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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 04.03.2022
Kaiserstuhl
Glaser, Brigitte

Kaiserstuhl


ausgezeichnet

Brigitte Glaser ist in Südbaden verwurzelt, und so ist es nicht überraschend, dass sie sich in ihrem neuen Roman „Kaiserstuhl“ die jüngere Geschichte dieser Region genauer anschaut, von der es nur ein Katzensprung auf die französische Seite ist.

Das benachbarte Elsass hat eine wechselhafte Geschichte, war schon immer ein Spielball der Mächte, mal zu Frankreich, mal zu Deutschland gehörend. Im Zweiten Weltkrieg annektieren die Nationalsozialisten 1940 das Elsass und schließen es mit Baden zusammen. Widerstand auf französischer Seite ist kaum auszumachen, es gibt nur wenige Resistance-Gruppen, die auch noch gnadenlos verfolgt und zerschlagen werden. Erst 1944 wird das Elsass unter Mitwirkung der Alliierten zurückerobert und fühlt sich auch seither Frankreich zugehörig.

1959 wird Charles de Gaulle Präsident der Republik. Während seiner Amtszeit setzt er alles daran, die Aussöhnung von Deutschland und Frankreich voranzutreiben und diese durch einen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag (= Élysée-Vertrag, im Januar 1963 von de Gaulle und Adenauer unterzeichnet) zu besiegeln.

Zur Feier dieses historischen Ereignisses soll nach erfolgter Unterzeichnung mit einem 1937er Champagner mit einer ganz speziellen Geschichte angestoßen werden, von dem es nur noch eine Flasche gibt. Diese ist jedoch verschwunden, und hier verbindet sich die große Weltpolitik mit dem Schicksal der Freiburger Weinhändlerin Henny und dem elsässischen Cineasten Paul, ihrem sitzengelassenen Ex-Verlobten, der damit beauftragt wird, diesen Champagner aufzuspüren. Aber es gibt noch andere „Interessenten“ mit weniger hehren Motiven, mit denen sie sich herumschlagen müssen, denn offenbar birgt die Flasche ein brisantes Geheimnis.

Aber natürlich agieren die beiden auf der Suche nach dem edlen Tropfen nicht im luftleeren Raum. Wir erfahren etwas über deren gemeinsame Vergangenheit, über die Familiengeschichten der Protagonisten, über in der Vergangenheit getroffene schlechte Entscheidungen, die bis in die Gegenwart Schuldgefühle verursachen.

Positiv überrascht hat mich die Entscheidung der Autorin, die Atmosphäre der sechziger Jahre nicht durch die überbordende Nennung von Konsumartikeln zu veranschaulichen. Ihr Fokus richtet sich auf die kulturellen Veränderungen, die langsam aber sicher von Frankreich nach Deutschland überschwappen und den Mief der Nachkriegsjahre vertreiben. Hier kommt es ihr natürlich zupass, dass Paul ein glühender Fan der Nouvelle Vague ist und uns Leser*innen durch die Nennung der Titel immer wieder Filme, Regisseure und Schauspieler aus dieser Zeit ins Gedächtnis gerufen werden.

Ein vielschichtiger Roman, in dem Historisches gekonnt in unterhaltsame Fiktion verpackt ist und der dennoch nicht platt daherkommt. Empfehlenswert, vor allem für Leser*innen rechts und links der Grenze.

Bewertung vom 02.03.2022
Boom Town Blues
Dunne, Ellen

Boom Town Blues


ausgezeichnet

Nach „Schwarze Seele“, dem zweiten Band mit Patsy Logan, hatte ich schon die Befürchtung, dass die Luft aus dieser Reihe raus wäre. Aber weit gefehlt, mit „Boom Town Blues“ hat sowohl die forsche Ermittlerin als auch deren Schöpferin Ellen Dunne zurück zu alter Stärke gefunden.

Patsy ist weg. Zumindest vorübergehend. Weg aus München, weg vom LKA, weg aus der kriselnden Ehe, die an all dem Unausgesprochenen zu ersticken droht. Offiziell drei Monate Bildungskarenz, gefühlt aber ein Reset, um sich darüber klar zu werden, wie es weitergehen soll. Dublin und ihre Cousine Sinéad scheinen die richtige Wahl. Aber die Auszeit soll nicht lange währen, denn während eines Essens in der Residenz des österreichischen Botschafters bricht die Tochter des stellvertretenden Hauptgeschäftsführers der Bayerischen Handelskammer zusammen und stirbt. Offenbar wurde sie vergiftet, aber wer könnte ein Interesse am gewaltsamen Tod einer deutschen Praktikantin haben?

Ein Anruf aus München setzt Patsy davon in Kenntnis, dass um Amtshilfe gebeten wurde. Gemeinsam mit Sam Feurstein, dem österreichischen Attaché, soll sie die irischen Kollegen bei ihren Ermittlungen unterstützen, was von diesen allerdings nicht unbedingt freudig begrüßt wird. Und als ob das noch nicht genug wäre, tritt auch Ben Ferguson, den wir bereits aus dem Vorgängerband kennen, auf den Plan. Eine Konstellation, die Probleme verspricht. Oder? Zumal sich während der Ermittlungen herausstellt, dass der Fall weitaus komplizierter als anfangs vermutet ist.

Bereits der Einstieg lässt vermuten, dass wir es hier nicht mit einem 08/15 Krimi zu tun haben, der dem typischen Irland-Klischee mit grünen Wiesen, glücklichen Kühen und trinkfesten Bewohnern entspricht, und in erster Linie ist das der literarischen Form geschuldet. Die Story wird nicht linear erzählt, der aktuelle Fall immer wieder von einzelnen Ausflügen in die jüngere politische Vergangenheit der Insel unterbrochen, die vor allem im privaten Bereich gravierende Auswirkungen hat.

Kurzer Einschub: Vielleicht erinnert sich ja noch jemand an die Finanzkrise 2008, die dem nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs prosperierenden „Celtic Tiger“ die Zähne gezogen hat. Die Wirtschaft liegt am Boden, das Bruttoinlandsprodukt stürzt ab, die Arbeitslosenzahlen steigen in ungeahnte Höhen. Und während von Regierungsseite großzügige Rettungsschirme für die Banken aufgespannt werden, lässt man Privatleute ungebremst ins offene Messer laufen. Durch Immobilienkäufe verschuldet, können Kredite nicht mehr bedient werden, unzählige Menschen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz.

Der Autorin gelingt der Spagat, diese Realität anschaulich und informativ (aber nie dozierend) zu beschreiben und mit einer spannenden und in der Gegenwart schlüssig verankerten Krimihandlung zu verbinden, in der auch Patsys Privatleben und das dazu passende Irlandfeeling nicht zu kurz kommt. Ich erinnere nur an das „erfrischende“ Bad in der Irischen See. Und natürlich gibt es da ja auch noch immer das Fragezeichen in der Familiengeschichte der Protagonistin, was das Schicksal ihres toten/verschwundenen (und ev. mit der IRA verbandelten) Vaters angeht.

Eine gelungene Fortsetzung der Reihe, mit der die Autorin alles richtig gemacht hat und an der es nichts rumzumäkeln gibt. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung der Reihe. Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 01.03.2022
Sturmvögel
Kárason, Einar

Sturmvögel


ausgezeichnet

Als die 32köpfige Besatzung des Fischtrawlers Mávur von Reykjavik aus zu den Fanggründen vor Neufundland aufbricht, ist jedem der Männer bewusst, dass ihre Arbeit auf See Gefahren birgt. Aber Island Wellen und Wind gehören zu ihrem Leben dazu, und wenn am Ende der Fahrt der Lohn ausgezahlt wird, ist alles wieder vergessen.

Einar Kárason bezieht sich in seinem schmalen Roman „Sturmvögel“ auf ein historisches Ereignis, das im Februar 1959 mehr als 200 Seeleute das Leben kostete. Auf 140 Seiten schildert er den Überlebenskampf der Männer, die vor der Küste Neufundlands im wahrsten Sinn des Wortes kalt erwischt werden. Die Fangquote ist gut, die Tanks gefüllt, als der Trawler in einen Wintersturm gerät, der ihnen alles abverlangt. Meterhohe Brecher treffen die Mávur mit Wucht, die Beladung macht das Manövrieren fast unmöglich, das Wasser bleibt auf dem Deck stehen, gefriert durch die extreme Kälte. Eisschichten auf Netzen, Körben und Winden. Mit Hammer, Axt und Schraubenschlüsseln gegen das Eis, übermüdet, durchgefroren bis auf die Knochen, immer der Gefahr ausgesetzt, mit der nächsten Welle von Bord gespült zu werden. Kein sicherer Halt. Ein verbissener Kampf gegen den eisigen Tod.

Die Rettung kann nur gelingen, wenn persönliche Befindlichkeiten hintenan gestellt werden, wenn Hand in Hand als Kollektiv ums Überleben gekämpft wird, jeder sein Bestes gibt. Deshalb bleiben die Männer auch namenlos und werden lediglich durch ihre Aufgaben bezeichnet. Der einzige, den wir namentlich kennenlernen, ist Lárus, der Jüngste an Bord, aber auch nur deshalb, weil wir aus dessen Perspektive die damaligen Ereignisse geschildert bekommen.

Alle überleben, aber nur acht von ihnen trauen sich noch einmal auf See.

Trotz (oder wegen?) der Kürze ein unglaublich intensives und beeindruckendes Leseerlebnis, ausgezeichnet übersetzt von Kárasons Schriftstellerkollegen Kristof Magnusson.

Bewertung vom 24.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Wilhelm Tell, Mythos und Schweizer Nationalheld, dessen Geschichte von Friedrich Schiller in die Bühnenfassung gebracht wurde. Für Generationen von Schülern Pflichtlektüre. Und jetzt kommt Joachim B. Schmidt, der nach Island ausgewanderter Schweizer daher, entstaubt und modernisiert den eidgenössischen Klassiker. Und wie er das macht ist furios, denn bei ihm kommt die Geschichte des Freiheitskämpfers, der so virtuos mit der Armbrust umgehen konnte, im Gewand eines Pulp Romans daher.

Schmidt reduziert den Stoff auf das Wesentliche, gibt den Akteuren aber einen differenzierten Hintergrund mit. Fünf Akte werden zu zehn Kapiteln, innerhalb derer die Sichtweisen aus zwanzig unterschiedliche Perspektiven in hohem Tempo wie Trommelfeuer auf den Leser einprasseln und kaum Zeit zum Luftholen lassen. Unterstützt und forciert wird das noch durch jede Menge Cliffhanger.

Das Personal bleibt bekannt, aber der Autor knackt die Distanz, die man bei Lesen des Originals hat, weil er einen Blick in deren Innerstes wagt. Tell, immer noch in Trauer wegen des Todes seines Bruders, steht stellvertretend für die Bergbauern. Ist ausgelaugt von der schweren Arbeit, wortkarg, unberechenbar, brutal. Gessler, der Reichsvogt, ist ein Zauderer, entschlussschwach zweifelnd. Harras, sein Stallmeister, hingegen verkörpert den Oberschurken, der voller Verachtung auf die Bauern schaut und sie demütigt. Bemerkenswert allerdings ist die Rolle der Frauen, die aus dem Hintergrund treten, aktiv sind, die tun, was getan werden muss, um ihre Familie und den Besitz zu beschützen und ihren Beitrag zum Überleben leisten.

Eine gelungene Neuinterpretation des Klassikers, die das Zeug zur Schullektüre hat. Am besten im direkten Vergleich mit dem Original.

Bewertung vom 22.02.2022
Ein Ring aus hellem Wasser
Maxwell, Gavin

Ein Ring aus hellem Wasser


ausgezeichnet

Nature Writing, diese literarische Gattung, die fast schon vom Buchmarkt verschwunden war, hat im Zuge des gestiegenen Umweltbewusstseins in den letzten Jahren wieder vermehrt ihre Leser gefunden. Und so verwundert es nicht, dass jetzt auch dieser Klassiker aus dem englischsprachigen Raum neu aufgelegt wurde. „Ein Ring aus hellem Wasser“ von Gavin Maxwell (1914 – 1969), erstmals 1960 im Original, 1964 in der Übersetzung erschienen und 1969 unter dem Titel „Mein Freund, der Otter“ verfilmt, ist ein gelungenes Beispiel dafür, vereint es doch mit seiner Innen- und Außensichtung alles, was dieses Genres ausmacht.

Der Autor ist Schotte, stammt aus einer adligen Familie und war für die Scots Guards im Zweiten Weltkrieg als Ausbilder in einer nachrichtendienstlichen Spezialeinheit aktiv. Er ist ein Suchender, schon immer von der Natur und ihren Geschöpfen und den Beziehungen zwischen Mensch und Tier fasziniert, und so verwundert es nicht, dass er bei einer Forschungsreise durch die irakischen Sümpfe seine Liebe zu einem klugen Fischotter entdeckt, den er Mijbil nennt. Er beschließt, ihn mit in seine schottische Heimat zu nehmen, wo er sich seit 1949 in ein abgelegenes Cottage in den Highlands an der schottischen Westküste zurückgezogen hat. Und so wird die Geschichte eines Mannes fortgeschrieben, der im Leben mit und in der Natur und ihren Geschöpfen trotz allen Unwägbarkeiten Ruhe und Erfüllung findet.

Obwohl es natürlich auch wunderbare Landschaftsbeschreibungen gibt, verzichtet Maxwell auf die verkitschten Darstellungen à la Zurück zur Natur mit Sonnenuntergang. Er zeigt vielmehr deren dunkle, unbarmherzige und raue Seite, in der Sentimentalitäten nur wenig Raum eingeräumt wird, in der „Fressen und gefressen werden“ zum Alltag gehört. Und genau das ist es, was diese Aufzeichnungen so lesenswert, so einzigartig und gleichzeitig so anrührend macht.

Bewertung vom 18.02.2022
Der geheimnisvolle Mr. Hyde
Russell, Craig

Der geheimnisvolle Mr. Hyde


sehr gut

Edinburgh und Robert Louis Stevenson (1850–1894) gehören untrennbar zusammen. Das kann jede/r bestätigen, der schon einmal die Hauptstadt Schottlands besucht bzw. sich mit deren kulturellem Erbe auseinandergesetzt hat. Viele schottische Autoren nennen, nach ihren Vorbildern befragt, an erster Stelle den Autor der viktorischen Schauernovelle „Strange Case of Dr Jekyll und Mr Hyde“ (1886). Und auch Craig Russells Thriller „Der geheimnisvolle Mr. Hyde“, 2021 mit dem McIlvanney-Preis des Bloody Scotland Crime Writing Festival ausgezeichnet, ist, auch wenn die Story wenig mit der Vorlage gemeinsam hat, inspiriert von diesem Werk und eine Verbeugung vor dessen Schöpfer.

Wir sind in Edinburgh, das 19. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. Die Atmosphäre, speziell des Nachts, ist so, wie man es von einem viktorianischen Roman erwartet. Die Nebelschwaden wabern durch schlecht ausgeleuchtet Gassen, in denen Schatten auftauchen und unerkannt wieder verschwinden. Ideale Bedingungen für jemanden, der nichts Gutes im Sinn hat.

Im Zentrum des Romans steht Edward Hyde, ein Freund Stevensons, ehemals in Indien im Einsatz, mittlerweile angesehener Superintendent und Präsident der Edinburgher Polizei. Allerdings gibt es da etwas, von dem nur er und sein behandelnder Arzt Kenntnis hat. Er kämpft mit physischen und psychischen Problemen, leidet an einer Erkrankung, die ihn des Öfteren an seiner Wahrnehmung zweifeln lässt. Wirklichkeit, Wahn oder Schuld? Es kommt immer wieder vor, dass er diese Unterscheidung in bestimmten Situationen nicht zweifelsfrei treffen kann, sich nicht erinnern kann, wenn eine dieser Episoden vorbei ist. Als in der Stadt immer wieder Mordopfer aufgefunden werden, die offenbar nach uralten keltischen Riten getötet wurden, betraut man ihn mit den Untersuchungen. Aber ist er wirklich der richtige Mann für diesen Fall? Besteht nicht vielleicht sogar die Möglichkeit, dass er für die Taten verantwortlich ist?

Keltische Riten, heidnische Symbole und die Schreie der Banshee könnte die Vermutung aufkommen lassen, dass Russell einen astreinen Gothic-Thriller geschrieben hat. Allerdings ist das nur ein Aspekt, denn auch das historische Erbe der Stadt wird thematisiert (unter anderem galt Edinburgh lange Zeit als Zentrum der medizinischen Innovationen und wird hier durch einen kurzen Auftritt von Dr Joseph Bell repräsentiert, der die Vorlage für Sherlock Holmes lieferte). „Der geheimnisvolle Mr Hyde“ bietet nicht nur spannende Unterhaltung sondern weckt auch das Interesse an Edinburgh, regt an, sich eingehender mit der Historie dieser facettenreichen Metropole und ihrer Persönlichkeiten zu beschäftigen. Es lohnt sich!

Bewertung vom 15.02.2022
Every (deutsche Ausgabe)
Eggers, Dave

Every (deutsche Ausgabe)


ausgezeichnet

Google, Twitter, Instagram, Facebook, Meta. Dass Suchmaschinen und soziale Netzwerke nicht nur der Informationsbeschaffung und Unterhaltung dienen, dürfte uns allen, die wir sie täglich nutzen, mittlerweile klar sein. Sie beobachten, analysieren, manipulieren. Ganz gleich, ob uns das bewusst ist oder nicht, Algorithmen und Social Bots nehmen durch gezielt platzierte Informationen Einfluss auf unsere Entscheidungen. Beeinflussen unser Kaufverhalten, aber auch unsere Sicht auf die Welt, auf die Gesellschaft und/oder politische Ereignisse. Man denke nur an das Brexit-Referendum und die gefälschten Twitter-Accounts, an Trumps Wahlsieg, an die Meldungen während der Pandemie. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Wer Dave Eggers‘ Romane kennt, weiß, dass diese zwar fiktional sind, er aber in ihnen nicht nur persönliche Erfahrungen sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen thematisiert. In „Der Circle“ (2013/2014) betrachtet er am Beispiel der naiven Mae kritisch die fragwürdigen Machenschaften eines Tech-Monopolisten, dessen oberstes Ziel die absolute Transparenz des Persönlichen ist.

Nachdem seine visionären Prognosen in der Zwischenzeit längst von der Realität überholt worden sind, legt er nun mit „Every“ nach, einem Megakonzern, entstanden nach Circles Übernahme eines „E-Commerce-Giganten, der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war“. Honi soit qui mal y pense.

Apps für alles und jedes suggerieren Alltagserleichterungen, überwachen aber rund um die Uhr. Algorithmen, helfen bei der Entscheidungsfindung, schränken aber die persönlichen Freiheiten ein, all dies wird von fast allen Nutzern ohne Widerspruch hingenommen, ja sogar begrüßt. Aber es gibt auch Menschen, die diese ständige Überwachung satt haben, sich ihr entziehen wollen.

Zu ihnen gehört Delaney, die dieser Entwicklung mit Misstrauen begegnet und beschließt, Every zu infiltrieren. Sie baut darauf, den Giganten mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, indem sie die Möglichkeiten des Systems bis zum Äußersten mit Vorschlägen ausreizt, die nicht nur die Nutzer sondern auch die angestellten Everyones des Konzerns auf die Barrikaden treiben sollen. Aber wie erwartet hat sie nicht mit der Lethargie der Menschen gerechnet. Je mehr Überwachung, je mehr Einschränkung, desto höher die Akzeptanz, wenn dafür Sicherheit und Bequemlichkeit winken.

Ein wichtiges Buch, das trotz allem Pessimismus unterhaltsam ist. Ein notwendiges Buch, das die richtigen Fragen stellt und zum Nachdenken anregt. Allerdings ist zu vermuten, dass der Zug bereits längst abgefahren ist und mit hoher Geschwindigkeit einer Zukunft entgegenrast, die sich unserer Kontrolle entzieht.

Bewertung vom 11.02.2022
Normandie Reiseführer Michael Müller Verlag
Nestmeyer, Ralf

Normandie Reiseführer Michael Müller Verlag


ausgezeichnet

Falls man mit dem Gedanken spielt, den nächsten Urlaub im Nordwesten Frankreichs zu verbringen, sollte man zu dem „Normandie-Reiseführer“ von Ralf Nestmeyer (5. Auflage, überarbeitet) aus dem Michael Müller Verlag greifen. Dieser macht bereits bei den Reisevorbereitungen Laune und leistet sehr gute Dienste, vor allem dann, wenn man als Individualtourist unterwegs ist.

Bei Wassertemperaturen um die 20 Grad eignet sich die Normandie nur bedingt für einen reinen Badeurlaub, aber dafür ist dies eine Region, in der sowohl Naturliebhaber als auch historisch und kulturell Interessierte auf ihre Kosten kommen, und dieser Tatsache trägt der Autor in seinem informativen Reiseführer ohne Abstriche Rechnung. Zahlreiche Highlights warten auf den Besucher. Ganz gleich, ob das nun die Seebäder von Deauville und Trouville, der Mont-Saint-Michel, Monets Garten in Giverny, oder die Sandstrände sind, an denen die Alliierten am D-Day an Land gingen, zu all diesen Sehenswürdigkeiten versorgt uns Nestmeyer mit fundiertem Hintergrundwissen.

Der einführenden Orientierung, die einen kurzen Überblick für unterschiedlichste Interessen gibt, folgen die detaillierten Vorstellungen der fünf Departements mit den regionalen Sehenswürdigkeiten, Übernachtungsmöglichkeiten, Restaurant-Tipps und Hinweisen zu weiterführender Literatur, ergänzt durch Kartenmaterial-Ausschnitte (Stadtpläne und Überlandkarten) und gelb hinterlegte Texte, die jeweils besondere Ereignisse oder Personen näher beleuchten. Und natürlich gibt es auch jede Menge Fotos, die die Vorfreude schüren.

Abgerundet wird der Reiseführer durch das Kapitel „Nachlesen & Nachschlagen“ (ca. 60 Seiten), in dem allgemeine Informationen, Veranstaltungstipps plus Kulinarisches sowie praktische Reisetipps zu finden sind. Und zu guter Letzt sind da noch die Beschreibungen von vierzehn GPS-getrackten Wandertouren durch landschaftlich reizvolle Gebiete. Fast vergessen: das kleine, aber durchaus hilfreiche Wörterbuch am Schluss, mit dem man sich im Alltag auch dann zurechtfinden kann, wenn man der französischen Sprache nicht mächtig sind.

Ein hochwertiger und informativer Reiseführer, den ich uneingeschränkt empfehlen kann.

Bewertung vom 09.02.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


ausgezeichnet

Ein Interview mit der angeblichen Serienmörderin Manako Kajii führen, das ist es, was die Journalistin Rika unbedingt möchte. Manako gewährt ihr die Bitte, allerdings nur unter der Bedingung, dass die Morde in dem Gespräch tabu sind, obwohl diese doch mit dem Lieblingsthema der Inhaftierten, dem Essen und Kochen, in direktem Zusammenhang stehen, hat sie doch über diese Schiene sich das Vertrauen ihrer Opfer erschlichen. Und das scheint ihr auch bei Rika zu gelingen, die anfangs mit einer gewissen Skepsis den Besuch antritt, ist Manako doch so ganz anders als sie selbst. Ein Genussmensch, füllig, exzentrisch, hemmungslos in ihrer Völlerei und auch in den Zutaten für ihre Gerichte, von denen sie der Journalistin erzählt. Butter muss es sein. Immer. Viel Butter, denn es gibt nichts, was sie mehr verabscheut als Margarine. Und, nicht zu vergessen, Feministinnen, die irgendwelchen abstrusen Ideen hinterherjagen.

Gespräche über Mahlzeiten und deren Zubereitung werden abgelöst von kritischen Betrachtungen zum Thema Schlankheitswahn, zum Verhältnis der Geschlechter, den Traditionen und Konventionen der japanischen Gesellschaft. Themen, die Rika bisher noch nie hinterfragt, Regeln, denen sie sich ohne Murren gebeugt und Anforderungen, die sie kritiklos erfüllt hat. Aber damit ist jetzt Schluss, denn die Unterhaltungen bieten ihr Denkanstöße und setzen Veränderungen in Gang, hin zu einem selbstbestimmten Leben.

Notiz am Rande: „Butter“ ist inspiriert von dem realen Fall der Serienmörderin Kanae Kijima, die potentielle Ehekandidaten mithilfe ihrer Kochkünste umgarnt und getötet haben soll. 2010 wurde sie verhaftet und in sieben Fällen des Mordes beschuldigt. Zweifelsfrei nachweisen konnte man ihr allerdings „nur“ drei Morde, für die sie zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Seither wartet sie auf ihre Hinrichtung.

Bewertung vom 08.02.2022
In die Arme der Flut
Donovan, Gerard

In die Arme der Flut


sehr gut

…bist du vollkommen glücklich und deine Seele lebt irgendwo weiter. Ich habe keine Angst zu sterben. Vollkommener Frieden nach dem Tod, jemand anderes zu werden ist die beste Hoffnung, die ich habe.“ Mit diesem Zitat von Kurt Cobain könnte man den Punkt beschreiben, an dem sich auch die Hauptfigur in Gerard Donovans „In die Arme der Flut“ befindet.

Luke Roy lebt in Ross Point, einem von Gott und der Welt verlassenen Kaff in Maine, arbeitet dort in einer Fabrik, tagaus, tagein die gleiche Monotonie. Sein Denken kreist seit frühester Jugend um den Tod, es ist ein diffuses Sehnen nach dem Ende. Versucht hat er es bereits, allerdings nicht in letzter Konsequenz durchgeführt. Aber jetzt ist es soweit. Schnell soll es gehen, und im wahrsten Sinn des Wortes todsicher sein. Der richtige Zeitpunkt scheint gekommen. Ein Sprung von der Brücke in den Moss River, 35 Meter in die Tiefe, der Körper zerschmettert, von der Strömung ins Meer gezogen. Oder doch nicht? Er zaudert, er zögert, entscheidet sich dagegen, dreht um und bemerkt im Weggehen ein Kind, das aus einem gekenterten Boot gefallen ist und auf einen Strudel zutreibt. Ohne Zögern wagt er den Sprung, bekommt es zu fassen und rettet es. Es scheint, als ob Paul, so der Name des Jungen, ein Seelenverwandter Lukes wäre, da er keinerlei Anstrengungen unternommen hat, den Fluten zu entkommen.

Passanten haben die Aktion beobachtet, stellen ihre Fotos davon ins Netz, die Anzahl der Klicks explodiert. Luke steht plötzlich im Zentrum des Interesses, wird zur Berühmtheit, erhält eine Tapferkeitsmedaille. Politiker lassen sich mit ihm ablichten, instrumentalisieren ihn für ihren Wahlkampf. Doch Ruhm ist vergänglich. Alles ändert sich, als ein Video auftaucht, das das Ereignis in einem anderen Licht erscheinen lässt, und plötzlich schlägt ihm blanker Hass entgegen. Diejenigen, die ihm gestern noch auf die Schulter geklopft haben, wenden sich von ihm ab. Steine fliegen, das Boot, auf dem er lebt, geht in Flammen auf. Doch dann wird der Zeitung ein weiterer Film zugespielt, der Lukes Version bestätigt, und schon ist der Außenseiter wieder der strahlende Held, der er nie sein wollte. Aber für die Brandstiftung, den Verlust seines Bootes, seines Heims, übernimmt niemand Verantwortung.

Wie bereits in dem erfolgreichen „Winter in Maine“ steht auch in dem diesem Roman ein Mensch im Mittelpunkt, dessen Leben von einem Gefühl der Isolation durchdrungen ist. Luke fühlt sich fremd unter Menschen, ist einsam und hat im Laufe seines Lebens eine ungesunde Faszination für den Tod entwickelt. Leidet er an Depressionen? Will er sterben? Eindeutig ist beides nicht, es bleibt in der Schwebe.

Aber der Roman ist mehr als das Psychogram eines Außenseiters, er ist gleichzeitig eine Abrechnung mit unserer medialen Welt, die sensationsgierig jede halbwegs interessante Information durch den Wolf dreht, jedoch das, was dieses Vorgehen mit den Menschen macht, völlig ignoriert. Hauptsache, die Anzahl der Klicks stimmt.