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Bewertungen
Insgesamt 612 BewertungenBewertung vom 04.01.2017 | ||
Del Jordan, die Icherzählerin im einzigen Roman Alice Munros, wächst außerhalb der Stadt Jubilee/Ontario auf einer Farm auf. Eine unbefestigte Straße, der nächste Laden und zwei geisteskranke Bewohner markieren den Heimatort von Del und ihrem Bruder Owen. Dels Vater züchtet auf seiner Farm Füchse, die Familie lebt vom Verkauf der Felle. Die Kinder vergnügen sich beim Angeln mit Onkel Benny, dem Arbeiter des Vaters, und saugen begierig die üblichen Familiengeschichten auf. Del wächst mit dem Vorbild ihres genügsamen und fleißigen Vaters auf. Besonders Mädchen wird Bescheidenheit gepredigt. Mädchen sollen nicht "überspannt" sein und besonders Frauen müssen auf Geld, Ruhm, eine Berufsausbildung oder die Fahrerlaubnis verzichten können. Dels Mutter erfüllt ihre Pflichten auf der Farm, bis sie durch ihren Umzug nach "Jubilee-City" mit den Kindern aus dem provinziellen Trott ausbricht und fortan vom Verkauf von Enzyklopädien lebt. Mutter und Tochter verbindet der Hunger nach Wissen. Der Vater betreibt weiter seine Fuchszucht. Die Entdeckung, dass es außer dem jüngeren Bruder noch andere Jungen gibt, läutet - unter den strengen Blicken der Dorfbewohner - Dels Erwachsenwerden ein. Ihr Drang, den für ein Mädchen in der Provinz vorgezeichneten Weg zu verlassen, ist nicht mehr zu bremsen. Dels Mutter mit ihren ungewöhnlichen Ideen ist daran nicht unschuldig. Sie überlegte z. B., ob man Ontarios Schneemassen in der Zukunft evtl. bewältigen könnte, indem die Bewohner unter Kuppeln leben. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Auslöser für Andrew Solomon, sein Buch über zwölf Behinderungen oder Abweichungen von der Norm zu verfassen, war ein Auftrag, für das New York Times Magazine über Gehörlosigkeit zu schreiben. Andrew Solomon recherchierte für sein Buch u. a. aus der Erkenntnis heraus, dass moderne Gesellschaften sich vor Andersartigkeit fürchten. Noch immer flüchten sich Außenstehende in Schuldzuschreibung gegenüber den betroffenen Eltern, selbst wenn eine Abweichung genetisch bedingt ist oder schicksalhaft durch eine Krankheit verursacht wurde. Solomon hat eine Fülle von Äußerungen Betroffener zusammengetragen (die er auf über 60 Seiten Anmerkungen dokumentiert) und eine gewaltige Menge von Sachinformationen; allein die Bibliographie umfasst 100 Seiten. In zwölf Kapiteln stellt der Autor die Schicksale gehörloser oder kleinwüchsiger Kinder vor, er besuchte und interviewte Familien, deren Kinder vom Down Syndrom, Autismus, Schizophrenie, schwerster Mehrfachbehinderung, Hochintelligenz, Transsexualität, Kriminalität betroffen sind oder deren Kind nach einer Vergewaltigung zur Welt kam. "Es ist schwieriger, die Eltern eines Behinderten zu sein als der Behinderte selbst," stellt der Autor bei seiner Recherche fest. Die Eltern begabter junger Musiker verdeutlichen schließlich, welche Gemeinsamkeit alle Schicksale verbindet - es ist der Zwang, das gesamte Familienleben nach den Bedürfnissen eines oder mehrerer besonderer Kinder auszurichten. Im Fall Schwerstbehinderter kann dieser Zwang dazu führen, dass die überlasteten Eltern aus Überforderung ihr Kind und sich töten. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Flüchtlinge ohne Erinnerungen |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Pankaj Mishra vollzieht einen für das Verständnis islamischer und asiatischer Staaten notwendigen Blickwechsel auf die Weltgeschichte, stellt in biografischen Essays die für ihre Zeit ungewöhnlich fortschrittlichen Denker Dschamal ad-Din al Afghani (1838-1897) und Liang Qichao (1873-1929) vor und vermittelt eindringlich den Eindruck der Demütigung muslimischer Staaten durch "den Westen", der Grundlage des Verständnisses aktueller Konflikte zwischen westlichen und muslimischen Staaten ist. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Was in den letzten zehn Tagen vor dem Ende der Ferien passierte, läuft hinter der Stirn des siebzehnjährigen Icherzählers wie ein Film ab. Das Drehbuch dieses Films ist der zweigeteilten Handlung vorangestellt: Die Ereignisse dauern von Mittwoch bis zum Mittwoch der folgenden Woche und von Donnerstag bis Samstag. Mitten in die erste Woche wird der Leser hinein katapultiert, um dann Szenen zu folgen, die keinem erkennbaren roten Faden folgen. Der Icherzähler, der sich selbst das Grünhorn nennt, jobbt in den Ferien auf einer Baustelle. Er hängt mit seinen Kumpels Mauser und Kondor ab, mit denen er gemeinsam boxt; Höhepunkt der Ferien sind nächtliche Feten im Freibad. Der Erzähler ist offenbar niemandem Rechenschaft schuldig; niemand erwartet ihn zu Hause. Die Jungs leben in einer Hochhaussiedlung, die den meisten Lesern aus den Nachrichten bekannt ist, seit hier ein Kind kurz vor seinem Tod, eingesperrt in seinem Zimmer, vor Hunger die Teppichfasern verschlang. Genau in dieser Siedlung hat vor kurzem Zöllner, der Vater von Kumpel Mauser, seine zweite Frau ermordet. Die Tat kann noch nicht lange her sein; denn das Absperrband der Polizei ist noch zu sehen. Warum der flüchtige Zöllner das Denken des Erzählers so stark bestimmt, entwickelte sich für mich überraschend zum roten Faden der Geschichte |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Als hätte ich mitten in einen Film gezappt ... |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
In Familien von Holocaust-Überlebenden kann theoretisch niemand etwas wirklich Schlimmes widerfahren; denn was könnte schlimmer sein als die Erinnerungen der Überlebenden? Lilli floh als junges Mädchen nach Palästina, ihre Familie überlebte den Holocaust nicht. Ihr Leben lang wird Lilli der Gedanke belasten, dass sie sich vor ihrer Abreise nicht mehr von ihrem Vater verabschieden konnte. Während sich in der Gegenwart ein weiterer Krieg um Israel ankündigt, ängstigt sich die zunehmend verwirrte Lilli um ihre erwachsene Enkeltochter. Inbar will für ein paar Tage ihre Mutter Hanna und deren deutschen Lebensgefährtin in Berlin besuchen. Lillis Misstrauen gegen die Deutschen lässt sich selbst mit der Information nicht zerstreuen, dass Hannas Partner Bruno während des Nationalsozialismus erst drei Jahre alt war. Nach Berlin kann ein Isaeli unter keinen Umständen fahren, statt der Juden würden die Deutschen jetzt Türken und Ostdeutsche hassen, bemängelt Lilli. Inbars konfliktreiches Verhältnis zu ihrer Mutter bessert sich während des Kurzurlaubs nicht, beide scheinen mit ihren Streitereien noch in der Zeit von Inbars Pubertät stecken geblieben zu sein, obwohl Inbar mittlerweile dreißig Jahre alt ist. Aus der aufgeheizten Situation heraus bucht Inbar spontan einen Flug nach Südamerika anstatt nach Israel zurückzukehren. Peru und Ecuador sind beliebte Reiseziele für junge Israelis, um nach der Armeezeit kräftig über die Stränge zu schlagen. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Abbey Road Murder Song / Detective Breen & Tozer Bd.1 1968 erschien "Das weiße Album" der Beatles. Vor den EMI-Studios an der Abbey Road harren jugendliche Fans ihrer Idole. Als in einer Straße an der Rückseite der Studios ein sehr junges Mädchen tot aufgefunden wird, liegt der Gedanke nahe, dass auch sie zur Szene der Beatles-Fans gehören könnte. Sergant Breen von der Metropolitan Police hat gerade einen schweren Stand gegenüber seinen Kollegen, als er mit den Ermittlungen beauftragt wird. Sein Chef kann Breen nicht leiden und zu allem Überfluss ist dem CID (Criminal Investigation Department) mit Helen Tozer ein weiblicher Trainee zugeteilt worden. In Breens Abteilung ist bisher die Sekretärin die einzige Frau. Die älteren Kollegen beharren darauf, dass Frauen keinen Polizeidienst leisten können; und offenbar verbieten die Vorschriften Polizistinnen sogar das Steuern eines Polizeiautos. In einer Abteilung mit offen vertretenen sexistischen Ansichten ist Breen offenbar der einzige Kollege, der den Vorteil für die Ermittlungen sehen kann, wenn eine junge Kollegin 17-jährige Zeuginnen vernimmt. Da auch Tage nach dem Leichenfund keine junge Frau vermisst gemeldet wird, ziehen sich die Ermittlungen zunächst hin, ehe der Fall mehrere überraschende Wendungen nimmt. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
An Bord der "Lady Ida" schlackert die Arbeitskleidung wie ein riesiger Sack um Miles Körper. Nach dem Tod von Onkel Nick muss nun ein anderer Mann das Boot während der Tauchgänge nach Abalone-Muscheln auf Kurs halten und den erschöpften Tauchern bei ihrer Rückkehr vom Tauchen wieder an Bord helfen. Seit der älteste Sohn Joe sich mit der Familie überworfen hat, schuftet Miles auf dem Boot wie ein Erwachsener, obwohl die Arbeit für den mittleren der drei Curren-Brüder deutlich zu schwer ist. Ob sein Sohn die Schule versäumt, ist dem alten Curren gleichgültig. Curren hat Schulden und müsste in der Fischfabrik arbeiten, falls er den Unterhalt seines Bootes nicht mehr finanzieren kann. Harry, der jüngste Bruder, wird notgedrungen geschont, da ihm an Bord eines Schiffes sofort schlecht wird. Joe hat im Streit um das Haus, das sein Großvater bewusst seinem ältesten Enkel vermacht hat, mit der Familie und dem gewalttätigen Vater gebrochen. Mit seinem eigenen Boot will Joe nur noch fort aus Tasmanien. Ihm ist bewusst, dass die Arbeit an Bord und die Sorgen um den sensiblen Harry nun allein auf Miles lasten werden. Miles würde gern Tischler wie der Großvater werden, doch welches Leben Miles sich erträumt, steht in der prekären Situation der mutterlosen Familie nicht zur Debatte. Würde der mittlere Sohn fortgehen wie Joe, müsste Harry mit dem jähzornigen Vater allein bleiben. Zutiefst deprimierend wird allmählich deutlich, dass kein Familienmitglied es dem alten Curren recht machen kann, auch Miles nicht, wenn er eines Tages seinem Vater körperlich gewachsen sein wird. Von den drei Brüdern erfährt allein Harry - außerhalb seiner Familie - geringe Zuwendung. |
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Bewertung vom 04.01.2017 | ||
Thema von Alice Munros Erzählungen ist das Leben von Frauen und Mädchen in der kanadischen Provinz, genauer gesagt Figuren, die am Übergang vom Dorf- zum Kleinstadtleben vom vorgezeichneten Pfad abzweigen. Jede einzelne Erzählung verblüfft mit der Fähigkeit der Autorin, banale Alltagsereignisse in einem besonderen Licht zu zeigen und so ihre Leser noch lange zu beschäftigen, nachdem sie das Buch geschlossen haben. Mit Figuren, die aus dem Krieg zurückkehren oder von der Wirtschaftskrise betroffen sind, lassen sich diese Geschichten klar der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit zuordnen. Während Männer im Krieg sind, müssen Frauen sich nicht für ihr Alleinleben oder ihr Selbstbewusstsein rechtfertigen und haben die Chance, Neues zu riskieren. Auch Heimkehrer (wie in "Zug") nutzen die Möglichkeit zum Neuanfang mit einer neuen Identität. Munro verkündet in knappen Worten, dass es sich mit "dem Krieg" nur um den Zweiten Weltkrieg Handeln kann. Ihre biografische Erzählungen "Wozu wollen Sie das wissen? Elf Geschichten aus meiner Familie", verdeutlichten eindrucksvoll, wie nah Munros Kurzgeschichten ihrer eigenen Biografie als Tochter eines Fuchsfarmers waren. - "Japan erreichen" sehe ich als charakteristisches Beispiel dafür, dass Alice Munro allgemeingültige Empfindungen beschreibt, die Leser auf der ganzen Welt nachempfinden können. Die junge Mutter Greta reist zusammen mit ihrer noch sehr kleinen Tochter per Bahn quer durch Kanada von Vancouver nach Toronto, um in Toronto ein Haus zu sitten. Gretas Mann Peter ist Kind von Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei und es wird betont, dass er als in Europa Geborener viele Dinge anders sieht als ein gebürtiger Kanadier. Greta lässt die schlafende kleine Katy im Zug nur kurz allein und muss bei ihrer Rückkehr schockiert feststellen, dass Katy verschwunden ist. Hat der Zug gehalten, kann Katy ausgestiegen sein? Greta ist sich unsicher. Wer ist als Mutter nicht schon in dieser Situation gewesen, in der Schuldgefühle und Aufregung das logische Denken blockieren? - Auch in der zweiten Geschichte verlässt die Hauptfigur ihre Heimatstadt per Bahn, um eine Stelle als Lehrerin in einem Erholungsheim für tuberkulosekranke Kinder anzutreten. Der Arzt und die Schwestern sind in der Klinik ebenso kaserniert wie die Patienten, von denen nicht alle überleben werden. Mancher Patient hat keine Angehörigen, die den Leichnam zur Beerdigung in den Heimatort abholen werden. Obwohl diese Geschichte (noch vor der Entwicklung eines Medikaments gegen Tuberkulose) zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, ist sie angesichts unheilbarer Krankheiten inzwischen wieder erschreckend aktuell. In "Kies" endet der Traum vom Hippieleben für eine Frau und ihre Kinder in einem Wohnwagen an der Zufahrt zu einer kleinen privaten Kiesgrube. - "Heimstatt" charakterisiert das schwierige Nebeneinander unterschiedlicher Religionen in einer Kleinstadt. Die Eltern der jugendlichen Icherzählerin sind als Lehrer nach Ghana aufgebrochen; ihre eigenen Kinder müssen solange bei kinderlosen Verwandten unterkommen. Onkel Jasper hat klare Vorstellungen von Anstand: ein Mädchen in der Pubertät, das in seinem Haushalt lebt, hat nicht mehr mit dem Fahrrad zu fahren. - "Dies ist keine Geschichte, nur das Leben." (S. 354) Abschließend nutzt Alice Munro ihre letzte Sammlung von Erzählungen dazu, sehr persönliche Erinnerungen an ihr Verhältnis zu ihren Eltern anzufügen. Im exakten Erinnern an ihre Gefühle als Fünfjährige und als Pubertierende zeigt sich bereits die spätere Autorin. "Liebes Leben" beeindruckt als Abschluss eines in Europa bisher noch unbekannten Schriftstellerlebens und kann stark gewinnen, wenn Sie ergänzend Munros biografische Erzählungen Wozu wollen Sie das wissen? lesen. |
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