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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Kleine Aussichten
Munro, Alice

Kleine Aussichten


ausgezeichnet

Del Jordan, die Icherzählerin im einzigen Roman Alice Munros, wächst außerhalb der Stadt Jubilee/Ontario auf einer Farm auf. Eine unbefestigte Straße, der nächste Laden und zwei geisteskranke Bewohner markieren den Heimatort von Del und ihrem Bruder Owen. Dels Vater züchtet auf seiner Farm Füchse, die Familie lebt vom Verkauf der Felle. Die Kinder vergnügen sich beim Angeln mit Onkel Benny, dem Arbeiter des Vaters, und saugen begierig die üblichen Familiengeschichten auf. Del wächst mit dem Vorbild ihres genügsamen und fleißigen Vaters auf. Besonders Mädchen wird Bescheidenheit gepredigt. Mädchen sollen nicht "überspannt" sein und besonders Frauen müssen auf Geld, Ruhm, eine Berufsausbildung oder die Fahrerlaubnis verzichten können. Dels Mutter erfüllt ihre Pflichten auf der Farm, bis sie durch ihren Umzug nach "Jubilee-City" mit den Kindern aus dem provinziellen Trott ausbricht und fortan vom Verkauf von Enzyklopädien lebt. Mutter und Tochter verbindet der Hunger nach Wissen. Der Vater betreibt weiter seine Fuchszucht. Die Entdeckung, dass es außer dem jüngeren Bruder noch andere Jungen gibt, läutet - unter den strengen Blicken der Dorfbewohner - Dels Erwachsenwerden ein. Ihr Drang, den für ein Mädchen in der Provinz vorgezeichneten Weg zu verlassen, ist nicht mehr zu bremsen. Dels Mutter mit ihren ungewöhnlichen Ideen ist daran nicht unschuldig. Sie überlegte z. B., ob man Ontarios Schneemassen in der Zukunft evtl. bewältigen könnte, indem die Bewohner unter Kuppeln leben.

Die Ich-Erzählerin Del gehört zur Generation der Autorin, ihre Lebensumstände ähneln stark der der jugendlichen Alice Munro in den 40ern. Mit der Veröffentlichung von Munros biografischen Erzählungen (engl. 2006) Wozu wollen Sie das wissen? Elf Geschichten aus meiner Familie (2008) hat sich mein Blick auf diesen Roman komplett verändert. Während ich zuvor Munros zeitlos-scharfsichtige Darstellung der kanadischen Provinz bewunderte, entdecke ich beim zweiten Lesen, wie stark Munros eigene Biografie diesen Roman prägte. Auch Munros Vater hat sich als Fuchszüchter durchgeschlagen, bis in der Folge des Zweiten Weltkriegs der amerikanische Markt für Pelze einbrach. Munros Schauplatz ist auch in ihrem einzigen Roman die kanadische Provinz, ihr Thema das Schicksal von Frauen und heranwachsenden Mädchen auf der Suche nach eigenen Wegen. Wie Munros Kurzgeschichtensammlungen beeindruckt auch ihr 1971 erschienener Roman durch seine Zeitlosigkeit und den scharfsinnigen Blick der Autorin für ihre Figuren.

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Zitat
"Am Nachmittag saßen sie auf der Veranda, nachdem sie ihre morgendliche Dauerleistung im Bodenschrubben, Gurkenhacken, Einmachen, Pökeln, Waschen, Stärken, Wäschesprengen, Bügeln, Waschen, Backen hinter sich hatten. Sie saßen dort nicht müßig; sie hatten den Schoß voller Arbeit - Kirschen, die entsteint, Erbsen, die enthülst, Äpfel, die entkernt werden mussten. Ihre Hände, ihre alten, dunklen Schälmesser mit den Holzgriffen bewegten sich mit wunderbarer, fast rachsüchtiger Schnelligkeit. Zwei oder drei Wagen kamen in der Stunde vorbei, verlangsamten gewöhnlich die Fahrt, und die Stadtleute, mit denen sie besetzt waren, winkten. Tante Elspeth und Tante Grace riefen dann die Formel ländlicher Gastfreundschaft: "Kommt doch eine Weile herein, weg von dieser heißen, staubigen Straße!", und die Leute im Wagen riefen zurück: "Täten wir, wenn wir Zeit hätten! Aber sagt, wann kommt ihr denn mal bei uns vorbei?" " (S. 39/40)

Bewertung vom 04.01.2017
Weit vom Stamm
Solomon, Andrew

Weit vom Stamm


sehr gut

Auslöser für Andrew Solomon, sein Buch über zwölf Behinderungen oder Abweichungen von der Norm zu verfassen, war ein Auftrag, für das New York Times Magazine über Gehörlosigkeit zu schreiben. Andrew Solomon recherchierte für sein Buch u. a. aus der Erkenntnis heraus, dass moderne Gesellschaften sich vor Andersartigkeit fürchten. Noch immer flüchten sich Außenstehende in Schuldzuschreibung gegenüber den betroffenen Eltern, selbst wenn eine Abweichung genetisch bedingt ist oder schicksalhaft durch eine Krankheit verursacht wurde. Solomon hat eine Fülle von Äußerungen Betroffener zusammengetragen (die er auf über 60 Seiten Anmerkungen dokumentiert) und eine gewaltige Menge von Sachinformationen; allein die Bibliographie umfasst 100 Seiten. In zwölf Kapiteln stellt der Autor die Schicksale gehörloser oder kleinwüchsiger Kinder vor, er besuchte und interviewte Familien, deren Kinder vom Down Syndrom, Autismus, Schizophrenie, schwerster Mehrfachbehinderung, Hochintelligenz, Transsexualität, Kriminalität betroffen sind oder deren Kind nach einer Vergewaltigung zur Welt kam. "Es ist schwieriger, die Eltern eines Behinderten zu sein als der Behinderte selbst," stellt der Autor bei seiner Recherche fest. Die Eltern begabter junger Musiker verdeutlichen schließlich, welche Gemeinsamkeit alle Schicksale verbindet - es ist der Zwang, das gesamte Familienleben nach den Bedürfnissen eines oder mehrerer besonderer Kinder auszurichten. Im Fall Schwerstbehinderter kann dieser Zwang dazu führen, dass die überlasteten Eltern aus Überforderung ihr Kind und sich töten.

Solomon hat selbst vielfältige Erfahrungen mit dem Anderssein als Sohn einer Mutter, die lernte, ihren jüdischen Glauben zu verbergen, als Homosexueller, als Vater eines durch Eizellspende gezeugten und von einer Leihmutter ausgetragenen Sohnes und als Legastheniker, dessen Leseprobleme von seiner Mutter tatkräftig therapiert wurden, während sie ihm den Wunsch nach einem pinken Luftballon abschlug. Solomon erfährt sich schon früh als Angehöriger einer Subkultur.

Anhand der Situation Gehörloser erläutert der amerikanische Psychiater die Situation von Eltern, die schon sehr früh für ihr behindertes Kind weitreichende Entscheidungen treffen müssen, die die Gesundheit und den weiteren Lebenslauf entscheidend beeinflussen werden. Im Falle gehörloser Kinder war das lange eine Entscheidung gegen die Gebärdensprache und für eine - für das Kind anstrengende und meist erfolglose - Sprachtherapie. Inzwischen ist es die Entscheidung für oder gegen ein Cochlea-Implantat. Am Beispiel der Gehörlosen wird hier die Selbstwahrnehmung Behinderter als Subkultur oder eigene Ethnie deutlich. Die Gruppe kann sich in ihrer Identität geschwächt fühlen, wenn weniger Menschen mit dieser Behinderung zur Welt kommen (durch Eindämmung der dafür ursächlichen Krankheit) oder durch die Möglichkeit per pränataler Diagnostik oder Präimplantationsdiagnostik genetisch bedingte Behinderungen auszuschließen. Gehörlose Eltern haben diese Möglichkeiten bereits genutzt, um gezielt ein nicht hörendes Kind zu bekommen, das so ist wie sie selbst.

Übersetzungen von Büchern amerikanischer Autoren über die Lebenswelt Behinderter müssen mit Abstrichen gelesen und beurteilt werden. Das US-Bildungs- und Gesundheitssystem unterscheidet sich erheblich von dem anderer Länder, so dass viele der geschilderten Erfahrungen nicht übertragbar sind. Solomons zwölf Kapitel vom Anderssein fallen deshalb für deutsche Leser höchst unterschiedlich interessant aus. Von grundlegenden behindertenpolitischen Überlegungen zum Thema Inklusion, über historische Gegebenheiten der 60er und 70er Jahre, der Begegnung mit den Eltern eines der Colombine-Amokläufer, Anekdoten von musikalischen Wunderkindern bis zu seinen faktenreichen Kapiteln über Schizophrenie und schwere Formen des Autismus. Zwölf Kapitel, beim Lesen herausfordernd wie zwölf einzelne Bücher.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Kindheit Jesu
Coetzee, J. M.

Die Kindheit Jesu


gut

Flüchtlinge ohne Erinnerungen
Als Flüchtling erreicht Simón nach einer Schiffsreise ein fiktives, spanischsprachiges Land. In seinen neuen Wohnort Novilla bringt er aus dem Flüchtlingslager den elternlosen Jungen David mit, für den er sich nun verantwortlich fühlt. David trägt Stiefel, einen Wollmantel und Wollsocken und erzeugt damit bei mir Bilder Jahrzehnte zurückliegender Menschentransporte in Europa. Die Verwaltung von Novilla ist auf die eintreffenden Flüchtlinge vorbereitet, überlässt jedoch die Neuankömmlinge auf der Suche nach Unterkunft und Nahrung weitgehend sich selbst. Die Aufnahme der neuen Bewohner wirkt wie ein Schildbürgerstreich, wenn z. B. ein Zimmer zugeteilt wird, zu dem angeblich der Schlüssel verschwunden ist. Die Bewohner von Novilla lassen die Dinge auf sich zukommen und ergreifen selbst kaum Initiative. Alle Zuwanderer leben mit einer neuen Identität und ohne Vergangenheit. Alteingesessene vermitteln sogar den Eindruck, sie hätten körperliche Empfindungen wie Hunger längst hinter sich gelassen. Für überflüssige Dinge und nutzlose Sehnsüchte werden keine Wörter gebraucht, woraus für Simón trotz seiner guten Sprachkenntnisse Verständigungsprobleme entstehen. Trotz der sinnlos-schikanösen Verwaltungsroutine findet Simón Arbeit als Schauermann im Hafen, bekommt eine Wohnung zugewiesen und beschafft für David und sich 'Brot und Wasser'. Simón verfolgt die fixe Idee, für David eine Mutter suchen zu müssen; denn jedes Kind braucht seiner Meinung nach eine Mutter. Eine alternative Betreuungsmöglichkeit für den noch nicht schulpflichtigen David kommt Simón nicht in den Sinn. Inés, eine Zufallsbegegnung, wird von Simón zu Davids Mutter erklärt; sich selbst sieht Simón erst an zweiter Stelle in Davids Leben in einer Rolle als Pate. Simón hat bisher alles aufgegeben, seine Heimat, seine Muttersprache; David loszulassen fällt ihm erheblich schwerer. In die Empfindungen eines elternlosen Fünfjährigen auf der Flucht kann Simón sich nicht versetzen und laviert die Pate-Kind-Beziehung in Richtung Scheitern. David entwickelt sich unter Inés' Einfluss anders als Simón sich das für einen Jungen vorgestellt hat. Auf Davids für sein Alter nicht ungewöhnliche üppige Phantasie und seine kindlichen Allmachtsvorstellungen reagiert Simón autoritär und unflexibel. Er will den Jungen in kürzester Zeit möglichst viel lehren, ohne Rücksicht darauf, ob David für den Wertekanon aus Erwachsenenperspektive überhaupt bereit ist. Kurz nach Davids Einschulung kommt es zu Problemen in der Schule, weil er sich nicht in die Klasse einfügen will. Davids ungewöhnliche Pflegeeltern erleben zu ihrem Erstaunen, dass der in vielen Bereichen lässig wirkende Staat eine sehr effektive Schulbürokratie unterhält.

Fazit
Anders als von Coetzee evtl. beabsichtigt habe ich das Buch nicht als religiöse Parabel gelesen, sondern als utopische Fortschreibung der aktuellen politischen Lage mit ihren Flüchtlingsströmen. J. M. Coetzee hat ein fiktives Land mit sozialistischen Ansätzen erdacht, das jedem seiner Bürger einen bescheidenen Lebensstandard gewährt und kaum Leistungsanforderungen stellt. Simón ist im Hafen offenbar der erste Arbeiter, der über Sinn und Produktivität der Abläufe nachdenkt. In Coetzees schöner neuer Einheitswelt sprechen die Figuren zwar von Emotionen, ihre Gefühle sind für mich jedoch selten nachzuempfinden. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Figur, die ihre Vergangenheit und ihre Muttersprache zurückgelassen hat und die zentrale Beziehung zu einem Flüchtlingskind einem starren Idealbild opfert. Simóns beharrliche Suche nach einer Mutter für David wirkt allein durch behauptete - nicht durch gezeigte - Emotionen, seine Idealisierung der Mutterfigur befremdet mich. Coetzees nur knapp skizziertes Szenario muss vom Leser in dessen Phantasie erst zu einem Bild vervollständigt werden. Wer noch unvollständig wirkende "Landkarten" wie diese gern selbst weiterdenkt, findet in "Die Kindheit Jesu" ausreichend Gelegenheit dazu.

Bewertung vom 04.01.2017
Aus den Ruinen des Empires
Mishra, Pankaj

Aus den Ruinen des Empires


ausgezeichnet

Pankaj Mishra vollzieht einen für das Verständnis islamischer und asiatischer Staaten notwendigen Blickwechsel auf die Weltgeschichte, stellt in biografischen Essays die für ihre Zeit ungewöhnlich fortschrittlichen Denker Dschamal ad-Din al Afghani (1838-1897) und Liang Qichao (1873-1929) vor und vermittelt eindringlich den Eindruck der Demütigung muslimischer Staaten durch "den Westen", der Grundlage des Verständnisses aktueller Konflikte zwischen westlichen und muslimischen Staaten ist.

Wer sein Globusmodell in Bewegung setzt, um Geschichte einmal von der anderen Seite der Weltkugel aus zu betrachten, muss zwangsläufig aus anderer Perspektive urteilen. So ist für Pankaj Mishra nicht der Zweite Weltkrieg der prägende, "große" Krieg, sondern die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Japan und China (die zwischen 1937 bis 1945 allein 3,5 Millionen Tote forderten). Japans militärische Überlegenheit hatte nicht nur politische und militärische Bedeutung, sondern ebenso geistig-moralische. Aus dem Blickwinkel Asiens fand 1904 die entscheidende Seeschlacht von Tsushima zwischen Russland und Japan um die Herrschaft über Korea und die Mandschurei statt. Japans Sieg beendete die Unbesiegbarkeit "der Weißen" und führte zu einem Domino-Effekt, der schließlich auch das Selbstbewusstsein der muslimischen Länder Vorderasiens hob.

Neben zahlreichen essayistischen Splittern zum Ost-West-Verhältnis konzentriert sich der gebürtige Nordinder Mishra in seinem Buch auf zwei beispielhafte Denker und Erneuerer. Dschamal ad-Din al Afghani zählte als Katalysator für den Wandel zu den Gründern der islamischen Moderne und repräsentiert eine gebildete Klasse, deren Modernisierungsbestrebungen den herrschenden (religiös gebildeten) Eliten zu weit gingen. Der gebürtige Perser war in der Lage, als Religionskritiker den Islam in neuen Kontexten zu sehen. Er wurde zum Gründer des ägyptischen Journalismus (bereits 1875 wird die Zeitung Al-Aham gegründet). Interessant fand ich, dass der unabhängige Denker schon zu seiner Zeit Merkmale definierte, die bis heute das wirtschaftliche Wachstum nordafrikanischer Staaten behindern und damit ursächlich für die aktuellen Krisen dieser Länder sind: die Paukschule (obwohl damals unter westlichem Einfluss der Kolonialmächte organisiert), mangelndes Interesse an Naturwissenschaften und an Ereignissen in der übrigen Welt, das Fehlen einer kritischen Presse, eine verarmte, unzufriedene Unterschicht, regiert von einer korrupten Führungsschicht.

Liang Qichao (1873-1929) inspirierte als erster moderner Intellektueller, Gelehrter und Reformer Chinas mehrere Generationen von Denkern. Liang wird zum Tode verurteilt, flieht aus China nach Japan und wird dort der berühmteste Intellektuelle. Zahlreiche chinesische Studenten können zu Beginn des 20. Jahrhunderts beim Studium in Japan die ersten Erfahrungen mit westlichen Kulturen und Werten machen. Erst wer Kontakte zu anderen Ländern pflegt, muss die Überzeugung infragestellen, das eigene Land sei die Mitte der Welt. Die intellektuelle und politische Atmosphäre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Asien und die Probleme der heterogenen asiatischen Staaten stellt Mishra sehr lebendig dar.

Bekannter als die og. Vordenker ist als Literaturnobelpreisträger von 1913 Rabindranath Tagore. Er vervollständigt die Reihe scharfsinniger Beobachter zu seiner Zeit von Europäern beherrschter asiatischer Staaten. Tagore hatte keine antiwestliche Einstellung, lehnte aber wie Gandhi den institutionalisierten, bürokratisierten und militarisierten Staat ab.

Pankaj Mishra charakterisiert - an Leser aus dem Westen gerichtet - aus asiatischer Sicht eindrucksvoll historische Ursachen der Krise der islamischen Welt und richtet den Blick auf zwei bisher wenig bekannte Reformer aus dem Persien des 19. Jahrhunderts und aus China zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Bewertung vom 04.01.2017
Es war einmal Indianerland
Mohl, Nils

Es war einmal Indianerland


sehr gut

Was in den letzten zehn Tagen vor dem Ende der Ferien passierte, läuft hinter der Stirn des siebzehnjährigen Icherzählers wie ein Film ab. Das Drehbuch dieses Films ist der zweigeteilten Handlung vorangestellt: Die Ereignisse dauern von Mittwoch bis zum Mittwoch der folgenden Woche und von Donnerstag bis Samstag. Mitten in die erste Woche wird der Leser hinein katapultiert, um dann Szenen zu folgen, die keinem erkennbaren roten Faden folgen. Der Icherzähler, der sich selbst das Grünhorn nennt, jobbt in den Ferien auf einer Baustelle. Er hängt mit seinen Kumpels Mauser und Kondor ab, mit denen er gemeinsam boxt; Höhepunkt der Ferien sind nächtliche Feten im Freibad. Der Erzähler ist offenbar niemandem Rechenschaft schuldig; niemand erwartet ihn zu Hause. Die Jungs leben in einer Hochhaussiedlung, die den meisten Lesern aus den Nachrichten bekannt ist, seit hier ein Kind kurz vor seinem Tod, eingesperrt in seinem Zimmer, vor Hunger die Teppichfasern verschlang. Genau in dieser Siedlung hat vor kurzem Zöllner, der Vater von Kumpel Mauser, seine zweite Frau ermordet. Die Tat kann noch nicht lange her sein; denn das Absperrband der Polizei ist noch zu sehen. Warum der flüchtige Zöllner das Denken des Erzählers so stark bestimmt, entwickelte sich für mich überraschend zum roten Faden der Geschichte

Die Gespräche der Jugendlichen drehen sich um ein geplantes Konzert und um eine Flashmob-Aktion unter dem Motto: Wir feiern nicht, wir eskalieren. Der Erzähler nimmt in der Stadt immer wieder Figuren wahr, die wie Indianer aussehen und entscheidet sich jedes Mal bewusst gegen einen zweiten Blick auf die Figur, um der Sache mit den Rothäuten lieber nicht genauer nachzugehen.

Das Grünhorn steht zwischen zwei Frauen, Jackie, von der er sich hängengelassen fühlt, und Edda, der Frau aus der Videothek. Edda ist älter als Grünhorn, hat einen Job, ein von der Oma geerbtes Häuschen in einer ehemaligen Schrebergartenkolonie. Um Grünhorns Aufmerksamkeit wirbt sie mit äußerst findigen, filmreifen Ideen. Unsicher, wer er selbst eigentlich ist, stellt sich dem jungen Mann die Frage, was Mädchen von ihm wollen - und ob er überhaupt an einer der beiden Frauen interessiert ist. Mit der Maxime: Mit Sex habe ich es nicht so eilig, kann man nicht sehr viel falsch machen, findet er. In der zweiten Hälfte der Geschichte wirkt der Erzähler seiner selbst und der Beziehungen plötzlich unsicherer als zu Beginn. Er notiert nun, was er über andere und über die Ereignisse noch nicht sicher weiß. Diese Entwicklung verläuft gegenläufig zu meiner Einschätzung des Jungen. Grünhorn wirkte längst nicht so verplant auf mich, wie er sich selbst sieht. Wer beobachtet und schreibt wie er, um dessen Heranwachsen sollte sich kein Erwachsener sorgen müssen.

"Es war einmal Indianerland" hatte als Buch einen unrunden Start bei mir. Nach den ersten 100 Seiten vermisste ich den roten Faden, fragte mich, ob ich den Einzelszenen eine lineare Handlung vorgezogen hätte und legte das Buch zur Seite. Nach der zweiten Begegnung mit der Selbstfindung eines jungen Mannes bleiben in meiner Einschätzung Grünhorns und seiner Clique noch immer Lücken, die sich durch Zurückblättern füllen lassen. Eine schräge Geschichte, die Sex&Drogen nicht auslässt, und in der ernsthafte Jugendliche schräge Dinge erleben.

Bewertung vom 04.01.2017
Stadtrandritter
Mohl, Nils

Stadtrandritter


sehr gut

Als hätte ich mitten in einen Film gezappt ...
"Stadtrandritter" erscheint als unabhängiger zweiter Teil von Mohls Trilogie "Liebe, Glaube, Hoffnung". Im Mittelpunkt der Geschichte stehen der siebzehnjährige Silvester, seine ältere Freundin Domino und die deutlich jüngere Merle. Silvester steht zwar zwischen den beiden Frauen, stärker jedoch bewegt ihn der Tod seiner Schwester Kitty, den er auch nach drei Jahren noch nicht verarbeitet hat. Silvester grübelt noch immer, ob Kitty überlebt hätte, wenn ihr rechtzeitig jemand zu Hilfe gekommen wäre. Silvesters Kiez am Stadtrand verbreitet absolute Trostlosigkeit. Allein Merle hat ein Familienleben, alle anderen Figuren sind sich selbst überlassen. Um Kondor, der in einem Autowrack lebt, kümmert sich Pastor Kamp, als Kondor seinen Tagelöhnerjob und damit den Boden unter den Füßen verliert. Hier können Jugendliche entweder zu Edda in die (aus Es war einmal Indianerland bekannte) Videothek gehen oder sich in der Konfirmandengruppe des Pastors Kamp engagieren. Die Videothek ist nun geschlossen, bleiben nur die "Katakomben", in denen die Kirche einen Filmclub organisiert. Verbindungen zwischen dem Element Feuer, dem Spielen mit dem Feuer und dem sozialem Zündstoff des Stadviertels sind im Roman zu ahnen, sie drängen sich jedoch nicht auf. Auch die Auseinandersetzung mit dem Glauben der Protagonisten und ihrem Verhältnis zur Institution Kirche (symbolisiert durch den kreuzförmigen Grundriss der Hochhäuser auf dem Buchcover) findet fast vollständig im Kopf des Lesers statt.

Dem zentralen Ereignis, dem Brand am Rande einer Hochhaussiedlung, nähert man sich als Leser wie im preisgekrönten "Indianerland" als hätte man wahllos in einen Film hineingezappt und müsste sich erst orientieren, worum es geht. Ein großer Schritt führt um drei Jahre zurück, anschließend werden die Ereignisse rekapituliert, die dem Brand vorausgingen. Optisch wird das Zappen in die Vergangenheit durch die Bediensymbole Vorwärts, Rückwärts, Pause, Aus zwischen den Kapiteln verstärkt. Die wiederkehrende Kapitelüberschrift "Âventiure" sorgt für Assoziationen zu Rollenspielen oder Mittelalterfesten. Rückblenden und Aussagen von Merle, Silvester und Kondor lassen allmählich ein Bild der Ereignisse entstehen. In der letzten Szene werden der Film im Kopf des Lesers und die Wirklichkeit wieder zusammengeführt. Das Zusammentragen von Details aus verschiedenen Erzählperspektiven könnte man wie das Sammeln von Zeugenaussagen im Krimi auf sich wirken lassen.

Als 700-Seiten-Epos erfordert Mohls zweiter Großstadtroman hohe Aufmerksamkeit und macht es seinen Lesern nicht leicht, mit seinen spröden Figuren zu sympathisieren. Empfohlen wird das Buch vom Verlag für Leser ab 14! Für einen Roman dieses Umfangs hätte ich mir eine größere Tiefe wenigstens einer Figur gewünscht.

Bewertung vom 04.01.2017
Neuland
Nevo, Eshkol

Neuland


ausgezeichnet

In Familien von Holocaust-Überlebenden kann theoretisch niemand etwas wirklich Schlimmes widerfahren; denn was könnte schlimmer sein als die Erinnerungen der Überlebenden? Lilli floh als junges Mädchen nach Palästina, ihre Familie überlebte den Holocaust nicht. Ihr Leben lang wird Lilli der Gedanke belasten, dass sie sich vor ihrer Abreise nicht mehr von ihrem Vater verabschieden konnte. Während sich in der Gegenwart ein weiterer Krieg um Israel ankündigt, ängstigt sich die zunehmend verwirrte Lilli um ihre erwachsene Enkeltochter. Inbar will für ein paar Tage ihre Mutter Hanna und deren deutschen Lebensgefährtin in Berlin besuchen. Lillis Misstrauen gegen die Deutschen lässt sich selbst mit der Information nicht zerstreuen, dass Hannas Partner Bruno während des Nationalsozialismus erst drei Jahre alt war. Nach Berlin kann ein Isaeli unter keinen Umständen fahren, statt der Juden würden die Deutschen jetzt Türken und Ostdeutsche hassen, bemängelt Lilli. Inbars konfliktreiches Verhältnis zu ihrer Mutter bessert sich während des Kurzurlaubs nicht, beide scheinen mit ihren Streitereien noch in der Zeit von Inbars Pubertät stecken geblieben zu sein, obwohl Inbar mittlerweile dreißig Jahre alt ist. Aus der aufgeheizten Situation heraus bucht Inbar spontan einen Flug nach Südamerika anstatt nach Israel zurückzukehren. Peru und Ecuador sind beliebte Reiseziele für junge Israelis, um nach der Armeezeit kräftig über die Stränge zu schlagen.

Inbars Wege kreuzen sich mit denen Doris, der ebenfalls die Last seiner Vorfahren zu tragen hat. Doris Vater Meni wurde im Yom-Kippur-Krieg (1973) schwer traumatisiert, für seine Kinder war diese Tatsache nicht leicht zu begreifen. Nach dem Tod seiner Frau bricht Meni aus seinem alten Leben aus und macht sich wie die jungen israeliischen Backpacker auf den Weg nach Ecuador. Da Meni sich seit zwei Monaten nicht mehr bei seinen Kindern gemeldet hat, will Dori seinen Vater mit der Hilfe eines einheimischen Detektivs suchen. Alfredo, spezialisert auf Verschollene, deren Angehörige und die Bergung von toten Abenteurern hat mich sofort in das Buch hineingezogen. Alfredo hat nie eine Schule besucht und sich als Waise zunächst als Schuhputzer durchgeschlagen. Inzwischen übt der Mann seinen Beruf mit modernen Hilfsmitteln und psychologischem Feingefühl aus, knüpft seine Netzwerke aus Informanten aber noch immer wie ein Mitglied der Schuhputzer-Gemeinschaft. Zu Alfredo kommen Eltern aus aller Welt auf der Suche nach ihren verschollenen Kindern. Er ist der richtige Mann, um die Gringos zum Sprechen und damit erst einmal zum Herunterschalten zu bringen. Das Auftreten all dieser Fremden fügt sich in Alfredos Vorstellung zu einem sehr eigenwilligen Bild ihrer Herkunftsstaaten.

Fazit
Wie sich die Schicksale von Dori Peleg, Inbar Benbenisti und ihren Familien schließlich miteinander verbinden, erzählt Eshkol Nevo auf mehreren Zeitebenen und mit einer beachtlichen Zahl von Figuren. Die Geschichte ist fest mit historischen Ereignissen rund um den Staat Israel verwoben, lässt sich jedoch auch unabhängig davon als reiner Familienroman lesen. Nevo zeigt sich in der Darstellung der Gemütszustände seiner Figuren als großartiger, feinfühliger Erzähler. In den Grundkonflikten zwischen Großmutter-Mutter-Tochter und Großvater-Vater-Enkel werden sich viele Leser wiedererkennen können. Ohne Lillis Flucht aus Polen gäbe es in der Gegenwart keine reisende Inbar. Seine Allgemeingültigkeit macht Nevos Gleichnis vom reisenden/wandernden Juden zu einem großen, generationenübergreifenden Roman.

Bewertung vom 04.01.2017
Abbey Road Murder Song / Detective Breen & Tozer Bd.1
Shaw, William

Abbey Road Murder Song / Detective Breen & Tozer Bd.1


sehr gut

1968 erschien "Das weiße Album" der Beatles. Vor den EMI-Studios an der Abbey Road harren jugendliche Fans ihrer Idole. Als in einer Straße an der Rückseite der Studios ein sehr junges Mädchen tot aufgefunden wird, liegt der Gedanke nahe, dass auch sie zur Szene der Beatles-Fans gehören könnte. Sergant Breen von der Metropolitan Police hat gerade einen schweren Stand gegenüber seinen Kollegen, als er mit den Ermittlungen beauftragt wird. Sein Chef kann Breen nicht leiden und zu allem Überfluss ist dem CID (Criminal Investigation Department) mit Helen Tozer ein weiblicher Trainee zugeteilt worden. In Breens Abteilung ist bisher die Sekretärin die einzige Frau. Die älteren Kollegen beharren darauf, dass Frauen keinen Polizeidienst leisten können; und offenbar verbieten die Vorschriften Polizistinnen sogar das Steuern eines Polizeiautos. In einer Abteilung mit offen vertretenen sexistischen Ansichten ist Breen offenbar der einzige Kollege, der den Vorteil für die Ermittlungen sehen kann, wenn eine junge Kollegin 17-jährige Zeuginnen vernimmt. Da auch Tage nach dem Leichenfund keine junge Frau vermisst gemeldet wird, ziehen sich die Ermittlungen zunächst hin, ehe der Fall mehrere überraschende Wendungen nimmt.

Das London der 60er Jahre liegt dem Autor, der umfangreich über Themen der Pop- und Subkultur geschrieben hat, deutlich am Herzen. Einer Krimihandlung dagegen tun Details nicht gut, die der Autor aus purer Freude an der Vermittlung seines umfangreichen Wissen einbaut und die für den eigentlichen Fall unerheblich sind. Angesichts einer solchen Faktenschwemme hat man leicht den Eindruck, dass der Autor seine Leser für schwer von Begriff hält. Dass alte schwarze Telefone aus Bakelit waren, versteht man auch ohne eine Wiederholung. Ähnlich ging es mir mit Szenen, die die sexistische Einstellung der Zeit verdeutlichen sollten. Nach der ersten drastischen Szene war klar, dass Breens Kollegen Frauen allenfalls zum Kaffeekochen akzeptieren und ein großes Hemmnis bei der Integration der Kollegin Tozer in der Abteilung eine andere Frau sein wird. Die Wiederholung, dass Polizisten damals rassistisch und sexistisch waren, fand ich überflüssig. Parallel zu den Ermittlungen beschäftigt Breen und seine Abteilung die wichtige Frage nach der Zukunft der Polizei, falls sich die Moralvorstellungen weiter so rasant wie in den 60ern ändern sollten. Kollege Carmichael meint dazu, dass es Zeit wird, sich beim Drogendezernat zu bewerben, im Sittendezernat würde sicher niemand mehr Karriere machen können. Ebenfalls interessant für mich war die Überlegung, wie stark die persönliche Betroffenheit eines Polizisten seine Dienstfähigkeit einschränken könnte, wenn derjenige als Angehöriger selbst von einer Gewalttat betroffen ist.

Spannend fand ich William Shaws Krimi wegen der og. Wiederholungen nicht. Die Schauplätze in London, Devon und Cornwall und auch die Beziehung innerhalb des Ermittler-Duos Tozer und Breen haben jedoch meine Neugier auf die Fortsetzung der geplanten Reihe geweckt.

Bewertung vom 04.01.2017
Jenseits der Untiefen
Parrett, Favel

Jenseits der Untiefen


ausgezeichnet

An Bord der "Lady Ida" schlackert die Arbeitskleidung wie ein riesiger Sack um Miles Körper. Nach dem Tod von Onkel Nick muss nun ein anderer Mann das Boot während der Tauchgänge nach Abalone-Muscheln auf Kurs halten und den erschöpften Tauchern bei ihrer Rückkehr vom Tauchen wieder an Bord helfen. Seit der älteste Sohn Joe sich mit der Familie überworfen hat, schuftet Miles auf dem Boot wie ein Erwachsener, obwohl die Arbeit für den mittleren der drei Curren-Brüder deutlich zu schwer ist. Ob sein Sohn die Schule versäumt, ist dem alten Curren gleichgültig. Curren hat Schulden und müsste in der Fischfabrik arbeiten, falls er den Unterhalt seines Bootes nicht mehr finanzieren kann. Harry, der jüngste Bruder, wird notgedrungen geschont, da ihm an Bord eines Schiffes sofort schlecht wird. Joe hat im Streit um das Haus, das sein Großvater bewusst seinem ältesten Enkel vermacht hat, mit der Familie und dem gewalttätigen Vater gebrochen. Mit seinem eigenen Boot will Joe nur noch fort aus Tasmanien. Ihm ist bewusst, dass die Arbeit an Bord und die Sorgen um den sensiblen Harry nun allein auf Miles lasten werden. Miles würde gern Tischler wie der Großvater werden, doch welches Leben Miles sich erträumt, steht in der prekären Situation der mutterlosen Familie nicht zur Debatte. Würde der mittlere Sohn fortgehen wie Joe, müsste Harry mit dem jähzornigen Vater allein bleiben. Zutiefst deprimierend wird allmählich deutlich, dass kein Familienmitglied es dem alten Curren recht machen kann, auch Miles nicht, wenn er eines Tages seinem Vater körperlich gewachsen sein wird. Von den drei Brüdern erfährt allein Harry - außerhalb seiner Familie - geringe Zuwendung.

Die Untiefen in den Beziehungen dieser mutterlosen Familie skizziert Favel Parrett in knappen Worten. Mit den bedrückenden Passagen ihres Romans versöhnen stimmungsvolle Naturbeschreibungen und der glaubwürdige Ton, der die Situation der beiden jüngeren Brüder beschreibt. Parrett zeigt das Meer von seinen gegensätzlichen Seiten; als tödliche Gefahr, der der Vater sich bei jedem Tauchgang aussetzt und als Quelle unbegrenzten Vergnügens, wenn Joe und Miles unbeschwert gemeinsam surfen. Harry wird derweil auf der Suche nach einem Hai-Ei den Strand entlang geschickt; denn sowie er sich auf ein Surfbrett schwingen würde, würde ihm sofort schlecht!

Bewertung vom 04.01.2017
Liebes Leben
Munro, Alice

Liebes Leben


ausgezeichnet

Thema von Alice Munros Erzählungen ist das Leben von Frauen und Mädchen in der kanadischen Provinz, genauer gesagt Figuren, die am Übergang vom Dorf- zum Kleinstadtleben vom vorgezeichneten Pfad abzweigen. Jede einzelne Erzählung verblüfft mit der Fähigkeit der Autorin, banale Alltagsereignisse in einem besonderen Licht zu zeigen und so ihre Leser noch lange zu beschäftigen, nachdem sie das Buch geschlossen haben. Mit Figuren, die aus dem Krieg zurückkehren oder von der Wirtschaftskrise betroffen sind, lassen sich diese Geschichten klar der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit zuordnen. Während Männer im Krieg sind, müssen Frauen sich nicht für ihr Alleinleben oder ihr Selbstbewusstsein rechtfertigen und haben die Chance, Neues zu riskieren. Auch Heimkehrer (wie in "Zug") nutzen die Möglichkeit zum Neuanfang mit einer neuen Identität. Munro verkündet in knappen Worten, dass es sich mit "dem Krieg" nur um den Zweiten Weltkrieg Handeln kann. Ihre biografische Erzählungen "Wozu wollen Sie das wissen? Elf Geschichten aus meiner Familie", verdeutlichten eindrucksvoll, wie nah Munros Kurzgeschichten ihrer eigenen Biografie als Tochter eines Fuchsfarmers waren. - "Japan erreichen" sehe ich als charakteristisches Beispiel dafür, dass Alice Munro allgemeingültige Empfindungen beschreibt, die Leser auf der ganzen Welt nachempfinden können. Die junge Mutter Greta reist zusammen mit ihrer noch sehr kleinen Tochter per Bahn quer durch Kanada von Vancouver nach Toronto, um in Toronto ein Haus zu sitten. Gretas Mann Peter ist Kind von Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei und es wird betont, dass er als in Europa Geborener viele Dinge anders sieht als ein gebürtiger Kanadier. Greta lässt die schlafende kleine Katy im Zug nur kurz allein und muss bei ihrer Rückkehr schockiert feststellen, dass Katy verschwunden ist. Hat der Zug gehalten, kann Katy ausgestiegen sein? Greta ist sich unsicher. Wer ist als Mutter nicht schon in dieser Situation gewesen, in der Schuldgefühle und Aufregung das logische Denken blockieren? - Auch in der zweiten Geschichte verlässt die Hauptfigur ihre Heimatstadt per Bahn, um eine Stelle als Lehrerin in einem Erholungsheim für tuberkulosekranke Kinder anzutreten. Der Arzt und die Schwestern sind in der Klinik ebenso kaserniert wie die Patienten, von denen nicht alle überleben werden. Mancher Patient hat keine Angehörigen, die den Leichnam zur Beerdigung in den Heimatort abholen werden. Obwohl diese Geschichte (noch vor der Entwicklung eines Medikaments gegen Tuberkulose) zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, ist sie angesichts unheilbarer Krankheiten inzwischen wieder erschreckend aktuell. In "Kies" endet der Traum vom Hippieleben für eine Frau und ihre Kinder in einem Wohnwagen an der Zufahrt zu einer kleinen privaten Kiesgrube. - "Heimstatt" charakterisiert das schwierige Nebeneinander unterschiedlicher Religionen in einer Kleinstadt. Die Eltern der jugendlichen Icherzählerin sind als Lehrer nach Ghana aufgebrochen; ihre eigenen Kinder müssen solange bei kinderlosen Verwandten unterkommen. Onkel Jasper hat klare Vorstellungen von Anstand: ein Mädchen in der Pubertät, das in seinem Haushalt lebt, hat nicht mehr mit dem Fahrrad zu fahren. - "Dies ist keine Geschichte, nur das Leben." (S. 354) Abschließend nutzt Alice Munro ihre letzte Sammlung von Erzählungen dazu, sehr persönliche Erinnerungen an ihr Verhältnis zu ihren Eltern anzufügen. Im exakten Erinnern an ihre Gefühle als Fünfjährige und als Pubertierende zeigt sich bereits die spätere Autorin. "Liebes Leben" beeindruckt als Abschluss eines in Europa bisher noch unbekannten Schriftstellerlebens und kann stark gewinnen, wenn Sie ergänzend Munros biografische Erzählungen Wozu wollen Sie das wissen? lesen.