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Buchbesprechung
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 02.02.2020
Der eiserne Gustav
Fallada, Hans

Der eiserne Gustav


ausgezeichnet

REZENSION - Den „eisernen Gustav“ glauben viele zu kennen. Doch der Rühmann-Film von 1958 hat mit Hans Falladas gleichnamigen Roman von 1938 nichts zu tun, schildert er doch nur die Kutschfahrt des wahren Berliner Droschkenkutschers Gustav Hartmann (1859-1938) im Jahr 1928 nach Paris. Fallada griff dieses damals öffentlichkeitswirksame Ereignis lediglich gegen Ende seines Romans um seinen fiktiven Kutscher Gustav Hackendahl auf. Doch auch wer Falladas „Der eiserne Gustav“ gelesen hat, hatte nie seinen Originaltext, der verschollen ist, sondern nur einen bearbeiteten Text in der Hand. Erst jetzt nach über 80 Jahren erschien im Aufbau-Verlag eine Ausgabe mit jenem Ende, „wie ihn der Verfasser gewollt hatte“, und in einer der Urfassung nahekommenden Fassung, wie es Fallada-Forscherin und Herausgeberin Jenny Williams in ihrem ausführlichen Nachwort nachweist.
Hauptfigur auch ist der Berliner Droschkenkutscher Gustav Hackendahl. Wir begleiten den kleinbürgerlichen, in der wilhelminischen Zeit zu Disziplin und Gehorsam erzogenen Mann, der es bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs durch harte Arbeit zum Unternehmer mit 30 Droschken geschafft hatte, in den nun nachfolgenden Jahren 1914 bis 1924. Fallada zeigt am Beispiel des wirtschaftlichen Untergangs Hackendahls und des Zerfalls seiner Familie zugleich den Zerfall des gesellschaftlichen und politischen Systems nach dem verlorenen Krieg, nach Auflösung des Kaiserreichs und in den Wirren der Weimarer Republik, was letztlich in der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete. Gustav Hackendahl muss erleben, wie seine von im „eisern“ verteidigten Werte – Ordnung, Gehorsam, Disziplin – untergehen. Andererseits war es gerade die Strenge des Vaters, die für die Lossagung seiner erwachsenen Kinder vom Elternhaus sorgte. Nur den Jüngsten lässt der Autor zu einem „anständigen Menschen“ heranwachsen.
Fallada hatte seinen Roman bewusst vorzeitig 1924 enden lassen, um nicht in die Sphären der Nazis zu geraten. Doch noch in der Andruckphase verlangte Goebbels eine Verlängerung der Handlung bis zur NS-Machtübernahme. Ausgerechnet Kutscher Hackendahl und sein „anständiger“ Sohn sollten der NSDAP beitreten. Fallada gab am Ende nach - sein Buch wäre wegen „fehlender Propagandawirkung“ nicht zugelassen worden - und ergänzte einen „Nazi-Schwanz“, wie er es in Briefen selbst formulierte.
Zwanzig Jahre später erschien in der DDR eine erneut bearbeitete, diesmal dem kommunistischen System gefällige Romanfassung: Zwar war der „Nazi-Schwanz“ gestrichen, in vorauseilendem Gehorsam aber auch weitere Textpassagen, die den DDR-Funktionären hätten missfallen können. Erst jetzt erschien nach jahrelanger Forschung und Textvergleichen endlich im Herbst 2019 eine „von allen politischen Eingriffen befreite“ Fassung des Fallada-Textes, die dem verschollenen Originalmanuskript wohl am nächsten kommt.
Trotz seiner 80 Jahre ist „Der eiserne Gustav“ immer noch aktuell und in seiner Authentizität aufrüttelnd, wie er von Hans Fallada einst gedacht war. Nicht wenige vergleichen unsere heutigen politischen Verhältnisse mit denen der Weimarer Republik und meinen auch, einen erfall unseres gesellschaftlichen Systems zu erkennen. Manche vermissen auch heute das notwendige Maß an Disziplin und Ordnung. Wieder erstarken in Deutschland die extremen politischen Flügel. So kann man diese Fallada-Neuausgabe als immer noch aktuelle und unbedingt lesenswerte Mahnung verstehen.

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Bewertung vom 14.01.2020
Federball
le Carré, John

Federball


gut

REZENSION – In seinem im Oktober bei Ullstein veröffentlichten Roman „Federball“ widmet sich der britische Schriftsteller John le Carré (88) den aktuellen politischen Themen seines Landes - dem Brexit und der ersatzweise gesuchten Nähe zu den USA und deren Präsidenten Donald Trump. Dabei macht der Altmeister des britischen Spionageromans keinen Hehl aus seiner eigenen entschiedenen Ablehnung in beiden Punkten. Zugleich zeigt er aber in der Handlung und deren Protagonisten den für viele patriotisch gesinnte Briten entstandenen Konflikt, sich gegen das eigene Land stellen zu müssen.
Worum geht es im Roman? Der fast 50-jährige britische Agentenführer Nat kehrt nach 20-jährigem Auslandseinsatz in die Londoner Zentrale zurück, wird aber, da er ein Agent der alten Generation ist, gewissermaßen in die Wüste geschickt und als Leiter der Abteilung „Oase“ zugeteilt, ein Sammelbecken nicht mehr oder noch nicht für Einsätze geeigneter Geheimdienstler. Nur mit Schreibtischarbeit beschäftigt, widmet er sich umso lieber seiner berufsbedingt in den vergangenen Jahren vernachlässigten Ehefrau Prue und seiner längst herangewachsenen Tochter. Im Club pflegt er sein Image als scheinbar unbesiegbarer Vereinsmeister im Federball. Eines Tages bekommt Nat dann doch endlich eine Aufgabe: Ein britischer Maulwurf scheint brisantes Material aus höchster Regierungsebene an die Russen zu verraten.
Zeitgleich wird Nat vom neuen Vereinsmitglied Ed, einem schlaksigen Mittzwanziger, zum Federball-Match herausgefordert. Der junge Mann ist ein entschiedener Gegner des Brexits, schimpft auf Donald Trump und auf seine langweilige Tätigkeit in einer Medienagentur. Beide Sportler kommen sich trotz des Generationsunterschieds menschlich näher, da Nat in dem jungen Mann nicht nur sportlich einen gleichrangigen Partner erkennt, sondern auch dessen politische Meinung überwiegend teilt. In diesem ideologischen Konflikt seines Agenten, einerseits als Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes gewissermaßen zum Patriotismus verpflichtet zu sein, andererseits dies aufgrund der aktuellen Politik nicht sein zu können, zeigt uns der Autor die aktuelle politische Brisanz für viele seiner Landsleute und auch für sich selbst.
Denn in vielen Dialogen seiner Figuren, die deutlicher nicht sein können, „hören“ wir gewissermaßen den 88-Jährigen lautstark schimpfen, wenn er zum Beispiel seinen Nat sagen lässt: „Lassen Sie mich an dieser Stelle festhalten, … dass der Brexit allerdings schon lange ein rotes Tuch für mich ist. Ich bin durch und durch Europäer.“ Oder wenn der junge Ed zürnt: „Halten Sie Trump, …, für eine Bedrohung der gesamten zivilisierten Welt, für einen Aufwiegler, der der systematischen ungebremsten Nazifizierung der Vereinigten Staaten vorsitzt?“
Carrés neuer Roman „Federball“ ist kein typischer Spionage-, eher ein Politroman. Es fehlt dem Buch trotz der Deftigkeit obiger Zitate an Tempo, Spannung und Dramatik. Erst nach den ersten 130 Seiten, bei deren Lektüre man sich fragt, wohin der Autor uns eigentlich führen will, kommt endlich Spannung auf. Das Ende ist dann allerdings so unrealistisch, dass es eines John le Carré nicht würdig ist. Es hat wirklich schon bessere Romane vom Altmeister des britischen Spionageromans gegeben.

Bewertung vom 10.01.2020
Der von den Löwen träumte
Ortheil, Hanns-Josef

Der von den Löwen träumte


ausgezeichnet

REZENSION – Es gibt nur wenige deutsche Schriftsteller unserer Zeit, die wie Hanns-Josef Ortheil gleichzeitig und mit dauerhaftem Erfolg in unterschiedlichsten literarischen Genres heimisch sind. Ob autobiografische oder historische Romane, ob Essays oder Sachliteratur, immer wieder versteht es der 68-jährige Autor aufs Neue, mit seinem aktuellen Buch die Bestsellerliste zu erobern. Gerade waren im Mai 2019 seine Kindheits- und Jugenderinnerungen „Wie ich Klavier spielen lernte“ erschienen, folgte nur ein halbes Jahr später die Romanbiografie „Der von den Löwen träumte“, eine liebevolle Hommage an den amerikanischen Nobelpreisträger Ernest Hemingway (1899-1961).
Ortheil beschreibt darin den mehrmonatigen Aufenthalt des Schriftstellers in Venedig im Jahr 1948. Der bald 50-Jährige steckt in einer Lebenskrise, leidet unter starken Depressionen und einer mehrjährigen Schreibblockade. Seit „Wem die Stunde schlägt“ (1940) ist ihm kein Roman mehr gelungen, weshalb der Ortswechsel auf Anregung seiner vierten Ehefrau Mary neuen Schwung geben soll. Anfangs genießt Hemingway die Ruhe und Einsamkeit eines Landhauses in der Lagune und die täglichen Bootsfahrten mit dem Fischersohn Paolo. Doch unerwartet erwacht im „alten Mann“ die Liebe zu der erst 18-jährigen Venezianerin Adriana Ivancich. Mit ihr amüsiert sich der nun wieder lebenshungrige Genussmensch wochenlang auf Ausflügen und in Tavernen, wie es uns Ortheil hautnah miterleben lässt. Hemingway lebt seinen neuen Roman; er selbst und Adriana sind die wahren Figuren des Buches „Über den Fluss und in die Wälder“ (1950).
Nicht nur Ehefrau Mary missfällt diese venezianische Liaison Hemingways, auch der junge Fischer Paolo kritisiert während einer ihrer Bootsfahrten den 30 Jahre älteren Amerikaner für dessen unkonventionelles Verhalten: „Ein Mann Deines Alters und die Liebe zu einer erheblich jüngeren Frau! Ich hätte es besser gefunden, wenn Dein Colonel allein geblieben wäre. …. Er sollte auf Fischfang gehen.“ Hemingway findet Gefallen an dieser anderen Romanidee: „An unseren gemeinsamen Roman denke ich jeden Tag. Ich hebe ihn mir wie versprochen für mein nächstes Buch auf“, schreibt er später aus Cuba an seinen jungen Freund. Schon 1952 erscheint die Novelle „Der alte Mann und das Meer“ als sein letztes Buch zu Lebzeiten, das maßgeblich zur Verleihung des Literaturnobelpreises (1954) beitrug.
Immer wieder spürt man im Buch die Sympathie Ortheils für Hemingway, kann sogar eine ähnliche Arbeitsweise erkennen: Wie wir es von Ortheil wissen, ist auch der Amerikaner ein genauer Beobachter und notiert sich während seiner Streifzüge durch Venedig scheinbar Unwichtiges, das später als Materialsammlung für den geplanten Roman dienen könnte. Ortheil gelingt es meisterhaft, nachweisbare Fakten und reale Personen mit Fiktivem zu einer lebendigen Geschichte zu vermengen. Am Ende ist man überzeugt, genau so müsse es gewesen sein. Man leidet mit Hemingway und gleichermaßen empört man sich über sein Verhalten. Man lernt diesen großartigen Schriftsteller, diesen „alten Mann“, besser zu verstehen und vielleicht seine Werke neu zu entdecken. „Der von den Löwen träumte“ ist deshalb ein Buch für alle Freunde Hemingways, ohnehin Pflichtlektüre für Ortheil-Fans, aber nicht zuletzt auch - der Ortheil'schen Sprachkunst wegen - wieder eine wundervolle Romanbiografie für die Liebhaber belletristischer, also wirklich „schöner Literatur“.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.01.2020
Lassen Sie mich mal machen!
Sommer, Heide

Lassen Sie mich mal machen!


sehr gut

REZENSION – Ein ereignisreiches, manchmal aufregendes, in jedem Fall aber interessantes Berufsleben schildert Heide Sommer (79) in ihren im Ullstein-Verlag veröffentlichten Erinnerungen „Lassen Sie mich mal machen“. Kaum ein anderer Titel als dieses fast schon klassische Zitat könnte das arbeitsreiche Leben als langjährige Redaktionssekretärin so bekannter Publizisten wie Rudolf Augstein, Joachim Fest, Günter Gaus und Theo Sommer oder als Privatsekretärin namhafter Schriftsteller wie Fritz J. Raddatz und Carl Zuckmayer oder Altpolitiker wie Loki und Helmut Schmidt sowie Klaus von Dohnanyi besser in einem Satz zusammenfassen.
Es ist ein mit Erlebnissen gespicktes Leben bei der ZEIT und beim SPIEGEL, aus dem die bald 80-Jährige schöpfen konnte. Es waren die Jahrzehnte vor Computer und Internet, als Journalisten ihre Manuskripte noch handschriftlich verfassen, Sekretärinnen die schwer lesbaren Seiten entziffern und mit der Schreibmaschine in Reinschrift bringen mussten. Dann gingen die Texte in die Setzerei, wo Buchstabe für Buchstabe in Bleisatz gesetzt wurde. Zurück kamen die Korrekturfahnen, Texte mussten gekürzt werden, um die Zeitungsseite druckfertig zu bekommen. Spricht man heute gern von Stress, waren Termindruck und Arbeitsbelastung damals nicht geringer.
Äußerst lebendig schildert Sommer ihr Leben an der Seite dieser „großen“ Männer - in einer Zeit, als Frauen sich mit dem Job einer Sekretärin begnügen mussten. Doch betont die Autorin mehrfach, dass sie sich keinesfalls in die zweite Reihe gedrängt fühlte, sondern sich als persönliche Assistentin, als Beraterin und engste Vertraute durchaus zu behaupten wusste. Redakteur und Sekretärin waren aufeinander angewiesen, man arbeitete tage- und manchmal nächtelang zusammen. Da war kein Platz für Geheimnisse.
Natürlich erzählt auch Sommer manche Anekdote, schildert Vorkommnisse oder charakterliche Eigenarten ihrer Chefs. Doch absolute Loyalität war immer oberstes Gebot. Dies gilt noch immer. Sommer verrät nichts, was nicht irgendwo schon mal bekannt wurde – ob es Augsteins Alkoholsucht oder Raddatz' Homosexualität ist. Auch Raddatz' vorbereiteten Freitod hat Sommer als dessen Privatsekretärin wenn auch nicht gewusst, aber doch erahnt.
Köstlich zu lesen sind ihre Ferienerlebnisse mit Ehemann Theo Sommer, Chefredakteur der ZEIT, in Positano, wo STERN-Herausgeber Henri Nannen sie beide, die doch allein zu zweit sein wollten, mit Cadillac-Cabrio und Yacht umherkutschierte. Oder über Theo Sommers Besuch in Israel, wo der behäbige und dickleibige General Ariel Scharon die ganze Nacht mit Heide tanzte. Oder wie sie am 7. Juni 1972 in einer Hamburger Boutique mit einer jungen Kundin allein war, die sie als RAF-Terroristin Gudrun Ennslin erkannte.
„Ich habe sie alle im Herzen, meine Männer, von A wie Augstein über S wie Sommer bis Z wie Zuckmayer“, schreibt die Autorin im Nachwort. Man glaubt es ihr aufs Wort. „Lassen Sie mich mal machen“ ist ein Buch voller Sympathie für ihre Chefs und seine Leser begeisternden Erinnerns an ein aufregendes und interessantes Berufsleben.

Bewertung vom 07.01.2020
1794 / Winge und Cardell ermitteln Bd.2
Natt och Dag, Niklas

1794 / Winge und Cardell ermitteln Bd.2


ausgezeichnet

REZENSION – War schon sein vielfach ausgezeichnetes und bisher in 30 Ländern erschienenes Thriller-Debüt „1793“ einer der besten historischen Romane vergangener Jahre, so hat der schwedische Autor Niklas Natt och Dag (40) mit dem Folgeroman „1794“ etwas geschafft, was kaum einem Bestsellerautor gelingt: Der zweite Roman, kürzlich im Piper-Verlag erschienen, ist noch besser gelungen! Erneut begleiten wir den kriegsversehrten Häscher Jean Michael Cardell und die als Gastwirtstochter „adoptierte“ Anna Stina Knapp durch das Jahr im alten Stockholm. Auch dieser Folgeband ist wieder in vier Teile mit jeweils wechselnden Hauptfiguren gegliedert. Ihre Lebenswege treffen sich zum Schluss und führen zu einem überraschenden, aber schlüssigen Ergebnis. Zwar baut der zweite Band historisch und atmosphärisch auf dem Erstlingswerk auf, doch ist es nicht zwingend notwendig, den Vorgängerband unbedingt gelesen zu haben.
Wir befinden uns im Stockholm des Jahres 1794, also nur vier Jahre nach dem verlustreichen Krieg gegen Russland. Armut bis zum Elend und Brutalität beherrschen das Straßenbild, während die politische Situation nach dem Tod König Gustavs III. Unsicher ist und durch die europaweiten Auswirkungen der französischen Revolution noch unsicherer zu werden droht. Im Vorjahr hatte der von der Stockholmer Polizeikammer mit einer Mordermittlung beauftragte Cecil Winge den durch die brutalen Kriegserlebnisse und seine Handamputation verzweifelten, in den Suff abgerutschten Häscher Mikkel Cardell als Assistenten verpflichtet und seinem Leben damit einen Sinn gegeben. Doch nach erfolgreichem Auftragsabschluss und dem Tod des zum Freund gewordenen Winges ist Cardell erneut abgerutscht. Erst der Auftrag einer Bäuerin, die Umstände des grausamen Todes ihrer Tochter in deren Hochzeitsnacht zu untersuchen, gibt Cardell wieder neuen Mut. Er macht sich mit Winges jüngerem Bruder Emil an die Aufklärung dieses mysteriösen Falles, in deren Folge der Bräutigam, ein junger Landadliger, psychisch erkrankt im Hospital gelandet war.
In seinem zweiten Band hat der Autor seine akribische Sammlung historischer Fakten noch weiter ausgebaut: Wir erfahren viel über das koloniale Leben der Schweden auf der erst 1785 von den Franzosen übernommenen Antillen-Insel Saint-Barthélemy und den dort betriebenen Sklavenhandel, über das Elend lediger Mütter in Schweden und die Versorgung in Waisenhäusern, Hospitälern und Irrenhäusern. Doch auch das alltägliche Treiben auf den dreckigen Straßen oder in schmutzigen Wirtshäusern und Kaschemmen kommt nicht zu kurz. Nicht nur die nochmals erweiterte Faktenfülle fasziniert an „1794“, sondern auch die nachhaltig-beeindruckende Atmosphäre des Geschehens. Dies schafft der 40-jährige Autor durch einen ungewöhnlichen, der alten Zeit angepassten, dennoch nicht antiquierten Sprachstil, mit dem er seine Leser tief in die Szenerie hineinzieht. Deshalb ist der Erfolg dieser schwedischen Romanreihe im deutschsprachigen Raum nicht zuletzt der erfahrenen Übersetzerin Leena Flegler zu verdanken, der es auch diesmal wieder beispielhaft gelungen ist, die Sprachmelodie ins Deutsche zu übertragen. Die historischen Fakten, die spannende Handlung und der ungewöhnliche Sprachstil bilden wie schon in „1793“ so auch wieder in „1794“ einen derart harmonischen Dreiklang, dass auch dieser zweite Band um Mikkel Cardell zweifelsfrei ins Bücherregal eines jeden Liebhabers historischer Romane und/oder historischer Krimis gehört.

Bewertung vom 13.12.2019
Inspektor Takeda und das doppelte Spiel / Inspektor Takeda Bd.4
Siebold, Henrik

Inspektor Takeda und das doppelte Spiel / Inspektor Takeda Bd.4


sehr gut

REZENSION – Waren die ersten drei Romane um den japanischen Austausch-Inspektor Kenjiro Takeda, dem „ungewöhnlichsten Helden der deutschen Krimi-Szene“ vergleichsweise harmlose, aber sehr vergnügliche Krimis, wenn man allein an die japanischen Teestunden im Hamburger Morddezernat denkt, fällt doch der vierte, im August veröffentlichte Band „Inspektor Takeda und das doppelte Spiel“ völlig überraschend aus dem gewohnten Rahmen. Was Autor Henrik Siebold, Pseudonym für den in Hamburg lebenden Journalisten und Schriftsteller Daniel Bielenstein (59), diesmal abgeliefert hat, ist ein erstaunlichen Politthriller. Trafen in den ersten Bänden in den Charakteren Ken Takedas und seiner Kollegin Claudia Harms lediglich unterschiedliche Mentalitäten und Kulturen aufeinander, prallen in diesem vierten Band geradezu unterschiedliche Welten aufeinander. Zudem behandelt der Autor historische und aktuelle gesellschaftspolitische Probleme beider Länder und zeigt am Beispiel des Neonazismus mögliche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.
Dabei beginnt auch dieser Band mit scheinbar normalem Dienst bei der Hamburger Mordkommission: Takeda wird nachts in einen abgelegenen Gewerbehof gerufen, wo man die Leiche eines jungen Mannes gefunden hatte, der, wie Takeda schnell herausfindet, brutal hingerichtet wurde. Das für Takeda besonders Erschütternde ist, dass es sich bei dem Toten um einen prominenten Landsmann handelt, einen Profifußballer beim HSV. Folgerichtig vermuten Takeda und Claudia Harms anfangs ein Verbrechen im Fußballmilieu. Der Täter, der die Hinrichtung vornahm, ist bald gefunden, und damit der Fall für Takedas und Harms' Vorgesetzte auffallend schnell abgeschlossen, was beide Polizisten stutzig macht, da sie bereits mysteriöse Hintergründe im Leben des japanischen Fußballers ermittelt hatten, die bis in die japanische Mafia (Yakuza) reichen. Deshalb entscheiden sich beide zu einem spontanen „Urlaub“, um in Japan weiter zu ermitteln.
Mit diesem in Japan spielenden Kapitel sprengt Siebold den aus den Vorgängerbänden gewohnten räumlichen Rahmen und erweist sich als jener Japan-Experte, der er durch mehrjährigen Aufenthalt und seine Arbeit für eine japanische Tageszeitung ist. In diesem Kapitel lernt der Leser nicht nur Vieles über das heutige Japan, sondern erfährt auch Wichtiges über das alte Japan der 1940er Jahre und dessen Pakt mit den Nazis. Fast scheint es, als sei der Autor am Ende selbst überrascht, was aus seinem Krimi wurde. Denn Siebold ergänzt seinen Roman um ein seitenlanges Nachwort mit Erläuterungen zu neureligiösen Sekten mit Anleihen am Zen-Buddhismus, zur japanischen Yakuza und zu einem Bündnis alter Fanatiker, die davon träumen, das historische Achsenbündnis zwischen Japan und Deutschland wieder aufleben zu lassen.
Gelegentlich übertreibt es Siebold in seinen Actionszenen. Wenn zum Beispiel Ken Takeda, von unzähligen Kugeln der Yakuza-Killer getroffen, immer noch Schwerter schwingend weiterkämpft. Aber Vieles andere in diesem historisch-politisch interessanten Thriller entschädigt. So sieht man doch gern über solche Schwachstellen hinweg.„Inspektor Takeda und das doppelte Spiel“ ist ein spannender, trotz seiner Menge an Wissenswertem immer noch sehr unterhaltsamer Krimi, den es durchaus zu lesen lohnt. Ob dieser vierte Band der letzte dieser unterhaltsamen japanisch-deutschen Krimireihe sein wird, ist nicht gesichert. Der ungewöhnlich fulminante Handlungsrahmen und die Tatsache, dass Takeda und Harms sich am Ende endlich „kriegen“, scheint das Finale allerdings zu bestätigen. Schade!

Bewertung vom 08.12.2019
Der Verein der Linkshänder
Nesser, Hakan

Der Verein der Linkshänder


sehr gut

REZENSION – Eigentlich hatte der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser (69) seinen Ex-Kommissar Van Veeteren, die „lebende Legende der Maasdamer Kriminalpolizei“, schon vor 16 Jahren im zehnten Band dieser Krimireihe, „Sein letzter Fall“ (2003), endgültig den verdienten Ruhestand genießen lassen wollen. Doch die in über 20 Sprachen übersetzte Erfolgsreihe – oder war es Nessers Verlag? - verlangte wohl eine Fortsetzung. So sieht sich also Van Veeteren kurz vor seinem gefürchteten 75. Geburtstag im kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman „Der Verein der Linkshänder“ doch gezwungen, einen 20 Jahre zurückliegenden Mordfall erneut aufzurollen.
Denn unerwartet besucht ihn sein früherer Mitarbeiter Kommissar Münster und berichtet dem Pensionär, man habe die verweste Leiche von Qvintus Maasenegger gefunden – ausgerechnet jenes Mannes, dem Van Veeteren 1991 den Mord an dessen vier Freunden angelastet hatte, die damals beim Brand in Mollys Pension in Oosterby umgekommen waren. Sie und Maasenegger waren Mitglieder des schon 1958 in Schulzeiten gegründeten Vereins der Linkshänder. Da Maasenegger aber verschwunden war, hatte man ihn schnell zum Mörder erklärt, international zur Fahndung ausgeschrieben und damit den Fall abgeschlossen. Nach Auffinden von Maaseneggers Leiche nahe dem damaligen Tatort muss folglich eine sechste, völlig unbekannte Person der Täter gewesen sein.
Nun trifft es sich gut, dass Van Veeteren auf der Flucht vor Gratulanten ohnehin seinen 75. Geburtstag gemeinsam mit Lebensgefährtin Ulrike Fremdli in einem Hotel nahe Oosterby verbringen will. Obwohl sich Van Veeteren an der neuen Wendung des alten Mordfalles scheinbar völlig uninteressiert gibt, wurmt es ihn natürlich ungemein, damals diesen Fehler gemacht zu haben. Seine Lebensgefährtin durchschaut ihn, und beide nutzen ihre wenigen Ferientage zur endgültigen Lösung dieses ominösen Falles.
Anfangs wirkt der Roman „Der Verein der Linkshänder“ durch den ständigen Wechsel von vier Zeitebenen (1958/1969/1991/2012) ziemlich irritierend. Doch man liest sich schnell ein und behält doch den Überblick, obwohl sich der Autor nicht nur zeitlich, sondern sogar in der Handlung auf unterschiedlichen Ebenen bewegt: Einerseits schildert er die Aufklärungsarbeit Van Veeterens und seiner heute für die Ermittlung zuständigen Kollegen. Dazwischen lesen wir Briefe oder Tagebucheinträge von Clara Behrens, der einzigen Überlebenden der Linkshänder. Sie hatte 1991 ihre Zwillingsschwester Brigitte vertretungsweise in Mollys Pension geschickt. Seitdem lebt nun Clara, die ja offiziell tot ist, mit der Identität Brigittes weiter. Schließlich kommt sogar noch der schwedische Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti mit seiner Kollegin und neuen Freundin Eva Backman ins Spiel, Hauptfigur in Håkan Nessers zweiter erfolgreicher Krimireihe, die doch eigentlich schon 2012 nach dem fünften Barbarotti-Band abgeschlossen schien.
Trotz dieser häufigen Wechsel von Zeiten, Orten und Personen gelingt es dem Autor sehr geschickt, seine vielen „Fäden“ am Ende schlüssig zusammenzuführen. „Der Verein der Linkshänder“ ist ein psychologischer Kriminalroman, der nicht nur in seiner durchgängig gehaltenen Spannung überzeugt. Denn gerade die ironisch-philosophischen Dialoge zwischen dem alternden, oft wegen seines Alters jammernden Van Veeteren und seiner nur wenige Jahre jüngeren Lebensgefährtin sowie der ebenfalls recht trockene Humor im Miteinander des Paares Barbarotti und Eva Backman lassen häufig schmunzeln, geben diesem Roman seine spezielle Note und machen ihn lesenswert. Warum aber Barbarotti unbedingt im letzten Teil dieses elften Van-Veeteren-Krimis erscheinen muss, bleibt ein Rätsel: Er trägt nichts zur Lösung des Falles bei und unterscheidet sich in seiner Art kaum von Van Veeteren.

Bewertung vom 23.11.2019
Totenland / Inspektor Jens Druwe Bd.1
Jensen, Michael

Totenland / Inspektor Jens Druwe Bd.1


sehr gut

REZENSION – Beherrschten bislang eher die Vorkriegs- und Nachkriegsjahre das Genre aktueller historischer Romane, schlägt jener norddeutsche Arzt und Buchautor, der kürzlich sein Krimi-Debüt unter dem Pseudonym Michael Jensen im Aufbau-Verlag veröffentlichte, ein neues und literarisch weit schwierigeres Kapitel deutscher Zeitgeschichte auf: Sein lesenswerter Roman „Totenland“ spielt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs – also in der Zeit des Zusammenbruchs, als das Dritte Reich eigentlich schon untergegangen war, Hitler im Führerbunker Selbstmord beging, führende Nazi-Funktionäre sich vor den alliierten Siegermächten in Sicherheit brachten, Flüchtlinge aus dem Osten in Westdeutschland Zuflucht suchten, die dort in zerbombten Städten hilflos zurückgelassene Bevölkerung notdürftig zu überleben versuchte, viele Menschen aber in ihrer Verzweiflung den Freitod wählten. In diesen wirren Tagen des Untergangs beginnt Michael Jensens Krimi „von Opfern und Tätern“ mit einem „Mord in Deutschlands Stunde Null“.
Ein hoher Parteibonze wurde nahe einem Bauernhof ermordet. Der früher in der Berliner Mordkommission unter dem legendären Kripochef Ernst Gennat (1880-1939) ausgebildete, inzwischen aber nicht nur wegen seiner beim Fronteinsatz erlittenen Handamputation als Dorfpolizist in die Provinz abgeschobene Kriminalinspektor Jens Druwe nimmt die Ermittlungen auf. Seine für den Mordfall zuständigen Kripo-Kollegen aus der Stadt stempeln einen aus dem KZ Fuhlsbüttel entkommenen Häftling und „Volksschädling“, der auf dem Bauernhof untergetaucht war, schnell als Täter ab. Doch dem trotz Kriegseinsatz sowie beruflicher und menschlicher Erniedrigungen gedemütigte Druwe geht es um Gerechtigkeit. Er ermittelt trotz mancher Drohung seiner Vorgesetzten weiter und stellt sich den Profiteuren des untergehenden Regimes allein entgegen.
So spannend die Kriminalhandlung auch ist, geht es dem Autor in seinem Buch weniger um den Mordfall und die nachfolgenden Ermittlungen. Beides dient ihm vielmehr zur Darstellung der von den Menschen unter dem Nazi-Regime und im Krieg erlittenen seelischen Folgen – nicht nur bei Opfern, sondern auch bei Tätern, wobei die Grenzen zwischen beiden oft fließend sein können, wie wir im Roman an Beispielen erfahren. Jensen entwickelt ein genaues Psychogramm seiner charakterlich so unterschiedlichen Figuren und zeigt damit die Vielschichtigkeit der Gesellschaft auch in der Nazi-Diktatur. Die Menschen lassen sich eben nicht nur in Schwarz und Weiß einteilen, sondern es gibt auch ein in vielen Schattierungen nicht immer leicht erkennbares Grau. Parallel zur spannenden Kriminalhandlung sowie zur treffenden Charakterisierung seiner Protagonisten gelingt es dem Autor hervorragend, die düstere Stimmung im Alltag des untergehenden Deutschlands zu schildern.
Der Debütroman „Totenland“ von Michael Jensen ist nicht nur Liebhabern von [historischen] Krimis zu empfehlen, sondern ist in jedem Fall lesenswert, vielleicht gerade auch für die Generationen der Nachgeborenen: Der Roman zeichnet auf beeindruckende Weise ein genaues - wenn auch zeitlich und räumlich eingeschränktes - Bild Deutschlands gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. „Totenland“ wurde vom Aufbau-Verlag als erster Band einer Jens-Druwe-Reihe angekündigt. Man darf also auf den zweiten Band „Totenwelt“ gespannt sein, dessen Veröffentlichung für Mitte Juni 2020 vorgesehen ist.

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Bewertung vom 16.11.2019
Lacroix und die Toten vom Pont Neuf / Kommissar Lacroix Bd.1
Lépic, Alex

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf / Kommissar Lacroix Bd.1


sehr gut

REZENSION – „Maigret, Telefon für Sie.“ Gleich der erste Satz in dem kürzlich im Kampa-Verlag veröffentlichten Roman „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“, dem Krimidebüt eines geheimnisvollen, unter dem Pseudonym Alex Lépic schreibenden deutschen Schriftstellers (39), zeigt uns, womit wir es zu tun haben: Der augenzwinkernde Krimi ist eine Verbeugung vor Georges Simenon (1903-1989) und dessen Figur Kommissar Maigret. Held des aktuellen Romans ist Commissaire Lacroix, der „beste Kommissar von Paris“, doch in seinen altmodischen Marotten und seinem Äußeren dem literarischen Vorgänger zum Verwechseln ähnlich. Kein Wunder also, dass die Lehrerin einer Schulklasse vor dem ebenfalls im Kommissariat untergebrachten Polizeimuseum im fünften Arrondissement am linken Seineufer diesen Kommissar in Hut und Mantel und Pfeife im Mund anstarrt, als er mit seinem Mitarbeiter Paganelli das Gebäude verlässt. Paganelli, schlagfertig wie so oft, nutzt ihr Staunen: „Schauen Sie ruhig hin, das ist er. Direkt aus dem Museum: unser Commissaire Maigret. Wir müssen ihn uns kurz für eine Ermittlung ausleihen. Aber keine Sorge, wir bringen das wichtigste Exponat nachher wieder zurück.“ Jetzt wissen wir es: Lacroix ist der neue Maigret!
Gerade aus dem Urlaub zurück, wird Lacroix vom Vorgesetzten mit der Aufklärung eines Mordfalles beauftragt: „Ein toter Clochard. Und um das Klischee vollständig zu bedienen: Er liegt unter dem Pont Neuf.“ Autor Alex Lépic scheut sich also nicht, selbst von Klischees zu sprechen, von denen er in seinem Roman reichlich Gebrauch macht. Doch was in anderen Romanen stört, nimmt man hier in Erinnerung an die Maigret-Klassiker gern an. Es gibt sogar gleich drei Tote in drei Nächten, alle ermordet unter den Brücken der Seine. Schnell erinnert sich die Pariser Öffentlichkeit an eine vergleichbare Mordserie vor 30 Jahren. Lacroix versucht nun wie sein „Vorbild“ mit Intuition und Menschenkenntnis die Mordfälle aufzuklären, was ihm binnen weniger Tage natürlich gelingt.
Fast scheint es, als arbeite Lacroix nur selten im Kommissariat. Ständig begleiten wir ihn, wenn nicht direkt im Außeneinsatz, bei seinen Spaziergängen in der Altstadt auf den Boulevards, am Ufer der Seine oder bei seinen regelmäßigen Abstechern in Brasserien und Cafés, vor allem in sein Stammbistro „Chai de l’Abbaye“. Hier trifft sich Lacroix nicht nur täglich mit Freunden oder sogar zum Gespräch mit Zeugen. Hier nimmt er auch wichtige Anrufe entgegen oder telefoniert selbst. Denn Lacroix verabscheut Handys und die modernen Technologien. Kollegen, sogar sein Vorgesetzter und seine Ehefrau kennen seinen Tagesrhythmus und rufen, wenn sie ihm Wichtiges mitzuteilen haben, kurzerhand im „Chai“ an, weshalb sich dessen Wirtin Yvonne nicht selten und nur scheinbar widerwillig wie seine Sekretärin fühlt. Doch sie hilft ihm gern, ist sie doch seine Vertraute, akzeptiert seine schrulligen Gewohnheiten, weiß genau, wann Lacroix etwas zu essen wünscht oder seine Ruhe braucht, um über den aktuellen Fall zu grübeln.
Mit „Lacroix und die Toten vom Pont Neuf“ ist dem Kampa-Verlag ein lesenswerter Überraschungscoup gelungen, der nahtlos an jene Maigret-Klassiker anschließt, die vom Verlag gerade in neuer Übersetzung herausgegeben werden. Wir dürfen deshalb schon auf „Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain“ gespannt sein, den zweiten Band der Lacroix-Reihe, der für März angekündigt ist.

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Bewertung vom 02.11.2019
Die Mördergrube / Arrowood Bd.2
Finlay, Mick

Die Mördergrube / Arrowood Bd.2


sehr gut

REZENSION – Mit „Arrowood – Die Mördergrube“ erschien kürzlich der zweite Band in der Reihe historischer Krimis des britischen Schriftstellers Mick Finley. Wieder begleiten wir im viktorianischen London des Jahres 1896 seinen Protagonisten William Arrowood, den leider nur zweitbesten Privatdetektiv nach Sherlock Holmes, und seinen Assistenten Norman Barnett „In den Gassen von London“ (2018), wie schon der erste Band hieß, bei der Aufklärung eines überaus mysteriösen Kriminalfalles.
Der Reiz dieser Reihe ergibt sich einerseits aus dem seelischen Konflikt Arrowoods mit dem in der Londoner Öffentlichkeit gefeierten Holmes. Während der „beste Privatdetektiv der Welt“ als aristokratisch wirkende Erscheinung in seinem luxuriösen Apartment in der Baker Street wohnt und dank seines eloquenten Intellekts beim virtuosen Geigenspiel die schwierigsten Fälle löst, muss der fettleibige Arrowood mit seiner Schwester Ettie in einer Arbeitersiedlung zur Untermiete wohnen. Verdient Holmes beim Auffinden eines vermissten Adelssprosses in nur zwei Tagen 6 000 Pfund, muss sich Arrowood mit 20 Shilling pro Tag begnügen, nicht selten dafür auch noch verprügeln lassen. Dabei fühlt er sich nach Lektüre einiger Bände psychologischer und medizinischer Fachliteratur dem berühmten Holmes intellektuell durchaus ebenbürtig, und jede Lobeshymne auf Holmes in den Zeitungen lässt den gefühlsbetonten Arrowood vor Zorn erzittern.
Im zweiten Band der Krimireihe wird dieser „zweitbeste Privatdetektiv“ vom Ehepaar Barclay beauftragt, ihre geistesschwache Tochter Birdie zu kontaktieren, die seit sechs Monaten auf einem Bauernhof außerhalb Londons verheiratet ist. Jeglicher Kontaktversuch mit der Tochter war den Barclays von der Farmerfamilie bisher verweigert worden. Arrowoods Assistent Norman Barnett, der uns vergleichbar zu Holmes' Assistent Dr. Watson an der Ermittlungsarbeit und den Missgeschicken seines Arbeitgebers teilhaben lässt, erzählt nun, wie Arrowood in strapaziösen Schritten üblen Machenschaften und einem Korruptionsfall auf die Schliche kommt, dabei aber, von Gefühlen allzu sehr geleitet und in seinen Maßnahmen oft recht tolpatschig, von einer Katastrophe in die nächste stolpert. Am Ende kommt es natürlich wie immer: Nicht Arrowood und Barnett werden in den Zeitungen als Helden gefeiert, sondern die Londoner Polizei und andere Profiteure.
Ein anderer Reiz auch dieses Romans liegt in der detaillierten Schilderung der damaligen Lebenssituation des Londoner Proletariats: Unrat auf Straßen und in Häusern, von Krankheiten gezeichnete Menschen, Saufgelage und Prügeleien bestimmen das Bild des Alltags. Hauptthema dieses zweiten Bandes ist der Umgang der damaligen Gesellschaft mit Schwachsinnigen und Menschen mit Downsyndrom, damals noch Mongoloide genannt, und der erbarmungslose und unwürdige Zustand in Armenhäusern und Nervenheilanstalten, die damals noch als Irrenhäuser bezeichnet wurden.
Der stark übergewichtige, verfressene und versoffene Privatdetektiv William Arrowood ist nicht nur als Privatermittler, sondern auch als Mensch gewiss nicht perfekt, was auch sein Assistent und Leibwächter Barnett oft zu spüren bekommt. Doch trotz allem lässt ihn Autor Mick Finley, hauptberuflich Psychologe und Universitätsdozent, auf uns durchaus sympathisch wirken: Wir freuen uns über die seltenen Erfolge des Privatdetektivs, leiden aber umso öfter bei Arrowoods Misserfolgen.
„Arrowood – Die Mördergrube“ ist wie schon der erste Band wieder ein recht unterhaltsamer und in seiner Art auch spannender Krimi. Doch stellenweise schwächelt der Roman wegen mancher Länge oder unnötig überzogener Situationsbeschreibung. Die 430 Seiten des Taschenbuches hätte der Autor gern auf 350 Seiten straffen können - zugunsten der Spannung und des Humors. Dennoch dürfte auch dieser viktorianische Krimi allen Freunden des Genres erneut Freude machen. Auf einen dritten Band müssen deutsche Leser leider noch lange warten: „Arrowood and the Thames Corpses“ ist in englischsprachiger Origina