagshäuser: Der Ullstein – Verlag, gegründet von einer jüdischen Familie. Die Geschichte um Rosalie und Franz - Franz verliebt sich, nach dem Tod seiner ersten Frau, in die schillernde Rosalie, eine selbstbewusste Frau. Eine starke Frau. Doch die Brüder von Franz sind gegen diese Verbindung. Berlin in den Goldenen Zwanzigern
Eine zarte Liebesgeschichte, die jedoch sich nicht gegen Intrigen halten kann...

Beate Rygierts Schreibstil ist fesselnd, die Autorin nimmt den Lesenden an die Hand und führt durch das Romangeschehen. Wobei sie ihre Charaktere (z.B. Rosalie Gräfenberg, selbstbewusst und intelligent) auch scharfsinnig ihre Umgebung beobachten lässt. Zuweilen lässt Frau Rygiert fein dosierten Humor einfließen: Seite 70 „Frau Böß beugte sich interessiert vor, und Rosalie hatte Sorge, ihr ausladender Busen könnte Bekanntschaft mit dem Rest Soße auf ihrem Teller machen“.

Das Umschlagsbild ist angenehm gestaltet: In zarten Farben, passend zu den Zwanziger Jahren, befinden sich jeweils zwei schöne, verführerische Frauen in eleganter Abendkleidung auf die linke und rechte Seite drapiert. Mittig ein historisches Bild des alten Berlins. Auffallend für jeden an Historie interessierten Leser.

Und schön, dass sich der Ullstein – Verlag sich seiner eigenen Verlagsgeschichte stellt!
Macht Spaß den Roman zu lesen, gleichzeitig ist man auf einer Zeitreise

Bewertung vom 08.11.2021
Das ewige Glas (Glas-Trilogie Band 3)
Hentschel, Heiko

Das ewige Glas (Glas-Trilogie Band 3)


ausgezeichnet

Wuppernder Boogelbie, Kinderentführender Nachtalp, Dämonen- und Monsterjäger

Ein Ritt durch 300 Jahre von Prag, 1501, bis nach Prag, so um 1800 herum, mehr oder weniger. Ein Roman über Freundschaft zwischen jungen Menschen, Älteren und Kreaturen, die Uneingeweihte vielleicht Monster nennen würden. Und natürlich Baba Jaga!
Es geht darum jemanden zu helfen, der anderen selbstlos geholfen hat und deswegen in eine äußerst missliche Lage geraten ist.

„Das Ewige Glas“ von Heiko Hentschel ist der dritte Band der Glas-Reihe: Das Hungrige Glas, Das Flüsternde Glas und nun Das Ewige Glas, wo es um Monsterjäger und Magie geht. Jüngere und auch ältere Fantasy Leser kommen voll auf ihre Kosten. Auch wenn jedes Buch für sich alleine gelesen werden kann, die Geschehnisse in den anderen Büchern haben sehr viel Einfluss auf die Hauptcharaktere: Das Geschwisterpaar Brenner, Moritz und Konstanze, und das Geschwisterpaar van Lichtholm, Edgar und Helene. In dezenten Rückgriffen am Anfang vom Ewigen Glas und in den Kapiteln dazwischen erklären sich einige Charaktere, die einem Neuling nicht unbedingt bewusst sind.

Durch spannende Abenteuer, risikoreiche Handlung und Aktionen führen die Hauptfiguren über 361 Seiten ihre Leserschaft in eine kreative Fantasiewelt. Hier ist dem Autor ein wirklich ansehnliches Jugendbuch für Jugendliche ab 12 bis 100+ gelungen. Selbst die Glossare am Ende des Bandes sind lesenswert, nicht nur um den Text zu verstehen, sondern auch die Wortschöpfungskraft des Autors zu bewundern.

Heiko Hentschel vermag sehr gut zu schreiben, einleuchtende Sätze, zudem seine Kreativität, auch unter Einarbeitung historischem Wissen
Zitat: Louis, der Junge, der irgendwann auftaucht und seine geduldige Mutter: "Was man aus Liebe tut, ist niemals falsch..." Es steckt so viel Weisheit in diesen Worten. Wenn man jedoch bei Hausarbeiten bereits vor sich murmelt und Boogelbie sagt, dann hat wohl der Autor so richtig seine Fantasie in die Leserin verpflanzt.

Das Titelbild von 'Das Ewige Glas' so etwas von aufregend. Der von Furcht niedergedrückte Jüngling auf dem Boden, die Ratten hinter ihm. Das Geistwesen, was über allem thront, sieht so entsetzlich aus... der Zugriff scheint sicher zu sein...Das Ganze in diesem knalligen Rot, was den Augen keinen Ausweg lässt als sofort mitten ins Geschehen zu springen. Die grünen Einsprengsel (Geist, Jüngling, Ratten) was sich im Lesebändchen wiederholt, akzentuiert ganz großartig. Wunderbares Layout!

Bewertung vom 08.11.2021
Kommissar Gennat und der Anschlag auf den Orientexpress (eBook, ePUB)
Stürickow, Regina

Kommissar Gennat und der Anschlag auf den Orientexpress (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Die Eisenbahnanschläge Jüterbog bei Berlin & Biatorbagy in Ungarn

Ein Junge, der sich als blinder Passagier im Gestänge eines D-Zuges versteckt (D steht für einen Durchfahrenden Zug, also einem Schnellzug). Ein Reisender, der muffig ist und nicht reden will. Ein Zug, der kurz vor Berlin (in Jüterbog) mit einer Detonation zum Stehen gebracht wird und acht Waggons entgleisen lässt. Letzteres beschäftigt natürlich die Berliner Polizei massiv. Dazwischen – wir befinden uns im Jahr 1931 der Weimarer Republik – geht es um die politische Situation vor Ort: Die braunen Horden gegen die Kommunisten. Und ein real existierender Kommissar Ernst Gennat in Berlin, der anders Fälle untersucht als bis dato üblich war. Auf 300 Seiten entwickelt sich eine Geschichte, bei der verschiedene Stränge zusammengebracht werden müssen, bevor sie in die Abgründe des oder der Täter(s) führen.

Ein Krimi ist kein Thriller. Während es im ‚Thriller’ rasant zugeht, dass einem die Spuke wegbleibt und so viele Ereignisse eintreten, die höchst unwahrscheinlich sind, greift ein Krimi eher in das pralle Leben. Er spricht vom ganz normalen Leben, von deinem und von meinem. Und doch passieren in diesem normalen Leben ebenfalls Dinge, die ungewöhnlich sind, aber eben ‚normaler’, vielleicht... Kommissar Gennat ist Berlins bekanntester Kriminaler (zumindest war er es in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts): In der Zwischenzeit geriet er in Vergessenheit, trotz seiner besonderen Art der Ermittlung und der Neuordnung der Polizeieinheiten, Neuerungen die heutzutage selbstverständlich sind. Regina Stürickow sei Dank, sie (und einige andere) hat den Kriminaler wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Dem Himmel sei Dank, denn die Autorin schreibt großartige Krimis, die sich lesen wie das Leben selbst, nur eben durchsetzt mit dem Bösen. So wie im wahren Leben auch. Bei Stürickow bekommt man Schritt für Schritt die Ermittlungen mit (was nicht nur Lissy, die Frau von Max Kaminski, Reporter, fasziniert, sondern auch die Berliner Öffentlichkeit und selbst die Polizei). Sie hat mehrere Sachbücher sowie Romane über Gennat geschrieben. Er ist ein ungewöhnlicher Ermittler, Vorbild für einige Kommissare in der Nachkriegszeit; er ist ein verfressenes Dickerchen, beliebt bei Hunden und Kinder (in dieser Reihenfolge).

Der real existierende und hoch anerkannte Kriminalrat Ernst Gennat lebte von 1880 bis 1939. Der beschriebene Fall ist einem tatsächlich passierten Fall nachempfunden. Auch auf andere Fakten macht die Autorin aufmerksam; so dürfte den Wenigsten heutzutage bekannt sein, dass in Österreich für einige Zeit Links- und Rechtsfahrzonen existierten. Und auch der Orient-Express ist nur noch als Buchtitel bekannt.
Autorin Regina Stürickow ist eine Meisterin im Schreiben. Von der ersten bis zur letzten Seite versteht sie es den Leser oder Leserin mitzunehmen. Ein genussvolles Lesen der sanften Aufregung in gewählter Sprache.

Das Umschlagsbild zeigt auf der unteren Hälfte, passend zum Titel, eine Eisenbahnbrücke mit einem abgestürzten Waggon (es ist ein Originalbild von dem Eisenbahnanschlag von Biatorbagy). Der obere Teil ziert ein kleine Fotografie von Gennat und in rot ‚Kommissar Genna’. Die rote Signalfarbe lockt Krimifans.

Bewertung vom 03.11.2021
Babylons Vermächtnis
Black, Joe

Babylons Vermächtnis


ausgezeichnet

Historische Goldmünzen aus den alten Hafenruinen vor Alexandria mit einer unerwarteten Symbolik. Mysteriöse Schriftrollen aus dem siebten Jahrhundert in Syrien. Diese Entdeckungen verbinden sich zu einer höchst abenteuerlichen Jagd durch Geschichte und Gegenwart. Bald werden die Forscher zu Gejagten. Durch verschiedene Länder in Nahen Osten flüchten die Gesuchten. Schatzräuber und Kriminelle jagen ihnen nach. Die Funde der geheimnisvollen Goldmünzen mit verwirrender Prägung locken unterschiedliche Gruppen an, jede Absicht an die Funde zu kommen unredlicher als die andere. Nicht nur Altertumsforscher, sondern auch Menschen, die nicht an der Aufdeckung der Münz-Geheimnisse interessiert sind, aus war für Gründen auch immer.

Die Tiefwasserforscher an der ägyptischen Küste vor Alexandria suchen nach Kontakt mit den Forschenden in Israel und in Syrien (natürlich spielen auch Liebesgeschichten eine Rolle). Expert:innen unterschiedlicher Epochen und Wissenskenntnisse verbinden sich über Ländergrenzen hinweg. So sollte Wissenschaft sein: Jeder bringt ein, was sie wissen oder können.
Schaffen es die Hauptfiguren, Konstantin Nikolaidis und Ilana Shaik, – unter den widrigsten Umständen – am Leben zu bleiben? Dieses Schicksal teilen sie mit einigen im Roman auftauchenden Personen. Manche bleiben auf der Strecke, gemeuchelt von gewissenlosen Tätern. Den Verfolgern geht es nur um ihre ureigenen Interessen. Die gesamte Region des Nahen Ostens ist erschüttert durch Bürgerkriege. Die Forscher:innen werden in die Kriegsgeschehnisse eingezogen. Überstehen sie das Schlimmste?

Der Autor Joe Black zeichnet sich durch intensive Nachforschungen zum Thema aus. Seine Recherchen umfassen den gesamten Nahen Osten (den er auch aus eigenem Erleben kennt, wie er im Nachwort schreibt). Mit viel Fleiß brachte er eine ungeheure Menge an historischen Fakten zusammen (Templer, die Orden der Kreuzzüge und ihre Verfolgung; Katharer; die persischen Könige, um nur einige zu nennen).

Während der Einstieg etwas verwirrend ist mit dem schnellen Szenenwechsel von einem Land in das andere (Ägypten, Syrien, Israel, USA, Schweiz) ohne noch die genaue Stoßrichtung zu kennen, nimmt das Geschehen im Zweiten Teil rasant an Tempo zu. Für den Einstieg braucht es etwas Geduld und erst im Laufe der Geschichte enthüllt sich was der rasante Szenen-Wechsel am Anfang zu bedeuten hat. Danach wird der historische Thriller zu einem der Superklasse. Das Buch bietet sich an, mindestens zweimal zu lesen: Zuerst, um dieser dynamischen Geschichte voller unglaublicher Ereignisse zu folgen und sich mitnehmen zulassen auf der Reise durch den Nahen Osten und die Historie. Zum zweiten Mal, um die einzelnen historischen Begebenheiten auf sich wirken zu lassen und den Gedanken freien Fall zu gewähren, um sich auf etwas ganz Neues einzulassen.

Wenn ein Autor das vermag, den lesenden Menschen auf etwas Neues einzustellen, dann hat er eigentlich sein Ziel erreicht: Er unterhält mit vielen erkenntnisreichen Lesestunden, er übermittelt seine Gedanken und er regt dazu an, sich über das bekannte Weltgeschehen hinweg mitreißen zu lassen, um auf neue Ideen zu kommen …. Es könnte ja sein, dass…

Wer genial und intelligent unterhalten sein möchte, sollte sich diesen Leckerbissen nicht entgehen lassen!

Bewertung vom 03.11.2021
Drei Lebende, drei Tote
Jorjoliani, Ruska

Drei Lebende, drei Tote


ausgezeichnet

Ruska Jorjoliani: Drei Lebende, drei Tote

Das erste Drittel (Erster Teil) handelt vom Alltag eines Ehepaares, beide sind Lehrkräfte. Wie es scheint haben sie sich nicht besonders viel zu sagen und jeder der beiden hat außereheliche Affären. Doch dann erreicht dieser Brief Modesto, der ihn verunsichert und der ihn auf den Kopf stellt. Auf einmal benimmt er sich nicht mehr transusig, sondern wird aufmüpfig. Im Lehrerzimmer sagt er seine Meinung, nach der Kinovorstellung sagt er seine unverblümte Meinung, er kauft sich unmögliche Stiefel, und er sagt auch seiner Frau die Meinung. Schließlich nimmt er seinen Koffer und verschwindet in der Nacht. Ein kleines Glas mit einem in Formalin eingelegten Fötus spielt eine große Rolle im Leben dieses Ehepaares (eine Fehlgeburt, die beide beschäftigt). Die Frau ist erneut schwanger, doch erzählt dies nicht ihrem Gatten, nur ihrem Geliebten. Sie weiß nicht, von wem das Kind ist.

‚And now it begins‘: Der Zweite Teil beginnt lebendig, in den Bergen bei den Feldjägern. Vor allem sind es äußerst starke Beschreibungen von Kriegserlebnissen, wie man sie selten liest. „Der Wind verpasst ihm eine Ohrfeige“ (beim Öffnen der Tür), „im regelmäßigen Takt eines teuflischen Spiels“, eine Frau wäscht sich „die Finger, die …ihre Reise begannen, tauchten plötzlich unter dem Hintern auf, um dann erneut in der Furche zwischen den Beinen zu verschwinden … kleine leicht schattierte Wölbung, kompakt wie eine Muschel...“ Es sind Wortverbindungen wie diese, die an das literarische Können der Autorin erinnern. Man braucht Geduld zum Lesen des Büchleins. Es sind nur 233 Seiten, aber die sind gepackt voll mit Beschreibungen der nicht alltäglichen Art (im Zweiten Teil). Dazwischen in einem Intermezzo werden mögliche Verfasser des anonymen Briefes vorgestellt. Der Dritte Teil dagegen bringt den ersten und den zweiten Teil zusammen.

Die italienisch-georgische junge Autorin ist ein neues Talent in der literarischen Welt. Sie schreibt vom Krieg (Ersten und Zweiten Weltkrieg) und den Partisanen in Italien. Der Titel des Buches 'Drei Lebende, drei Tote' ist unglaublich intensiv. Tote kommen in dem Buch mehr als drei vor.

Das Umschlagsbild ist äußerst eigen und auffallend: Der anerkannte Fotograf Sergei Mikhailovich Prokudin – Gorski hat monochromische Aufnahmen experimentell zusammengefügt. Das Bild stammt von 1905 aus einer fotografischen Sammlung.

Dieser Roman ist Literatur, auf die man sich einlassen muss. Weniger etwas für die schnelllebige Zeit, sondern für das besinnliche Nachdenken.

Bewertung vom 03.11.2021
Das Kind mit der Knarre (eBook, ePUB)
Kleiber, Katja

Das Kind mit der Knarre (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Junger Afghane in Frankfurt

Gegendemo der Antifa… es kracht wie üblich, wenn die Antifa aufmarschiert. Und meistens sind Rechtsextreme oder das 'Establishment' das Ziel. Einer sagt, das Recht ist so, dass die auch demonstrieren dürfen. Gleichzeitig fliegt ein Molli in ein Asylantenheim (Rechtsextreme, heißt es, hätten den Molli geworfen). Antifa – Anhänger kümmern sich um Wahid, dessen jüngerer Bruder nach dem Brandanschlag starb. Wahids Onkel, der schon seit längerem in Deutschland lebt und eine Autowerkstatt hat, verschafft dem jungen Afghanen innerhalb von Minuten einen Job (in der Imbissbude eines anderen Afghanen). Sandy ist Privatermittlerin (mangels eines anderen Berufes) und soll Wahid suchen, der aus seinem Heim abgehauen ist und nicht mehr zum Deutschunterricht kommt. Freya, die Freundin von Sandy, bekommt eine Drohmail ‚Du Anwaltsfotze‘, unterschrieben mit NSU 2.0. Da wird also noch einiges passieren (ohne zu spoilern).

Katja Kleiber schrieb bereits einige Bücher und sie lebt in Frankfurt. Das heißt, sie kennt den Ort. Wenn sie Antifa – Leute reden lässt, dann reden die von ‚Bullen‘; der Afghane redet von den ‚Ungläubigen‘ und verbessert sich dann ‚Christen‘. Auch Aziz, der Onkel in der Autowerkstatt, redet von Ungläubigen und Besatzern (die in Afghanistan sind). Autorin Katja Kleiber schreibt ein Buch zum Zeitgeist: Da ist die Sprache von Flüchtlingen, die in einem Heim leben; da wird demonstriert und auf die Polizei geschimpft. Jeder lebt so in seinem Umfeld und schafft es nicht über die Nasenspitze zu schauen.

Leicht lesbarer Stil, außer dass ich immer wieder über die Begriffe ‚Bullen‘ oder ‚selber schuld, wenn man so einen Beruf wählt‘ (Steinewerfer) stolpere. Sehr provokant geschrieben ... ‚Die Bullen geben sich doch keine Mühen, wenn ein Ausländer verschwunden ist‘… immer wieder wird man mit Vorurteilen konfrontiert. Dabei ist doch die Detektivin in einen ‚Polizistenfreund‘ vernarrt. Wahid hat den Rauchmelder ausgeschaltet (Raucher)! Im Schlaf bemerkt man den tödlichen Rauch nicht. Ich möchte nicht wissen, wie viele das tun. S.70… der schwärzeste Mensch, der mir je begegnet ist – ein Somali (Somali sind nicht die Schwärzesten, sie sind eher arabisch heller, es gibt die Blauschwarzen - die Niloten, die sind richtig dunkelschwarz, z.B. Luo, Tuareg, Dinka, Nuer). ‚Da ist so eine Schlampe, die dich sucht!‘ (Der Kurde aus dem Heim zu Wahid). ‚In Afghanistan war es normal, dass jemand einem anderen Menschen das Leben nahm….

Der Roman ist gut beschrieben und man kann ihn flüssig lesen. Das Umschlagsbild ist rot auffällig, ein Mainhattan Wolkenkratzer (passt in die Reihe der bereits geschriebenen Krimis von Katja Kleiber). Der Titel ist ungenau: Das Kind mit der Knarre – Wahid ist irgendwie um die 18 (genau weiß er es selber nicht, sein Bruder war 15)… schon lange kein Kind mehr, nicht mal Jugendlicher, er sieht sich als Erwachsener. Aber der Titel ‚Das Kind mit Knarre‘ passt gut zu den andern Krimis von Katja Kleiber: ‚Der Prof mit dem Sarg‘, ‚Der Anwalt ohne Hose‘, ‚Der Banker mit dem Stöckelschuh‘.

Bewertung vom 01.11.2021
Die Insel Katara
Rothenbächer, Kerstin Stefanie

Die Insel Katara


sehr gut

Hexe Magissa, Fusselbirnen und Froschaugen

Froschaugen gegen Fusselbirnen. Auf der Insel Katara gibt es Nördlingen und Südlingen. Dazu noch die fiese Hexe Magissa, die schürt Fluch und Streitigkeiten. Man kennt es gar nicht anders auf der Insel, dass sich eben die Nördlinger mit den Südlinger prügeln. Der Schaden auf beiden Seiten ist immens, doch keiner will klein beigeben. Und so hat die fiese Hexe Magissa leichtes Spiel, indem sie alle einschüchtert und selbst die klügsten Köpfe ins Zittern bringt. Bis die Erkenntnis sich breit macht: Wir müssen gegen die Hexe vorgehen. So gilt es tausend Abenteuer zu bestehen und alle, die mitmachen, werden stärker und stärker und sie bestärken sich gegenseitig nicht aufzugeben.

Nach ständigen Streitereien merken die beiden bisher verfeindeten Gruppen, dass es doch besser ist gemeinsam gegen ihren Feind vorzugehen. So lernen sich die Nördlinger und die Südlinger besser kennen und merken, aha, die sind gar nicht so anders als wir. Zum Schluss haben die Begriffe ‚Froschauge’ und ‚Fusselbirne’ keinen Wert mehr für die Nördlinger und Südlinger.
Zwischen diesem neuen Erkenntnisstand befinden sich fast 600 Seiten aufregender Abenteuer für Kinder und jung gebliebene Erwachsene (oder diejenigen, die gerne Kinder vorlesen).

Stil: Das Buch spricht mit mir. Die Autorin spricht im Text direkt in der zweiten Person Singular die Leserschaft an. Ich denke, das kommt bei Jugendlichen gut an, man fühlt sich so richtig in die Geschichte einbezogen. Kerstin Stefanie Rothenbächer schreibt in einfacher Jugendsprache, "da ist halt einiges ganz fies". Die wichtige Erkenntnis ist jedoch, hält man zusammen gegen den gemeinsamen Feind, dann ist man stärker und bezwingt den Feind, in dem Fall die böse Hexe Magissa.
Das Titelbild ist etwas zu schlicht für den voluminösen Umfang des Buches und den interessanten Inhalt. Ein paar Gegenstände fliegen durch die Luft. Wäre das Buch im Buchhandel zu finden, dann müsste ein etwas schillerndes Titelbild gebastelt werden, damit es auf dem Büchertisch auffällt. (Vielleicht für die zweite Auflage, z.B. Froschaugen und Fusselbirnen auf das Titelbild)
Die Autorin ist sehr kundenorientiert: Sie hat ein süßes Buchpäckchen gerichtet mit Kugelschreiber (Insel Katara), Lesezeichen, einer netten Uhu-Klammer und persönlicher Widmung. Da meine Nichte Katara heißt, habe ich mir das Buch gewünscht für sie. Katara bekommt ‚die Insel Katara’ zu Weihnachten und wird vielleicht dann die erste Rezension in ihrem Leben schreiben.
Ich wünsche dem Buch viel Erfolg!

Die Insel Katara, Kerstin Stefanie Rothenbächer
BoD, books on demand Norderstedt, 2021
Jugendbuch