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Lesendes Federvieh
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München
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Hinter dem Namen Lesendes Federvieh verbirgt sich das Blogger-Duo kathiduck und Zwerghuhn. Wir lesen querbeet alles, was uns zwischen die Finger kommt und veröffentlichen die Rezensionen dazu auf unserem Blog (lesendes-federvieh.de). Dort gibt es übrigens noch viele weitere Beiträge rund ums Thema Buch. :)

Bewertungen

Insgesamt 539 Bewertungen
Bewertung vom 31.12.2020
Der Halbbart
Lewinsky, Charles

Der Halbbart


ausgezeichnet

Es gibt manche Geschichten, bei den sich während des Lesens bereits ein leiser Abschiedsschmerz einstellt, obwohl noch mehrere hundert Seiten übrig sind. "Der Halbbart" ist für mich eines jener seltenen Werke, das am liebsten nie enden sollte. Charles Lewinsky schildert darin nicht nur die ersten Schritte seines Protagonisten Sebi in Richtung Erwachsenwerden, sondern lässt eposartig ein ganzes mittelalterliches Dorf mitsamt seiner liebens- wie verachtenswerten Bewohner lebendig werden.

In 83 Kapiteln erzählt er ebenso viele Geschichten aus der Sichtweise des 13-jährigen Sebi, die allesamt zusammenfließen zu einem großartigen Epos, dessen Sogwirkung man sich nur schwerlich entziehen kann. Gerade durch die Einfachheit der Sprache, die mit Schweizer Dialekt gewürzt ist, ist die Erzählung in ihrer ungeschönten, kindlichen Direktheit überaus eindringlich. Das bedeutet jedoch auch, dass dem mittelalterlichen Setting entsprechende Folterszenen detailliert geschildert werden, wie beispielsweise die stundenlange brutale Hinrichtung Teobaldo Brusatis oder die unsterile Amputation eines Beins.

Besonders herausragend finde ich jedoch die scharfen Charakterzeichnungen, welche das Innerste einer Person erlebbar nach außen kehren und das mit außerordentlicher Prägnanz und Weisheit. Zum einen wäre das der liebenswürdige, gutherzige wie arglose Sebi, dessen Reifeprozess man mitsamt der Höhen und Tiefen lebhaft mitverfolgen kann, zum anderen der titelgebende Halbbart. Zu Beginn nimmt er die Rolle des Fremden im Dorfe ein, dessen von Brandmalen gezeichnetes Äußeres auf eine düstere Vergangenheit schließen lässt und ihn zugleich zum Einzelgänger macht. Stück für Stück lernt man nicht nur seine grausame Geschichte, sondern auch seine erstaunliche Klugheit kennen, die für zahlreiche wichtige Gedankenanstöße sorgt.

Herzerwärmend, teils brutal, aber stets mitreißend hat Charles Lewinsky mit "Der Halbbart" eine eposartige Erzählung vom Erwachsenwerden, Freundschaft und Familie sowie der Kunst des Geschichtenerzählens geschaffen, die trotz ihres mittelalterlichen Schauplatzes absolut zeitlos ist.

Bewertung vom 31.12.2020
Marigolds Töchter
Woolf, Julia

Marigolds Töchter


sehr gut

Julia Woolf hat eine berührende, herzzerreißende, traurige, aber auch Mut machende Geschichte über eine Familie geschrieben, die mit der Diagnose Demenz der Mutter zurechtkommen muss. Dabei führt die Autorin den Leser sanft und mit Fingerspitzengefühl in Marigolds Vergessen ein. So erklärt sie etwa Demenz einfach und anschaulich am Beispiel eines Bücherregals, aus dem Stück für Stück die Bücher herausfallen, bis es schließlich leer ist. So ist es auch mit Marigolds Erinnerungen. Diese liebenswerte, stets hilfsbereite Frau versinkt immer mehr im Nebel. Ihre Sorgen und Nöte, ihre Versuche doch allein klarzukommen schildert die Autorin so sensibel, das trifft mitten ins Herz.

Dabei beschreibt sie wie schwer sich ihr persönliches Umfeld zunächst damit tut, aus der eigenen Komfortzone herauszuschlüpfen und die Augen vor dem Unvermeidlichen nicht mehr länger zu verschließen. Doch als die Diagnose feststeht, bemühen sich alle von ganzem Herzen, Marigold zu unterstützen. Es ist absolut berührend, wie alle zusammenhalten. Alle Figuren sind so authentisch und herzlich gezeichnet, man spürt, dass das ganze Dorf an Marigolds Schicksal Anteil nimmt. Es zeigt, dass das Gute und die Liebe die wir geben, irgendwann zurückkommen.

"Marigolds Töchter" ist ein Plädoyer für ein Miteinander und Zusammenhalt. Julia Woolf hat den geistigen Verfall Marigolds und die Reaktion ihrer Familie, Freunde und der Dorfbewohner absolut berührend beschrieben. Durch ihren angenehmen, klaren Schreibstil und ihrem Wortwitz schafft sie es am Ende, den Leser nachdenklich aber zugleich erfüllt von dieser wunderbaren Geschichte zurückzulassen und das Schreckgespenst Demenz wieder ganz hinten auf den Dachboden zu verdrängen.

Bewertung vom 27.12.2020
Schockraum
Schlegl, Tobias

Schockraum


sehr gut

"Schockraum" ist mehr als nur ein unterhaltsamer, temporeicher Roman, es ist ein lautstarker Apell an die Politik, dass sich in unserem Gesundheitssystem etwas ändern muss und das dringend. Gleichzeitig sensibilisiert es Außenstehende für die anspruchsvolle, nervenzehrende, aber auch unglaublich wichtige Arbeit des Rettungsdienstes und gibt interessante wie erschreckende Einblicke hinter die Kulissen.

Man wohnt bedeutenden Momenten wie der Geburt eines Kindes oder einer gelungenen Reanimation bei und spürt darin die brennende Leidenschaft für diesen Beruf und bekommt gleichermaßen die zahlreichen Missstände zu spüren. Kontinuierlicher Personalmangel, seelische wie körperliche Überarbeitung bei nervenzehrenden 12-Stunden-Schichten sowie mit psychischem Druck eingeforderte Überstunden und freie Tage, um die zahlreichen Lücken des Schichtplans zu stopfen, stehen leider auf der Tagesordnung.

Inmitten als dessen findet sich Notfallsanitäter Kim wieder, der nach einem traumatischen Einsatz zusehends die Kontrolle über sein Leben verliert und auch im Dienst nicht mehr richtig funktioniert. In sich wiederholenden Szenen des Grauens erhascht man kleine Einblicke in das traumatische Erlebnis, das als letzter Tropfen das randvolle mit Überarbeitung, Frust und emotionalem Stress gefüllte Fass zum Überlaufen gebracht hat. Bei diesen Albtraumrückblicken, welche in unregelmäßigen Abständen in die Geschichte eingestreut sind, handelt es sich um Variationen ein und desselben Einsatzes mit geringfügigen Unterschieden, die sich doch um ein und denselben erschreckenden Kern drehen: die Ursache für Kims seelisch instabilen Zustand.

Zwischen Adrenalin und Empathie begleitet man Kim auf seinem Kampf um das Überleben in einem Job, in dem es auf jede Sekunde ankommt. Dabei ist die mitreißende Geschichte äußerst temporeich erzählt, beeindruckt mit klarer Sprache und authentischen Charakteren, die allesamt wie aus dem Leben gegriffen wirken.

"Schockraum" ist ein temporeicher Roman von Überlebenskämpfen, Freundschaft und neuen Chancen, welcher fundiert die Augen für die harte, nervenzehrende und absolut überlebenswichtige Arbeit im Blaulichtmileu öffnet. Gleichzeitig ist es ein lautstarker Appell an die Politik nach Handlungsbedarf bezüglich des maroden Gesundheitssystems, um weiterhin Leben retten zu können.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.12.2020
Dieses ganze Leben
Romagnolo, Raffaella

Dieses ganze Leben


sehr gut

Paola fühlt sich in ihrer begüterten Familie nicht wohl. Alles ist auf Erfolg, Schönheit und Glanz ausgerichtet. Gut, dass sie ihren jüngeren Bruder Richi hat, der im Rollstuhl sitzt. Da ihre Mutter möchte, dass Paola abnimmt, verordnet sie ihr täglich Bewegung an der frischen Luft. So schnappt sich Paola Richi und die beiden unternehmen Ausflüge in Gegenden, die ihre Mutter entsetzlich findet. Doch dort fühlen sie sich wohler als in ihrem goldenen Käfig zuhause.

Raffaella Romagnolo nimmt den Leser in dieser vielschichtigen Familiengeschichte mit zu Paola und ihrer Familie. Dabei hat sie eine liebenswerte, verletzliche und kluge 16-jährige Protagonistin geschaffen, die das Herz am rechten Fleck hat und gerade mitten im Erwachsenwerden steckt. Obwohl das schon allein viel abverlangt, entspricht sie nicht dem gängigen Schönheitsideal, sie wird gemobbt und hat eigentlich keine richtigen Freunde. Sie ist anders als die anderen, ebenso ihr behinderter Bruder Richi.

Zusammen erkunden die beiden eine für sie völlig unbekannte Welt. Dabei lernen die beiden das richtige Leben kennen und decken ein gut gehütetes Familiengeheimnis auf. Die Fassade aus Lug, Trug und Schein zerspringt in tausend Stücke. All das erzählt die Autorin aus Paolas Sicht und in ihrer jugendlich flapsigen, lockeren und direkten Sprache. So konnte ich mich voll und ganz mit Paola identifizieren, man ist wieder 16 und mit ihr und Richi unterwegs, freut sich mit den beiden und fühlt ebenso mit ihren Nöten mit.

Von Beginn an war ich von dieser berührenden, spannenden und absolut lesenswerter Geschichte begeistert. Raffaella Romagnolo gelang es meisterlich einen atmosphärisch dichten Roman mit Tiefgang und wundervoll skizzierten Charakteren zu erschaffen.

Bewertung vom 26.12.2020
Der steinerne Engel
Laurence, Margaret

Der steinerne Engel


sehr gut

Die über 90-jährige Hagar Shipley will sich ihre Freiheit nicht nehmen lassen. Mit Händen und Füßen wehrt sie sich in ein Pflegeheim zu ziehen. Sie sieht nicht, dass ihr Sohn und ihre Schwiegertochter selbst nicht mehr jung sind und ihnen die Pflege immer schwerer fällt. Ein heftiger Disput entsteht. Doch während ihrer Gegenwehr driftet Hagar immer wieder in die Vergangenheit ab, sie reflektiert ihr Leben ohne jegliches Bedauern.

Mit Hagar Shipley hat Margaret Laurence eine Titelheldin geschaffen, die unverändert auch heute noch in unsere Zeit passt, obwohl "The Stone Angel" bereits 1964 veröffentlicht wurde. Sie erzählt darin von einer außergewöhnlichen Frau, die selbst über ihr Leben bestimmte, die mutig war, nicht den einfachen Weg zu gehen. Dafür bedarf es auch einer gewissen Härte gegenüber sich selbst und ihrem Umfeld. Hagar ist auf den ersten Blick zwar keine Sympathieträgerin, doch konnte ich im Laufe der Zeit ihre Entscheidungen und ihr Handeln nachvollziehen. Leise hat sie sich in mein Leseherz geschlichen - auch als Mutmacherin.

Nun mit über neunzig kann sie ihren Weg nicht mehr uneingeschränkt gehen. Die Befindlichkeiten des Alters treffen auch Hagar. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen und trotzt den körperlichen und geistigen Beschwerden. Offen und direkt schildert die Autorin die Probleme, mit denen sich Hagar herumschlagen muss. Man kann sehr gut nachvollziehen, warum sie partout nicht ins Pflegeheim möchte. Ebenso versteht man aber auch ihren Sohn Marvin und ihre Schwiegertochter Doris, denen alles zu viel wird. Gerade die unterschiedlichen Perspektiven, mit denen die Autorin an die Geschichte herangegangen ist, finde ich großartig.

Mit ihrem präzisen, geradlinigen Schreibstil und den herrlich formulierten Gedankengängen Hagars, wirkt die ganze Situation lebendig und authentisch. Stellenweise blitzt wunderbarer Humor hervor. Durch die Rückblicke in die Vergangenheit bekommt der Leser ein Gefühl von Hagar selbst. Jemand, der seine Entscheidungen stets selbst trifft, wird damit konfrontiert plötzlich nicht mehr eigenständig leben zu dürfen, das ist hart.

Mich hat "Der steinerne Engel" berührt und zum Nachdenken gebracht, denn das, was Hagar im hohen Alter erleben muss, kann jeden treffen. Mit ihrer Gewitztheit und Geradlinigkeit setzt sie dem Unvermeidlichen aber eine ordentliche Portion Kampfeswillen entgegen, der Mut macht.

Fazit: Porträt einer starken und außergewöhnlichen Frau

Bewertung vom 26.12.2020
Was der Fluss erzählt
Setterfield, Diane

Was der Fluss erzählt


ausgezeichnet

In einer stürmischen Winternacht Ende des späten 19. Jahrhunderts geschieht in Radcot, einem kleinen Dorf in England Unglaubliches: Im Gasthaus Swan sitzen die Bewohner bei guten Geschichten und Getränken zusammen, als die Tür aufgeht und ein schwerverletzter Mann mit einem leblosen Mädchen auf dem Arm eintritt. Die eilig herbeigerufene Krankenschwester Rita findet ein totes Kind vor. Doch ist das Mädchen wirklich tot? Als Rita kurze Zeit später feststellen möchte, woran sie gestorben ist, bemerkt sie, dass das Kind atmet. Die Anwesenden glauben an ein Wunder und schon bald hoffen einige Familien das Mädchen könnte ihre vermisste Tochter oder Schwester sein. Bei der Spurensuche werden unglaubliche Geheimnisse aufgedeckt, die niemand für möglich gehalten hätte...

"Was der Fluss erzählt" ist ein wundervoller Schmöker voller Fantasie mit dem man in eine fremde Welt eintauchen kann. Vergessen sind alle Unwägbarkeiten und Probleme unserer Zeit. Von der ersten Seite an verzaubert Diane Setterfield ihre Leser und nimmt sie mit nach Radcot zu Margot, Rita, zu den Vaughans und all den anderen unvergesslichen Charakteren.

Atmosphärisch dicht und absolut spannend erzählt sie die Suche nach der Wahrheit. Es ist eine wahre Freude diese leichten, aber doch tiefgründigen und fein ziselierten Sätze zu lesen. Überhaupt schwebt über der ganzen Geschichte ein Hauch von Magie, der wohlige Schauer über den Leser rieseln lässt.

Ich wollte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, denn die Geschichte ist so dicht und mitreißend gewebt, man kann sich der Sogwirkung einfach nicht entziehen. Alle Charaktere haben ihre ganz eigene Ausstrahlung, sie wirken absolut authentisch mit all ihren Ecken und Kanten. Den Weg dieser Figuren zu erlesen ist ein riesiges Lesevergnügen, das ich so schon lange nicht mehr verspürt habe. Zudem erfährt man mit Henry Daunt eine ganze Menge über die Anfänge der Fotografie und das Leben an der Themse zu dieser Zeit.

Diane Setterfield ist ein großartiger Roman gelungen, der Fantasie und Wirklichkeit auf absolut lesenswerte Weise miteinander verbindet. Dieser fulminante Cocktail aus Erzählkunst, Spannung, Schauerelementen, Dramatik, Freundschaft und Liebe verleiht diesem Roman seine besondere Güte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.12.2020
Schindlers Lift
Cvijetic, Darko

Schindlers Lift


ausgezeichnet

1975 wurden in Prijedor das blaue und das rote Hochhaus errichtet. Dort gab es ein modernes Wohnkonzept. Es wohnten Ärzte und Lehrer neben Bergbau- und Fabrikarbeitern. Serben, Kroaten und Bosnier lebten ein multikulturelles Jugoslawien. Doch dann kam das Jahr 1992 und mit ihm der Bosnienkrieg, der tausenden von Menschen das Leben kostete. Auch die Hochhausbewohner wurden mit aller Macht in den Strudel der Ereignisse gerissen...

Ethnische Säuberungen, Massengräber, ganze Familien werden auseinandergerissen und ins Unglück gestürzt. Über all das Grauen, das in den 1990 iger Jahren in Südosteuropa stattfand, erzählt Darko Cvijetić schonungslos offen und so gut, dass man betroffen und sehr nachdenklich zurückbleibt.

Dabei spannt er seinen Erzählbogen beginnend 1975, über die Kriegsjahre bis hin in die Jetztzeit. In 32 Kapiteln nimmt er den Leser mit zu den Familien, die im Hochhaus wohnen, zu ihren Sorgen und Nöten. Die Figuren begegnen sich im Laufe der Jahre immer wieder, ihre Schicksale scheinen miteinander verknüpft zu sein. Beim Lesen meint man auf alte Bekannte aus unbeschwerten Zeiten zu treffen und genau das ist es, was den Erzählstil dieses Autors für mich so großartig und unvergleichlich macht, denn durch diese Nähe zu seinen Protagonisten spürt man das unfassbare Grauen noch intensiver. In einem präzisen, poetischen und unaufgeregten Stil beschreibt er die unfassbaren Gräueltaten, die der Krieg mit sich brachte. Man ist im Hochhaus dabei und hat das Gefühl, niemand, wirklich niemand konnte sich den körperlichen oder seelischen Brutalitäten entziehen. Jede Familie ist betroffen.

Es gibt viele aufwühlende aber auch warmherzige Momente im Buch, man erfährt nicht nur viel zeitgeschichtliches, sondern auch eine ganze Menge über die bosnische Seele. "Schindlers Lift" ist ein hochemotionales und bewegendes Buch gegen das Vergessen und landet auf meiner Lieblingsbücherliste 2020 ganz weit oben.

Fazit: Ein poetisches Stück Zeitgeschichte, das im Gedächtnis verwurzelt bleibt

Bewertung vom 15.12.2020
Die Stille
DeLillo, Don

Die Stille


gut

New York 2022: Fünf Personen wollen gemeinsam das Superbowl-Finale ansehen. Die emeritierte Physikprofessorin Diane Lucas, ihr Mann Max Stenner und ihr früherer Student Martin warten auf ein befreundetes Ehepaar, das sich noch auf dem Rückflug von Paris befindet. Sie unterhalten sich über Einstein, ein astrophysikalisches Teleskop und über Whiskey. Plötzlich sind alle Bildschirme schwarz, ihre Freunde berichten von einem dramatischen Flug. Die fünf versuchen das Geschehen zu begreifen...

Don DeLillo zeichnet in seinem kleinen Buch ein Bild unserer Gesellschaft und schildert was geschehen kann, wenn ein digitaler Zusammenbruch plötzlich das Gewohnte auf den Kopf stellt.

Er skizziert seine Protagonisten in kurzen, scharfen Bildern, man lernt sie gerade so kennen. Sie sind anstrengend, reden ständig aneinander vorbei und sind somit eigentlich als größerer Schrecken wahrzunehmen als der eigentliche digitale Zusammenbruch. Dieses präzise Hinsehen hat mir gut gefallen, aber trotzdem sprang der Funke bei mir nicht richtig über.

Ich finde, das Thema ist zu gehaltvoll, um auf wenigen Seiten abgehandelt zu werden. Ich wäre gerne noch tiefer in die Handlung eingestiegen, das ist in dieser Kürze aber leider nicht möglich gewesen. Die Charaktere blieben ungewohnt steril, ich konnte nur schwer Zugang zu ihnen finden. Das Sprichwort "In der Kürze liegt die Würze" trifft hier für mich leider nicht zu. Für mich wäre etwas mehr besser gewesen, denn die Auswirkungen der Abhängigkeit von Digitalisierung auf unser Zusammenleben finde ich sehr interessant. Ich konnte einige Aspekte zum Nachdenken aus der Lektüre mitnehmen, aber trotzdem konnte mich diese Novelle nicht ganz überzeugen.

Allerdings könnte ich mir gut vorstellen, dass der Text sehr gut als Hörspiel oder Kammerspiel funktionieren könnte.

Fazit: "Die Stille" war mir zu still.

Bewertung vom 13.12.2020
Ich weiß auch nicht, wie die Christbaumkugel da hinkommt
Kay, Adam

Ich weiß auch nicht, wie die Christbaumkugel da hinkommt


sehr gut

Krankheiten kennen keine Feiertage, weshalb der Krankenhausalltag auch an Weihnachten munter weitergeht. Der ehemalige Assistenzarzt Adam Kay blättert in seinem Tagebuch zurück und erzählt von herzzerreißenden wie urkomischen Geschichten, die nur das Leben schreiben kann. Denn zur Weihnachtszeit kommen nicht nur Babys zur Welt, zuweilen werden Patienten vor lauter Liebeseuphorie mit plötzlichen Allergien konfrontiert oder müssen sich gar Christbaumkugeln von den ungewöhnlichsten Orten entfernen lassen.

Wer auf der Suche nach einem etwas anderen Buch für die Weihnachtszeit ist, der ist bei "Ich weiß auch nicht, wie die Christbaumkugel da hinkommt" genau richtig. Urkomisch und mit bitterbösem schwarzen Humor lupft der ehemalige Assistenzarzt Adam Kay den blauen Vorhang und gibt amüsante wie berührende Einblicke in den Krankenhausalltag bzw. -wahnsinn in der Weihnachtszeit.

Sieben Weihnachten begleitet man Adam Kay bei seinen Feiertagsschichten in einer britischen Klinik zwischen nervenaufreibenden Geburten, missglückten Sexualpraktiken und schmerzhaften Abschieden in Form seiner Tagebucheinträge. Diese strotzen nicht nur vor beißendem Sarkasmus und jeder Menge Situationskomik – bei einer Szene mit einer gewissen singenden Krawatte musste ich beispielweise trotz aller Ernsthaftigkeit Tränen lachen – , sondern geben zugleich einen erinnerungswürdigen Einblick in die Facetten der Menschlichkeit.

Dabei versuchen sich einige Patienten an Absurdität gar zu übertrumpfen, was einerseits die Lachmuskeln trainiert, andererseits aber auch verständnisloses Kopfschütteln hervorruft. So sorgte die in Liebeseuphorie zum Gleitgel umfunktionierte Erdnussbuttercreme beispielsweise für gehörige allergische Reaktionen, während ein anderer Patient mit Dehydratation zu kämpfen hat, nachdem er sich aus Spaß an der Freude vollständig in Alufolie eingewickelt hatte.

Zu meinen persönlichen Highlights zählen auch die kurzen Gedichtzeilen, die sich eingangs jeden Weihnachtsjahres finden, Poesie mit grandiosem Humor verknüpfen und gleichzeitig die Ereignisse der darauffolgenden Seiten anteasern. Hier eine kurze Kostprobe: "Wen siehst du da im Arztkittel in der Farbe Magenta? Das bin ich – von Kopf bis Fuß besudelt mit Plazenta." (S. 77)

"Ich weiß auch nicht, wie die Christbaumkugel da hinkommt" ist das perfekte Geschenkbuch für alle Festtagsarbeiter und Liebhaber etwas anderer Weihnachtsgeschichten, denn es beeindruckt mit bitterbösem Humor und großartigen Anekdoten über die einmaligen Absurditäten der Menschlichkeit.

Bewertung vom 13.12.2020
Oberkampf
Klute, Hilmar

Oberkampf


ausgezeichnet

Jonas Becker lässt sein altes Leben inklusive gescheiterter Beziehung hinter sich und beginnt einen Neuanfang als freier Schriftsteller in Paris. Möglich macht dies sein Verlag, der ihm eine kleine Wohnung in der Rue Oberkampf bezahlt, während Jonas ein Buch über den hochbetagten Schriftsteller Richard Stein schreibt, der in Paris lebt. Er arbeitet am Manuskript und genießt mit seiner neuen Freundin Christine das Leben. Doch Jonas Aufenthalt wird von den Auswirkungen des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo überschattet. Doch nicht nur dadurch, sondern auch negative Nachrichten aus der Heimat belasten seine neugewonnene Freiheit…

Hilmar Klute hat einen wunderbaren Roman geschrieben, der eine Lebendigkeit versprüht, die mich von Anfang an begeisterte. Durch die bildgewaltige Sprache und die atmosphärische Dichte der Ortsbeschreibungen findet man sich bei einem Spaziergang durch Paris wieder. Man merkt, dass der Autor Paris „selbst gelebt hat“, so authentisch beschreibt er die französische Lebensweise.

Vor dieser grandiosen Kulisse lässt er ein Stück Zeitgeschichte wieder aufleben, das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo und die damit verbundene Fassungslosigkeit in ganz Frankreich. Dabei schafft er es mühelos durch seinen sprachgewaltigen Schreibstil diese Stimmungen einzufangen. Gleichzeitig fokussiert er seine Betrachtungsweise nicht einseitig auf das Verbrechen, sondern versucht einen Einblick in die Lebensumstände der Menschen aus den Banlieues zu geben, aus denen die Attentäter entstammen.

Zugleich nimmt er den Leser mit zu Jonas, seinen Schatten der Vergangenheit, seiner Freude an guten Büchern, seinen Eindrücken zum Attentat und seiner aufreibenden Arbeit mit dem nicht immer leichten Richard Stein. All das erzählt der Autor in leichten, gewaltig dahinfließenden Sätzen, die gespickt sind von grandiosen Dialogen. Abgerundet wird die Geschichte durch ein fulminantes Ende. Alles Geschriebene verdichtet sich zu dem einzig schlüssigen und unabwendbaren Schlussakzent, alles andere würde sich einfach falsch anfühlen. Der letzte Satz wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben.

"Oberkampf" kommt auf jeden Fall auf die Liste meiner Lieblingsbücher 2020, denn darin wird lebendige Zeitgeschichte erstklassig erzählt.