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Bücherfreundin

Bewertungen

Insgesamt 298 Bewertungen
Bewertung vom 21.02.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


ausgezeichnet

Spannendes Psychodrama
Die Autorin Kristina Hauff war mir bisher nicht bekannt, aber sowohl Cover als auch Klappentext von "In blaukalter Tiefe" sprachen mich an und machten mich neugierig auf das Buch - und ich wurde nicht enttäuscht.

Der erfolgreiche Anwalt Andreas überrascht seine Frau Caroline, die als Chefredakteurin arbeitet, mit einem 10tägigen Segelurlaub in den schwedischen Schären. Carolines anfängliche Freude wird etwas gedämpft, nachdem Andreas ihr mitteilt, dass außer dem Skipper Eric sein jüngerer Anwaltskollege Daniel mit seiner Freundin Tanja an der Reise teilnehmen wird.

Der Urlaub auf der "Querelle" beginnt sehr harmonisch. Bei herrlichem Wetter genießen die beiden Paare gutes Essen und erlesenen Wein. Beim Segeln auf der Ostsee zeigt sich sehr schnell, dass Andreas Probleme damit hat, sich Eric unterzuordnen. Daniel, der in der Kanzlei Andreas unterstellt ist und davon träumt, bald gleichberechtigter Partner zu werden, sitzt  zwischen zwei Stühlen. Er hat nun zwei Chefs, denen er sich anzupassen hat. Caroline ist vom dominanten Verhalten ihres Mannes wenig begeistert, Tanja muss erkennen, dass sich ihr Freund seinem Vorgesetzten gegenüber sehr unterwürfig verhält. Eric versucht, sich aus den Konflikten herauszuhalten und zieht sich zurück, sobald er Gelegenheit dazu hat. Die anfangs gute und unbeschwerte Stimmung kippt bald, auch die räumliche Enge auf dem Boot trägt dazu bei. Unzufriedenheit macht sich breit, und es kommt nicht nur zwischen den Paaren zu Meinungsverschiedenheiten. Eines Nachts schlägt das Wetter um, es zieht ein Sturm auf, und das Segelschiff gerät in Seenot ...

Das packende Buch ist in kurze Kapitel unterteilt, die jeweils aus der Perspektive von Andreas, Caroline, Daniel und Tanja erzählt werden. Das fand ich sehr interessant, da einige Situationen von verschiedenen Personen unterschiedlich wahrgenommen wurden und der Leser Einblick in die Gedankenwelt der Protagonisten bekam. Der schöne und intelligente Sprachstil der Autorin hat mir sehr gut gefallen, ebenso ihre authentische Skizzierung der vollkommen unterschiedlichen Charaktere. Auch die Schönheit der Natur wird bildhaft und eindrucksvoll beschrieben.

Von der ersten Seite bis zum für mich stimmigen Ende hat mich das Psychodrama gefesselt und begeistert. Ich kann mir vorstellen, dass das Buch eine sehr gute Vorlage für einen spannenden Film wäre.
Klare Leseempfehlung und 5 Sterne!

Bewertung vom 20.02.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


ausgezeichnet

Mitreißender und fesselnder Roman
Der Claassen-Verlag hat "Siegfried" veröffentlicht, den neuen Roman von Antonia Baum.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die namenlose Ich-Erzählerin, die eines Morgens nach einem Streit mit ihrem Mann ganz spontan beschließt, in die psychiatrische Ambulanz zu fahren, um sich dort helfen zu lassen. Barfuß kommt sie dort an, und während der langen Stunden des Wartens lässt sie ihre Vergangenheit Revue passieren.

Die Ich-Erzählerin ist Autorin, Mitte Dreißig und seit 8 Jahren mit ihrem Ehemann Alex zusammen. Dieser ist 5 Jahre jünger als sie und arbeitet als Barmixer und Umzugshelfer. Die beiden haben eine kleine Tochter, Johnny. Die Beziehung steckt in einer Krise, die Ich-Erzählerin ist vollkommen überfordert. Sie fühlt sich vom Verlag unter Druck gesetzt, finanzielle Probleme belasten sie und gefährden den Lebensstandard. Hinzu kommt ihre ständige Angst, Alex zu verlieren. Ihr Stiefvater Siegfried spielte immer eine wichtige Rolle im Leben der Ich-Erzählerin. Er ist erfolgreich in seinem Beruf und hat es zu einem gewissen Wohlstand gebracht, nach dem auch sie sich sehnt. 

Während der Wartezeit in der Psychiatrie blickt sie auf ihre Kindheit zurück, erinnert sich an das Zusammenleben mit der angepassten Mutter und dem unberechenbaren Siegfried. Bei Hilde, Siegfrieds Mutter, verbringt sie ihre Schulferien, damit die Eltern verreisen können. Hilde ist sehr speziell, sie spornt das Mädchen zu Höchstleistungen im Schwimmsport an und bestimmt den streng geregelten Tagesablauf.

Der Roman ist ganz wunderbar und intelligent erzählt und hat mich von Beginn an gefesselt. Die Autorin beschreibt die Figuren sehr intensiv und authentisch: die überforderte und unsichere Ich-Erzählerin, die unglückliche und angepasste Mutter, den ehrgeizigen und aufbrausenden Stiefvater und als Gegenpol Siegfrieds den schweigsamen und erfolglosen Alex.
Mich hat die teilweise bedrückende Geschichte sehr berührt, besonders das früh durch die Mutter geprägte angepasste Kind hatte mein Mitgefühl. Das stets bemühte Verhalten, es anderen recht zu machen, zeigt sich bereits im Kindesalter und wird nicht nur sehr deutlich im Umgang mit Siegfried, sondern auch während der Ferienaufenthalte bei der dominanten Großmutter. 

Dieses großartige Buch zeigt einmal mehr, wie sehr wir durch unsere Eltern beeinflusst und geprägt werden.
Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.02.2023
Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11
Läckberg, Camilla

Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11


ausgezeichnet

Spannender Schwedenkrimi
Mit "Kuckuckskinder" hat die erfolgreiche schwedische Krimiautorin Camilla Läckberg den 11. Fall ihrer Falck-Hedström-Reihe vorgelegt.

Die Geschichte spielt in der kleinen Gemeinde Fjällbacka, wo übrigens auch die Autorin geboren und aufgewachsen ist. Hauptpersonen der Krimireihe sind die Schriftstellerin Erica Falck und ihr Ehemann Patrik Hedström, der als Ermittler bei der Polizei arbeitet.
Der bekannte Schriftsteller Henning Bauer und seine Ehefrau Elisabeth, die aus einer Verlegerfamilie stammt, feiern in großem Rahmen mit vielen Gästen ihre Goldene Hochzeit. Auch Erica und Patrik sind eingeladen und genießen den Abend. Rolf Stenklo, ein enger Freund der Bauers, der an der Feier nicht teilgenommen hat, wird am nächsten Morgen in der Galerie, in der er seine Fotoausstellung vorbereitete, tot aufgefunden. Die fieberhafte Suche nach dem Täter beginnt. Wenig später ereignet sich auf der Privatinsel von Henning Bauer eine weitere Tragödie.
Währenddessen ermittelt Erica für einen neuen Roman in einem ungelösten Mordfall, der sich 1980 in Stockholm ereignet hat, und findet heraus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen diesem Mord und den aktuellen Morden in Fjällbacka.

Ich hatte von der Autorin bisher kein Buch gelesen, und aufgrund der großen Personenanzahl gestaltete sich der Einstieg ein wenig mühsam. Neben den Familienmitgliedern von Erica und Patrik gab es eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen. Ich lernte die große Familie des Schriftstellers Henning Bauer sowie seinen Freundeskreis kennen. Hinzu kamen weitere Personen aus dem über 40 Jahre zurückliegenden Kriminalfall. Jeder, der neu in die Reihe einsteigt, sollte die Bereitschaft mitbringen, sich intensiv in die jeweiligen Familienverhältnisse einzulesen.

Der Krimi wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Im Hier und Jetzt lernen wir Hennings Familie kennen mit all ihren Problemen, Konflikten und Schwierigkeiten. Sehr interessant und berührend fand ich die rückblickenden Abschnitte über Lola und ihre Tochter Pytte. Die Autorin skizziert die Charaktere sehr bildhaft und lässt uns auch teilhaben am Leben der Nebenfiguren.

Die Spannung steigert sich langsam, aber stetig, und es gibt zahlreiche, nicht vorhersehbare Wendungen. Die Protagonisten Erica und Patrik sind sehr sympathisch, und es hat mir sehr viel Lesefreude bereitet, sie auf ihrer Mördersuche zu begleiten. Das Ende war mich für vollkommen überraschend.
Empfehlung für diesen spannenden und in schönem Sprachstil erzählten Krimi!

Bewertung vom 12.02.2023
Young Mungo
Stuart, Douglas

Young Mungo


sehr gut

Brutal und roh - herzzerreißend und berührend
Nach seinem 2020 mit dem renommierten Booker-Prize ausgezeichneten Debütroman "Shuggie Bain" legt Douglas Stuart nun seinen neuen Roman "Young Mungo" vor, der Familiendrama, Liebesgeschichte und Coming of Age-Geschichte zugleich ist.
 
Im Mittelpunkt der in beeindruckendem Sprachstil erzählten Geschichte, die im Glasgow der neunziger Jahre spielt, steht der 15jährige Mungo Hamilton. Sein Vater ist tot, er lebt mit seiner alkoholkranken Mutter Maureen und seiner 16jährigen Schwester Jodie in ärmsten Verhältnissen. Er liebt seine labile Mutter, die ihre Kinder vernachlässigt und sich nach einem besseren Leben sehnt, vorbehaltlos und sorgt sich um sie, wenn sie wieder mal für eine Weile verschwindet. Wegen der ständigen Geldknappheit jobbt Jodie neben der Schule und kümmert sich liebevoll um Mungo. Hamish, Mungos älterer Bruder, ist mit seinen 18 Jahren bereits Vater und lebt bei seiner Freundin und ihrer Familie. Er ist der brutale und herrschsüchtige Anführer einer Jugendbande und zwingt Mungo, an den gefährlichen Straßenkämpfen zwischen Protestanten und Katholiken teilzunehmen. Sein Ziel ist es, aus seinem sanften Bruder einen Mann zu machen. 

Mungo lernt den ein Jahr älteren James kennen, der in der Nachbarschaft lebt und seine Freizeit mit der Haltung von Tauben verbringt. James hat kürzlich seine Mutter verloren, der Vater ist berufsbedingt meistens abwesend. Die Jugendlichen fühlen sich zueinander hingezogen, und aus anfänglicher Freundschaft wird Liebe. Beide träumen davon, Glasgow gemeinsam zu verlassen. Sie geraten in große Gefahr, als der homophobe Hamish vom Verhältnis der beiden erfährt.

Auf einer weiteren Zeitebene wird Mungo von seiner Mutter zu einem Wochenendausflug mit zwei Männern gedrängt, die sie auf den Treffen der Anonymen Alkoholiker kennengelernt hat. Es soll gezeltet und geangelt werden. Nach und nach erfahren wir, was dem Jungen Schreckliches auf dieser Reise widerfährt. Der Erzählstrang über das Wochenende mit den beiden Männern zieht sich über das ganze Buch und wechselt sich ab mit den Ereignissen der vorigen Monate.
 
Douglas Stuart ist ein großartiger Erzähler, dem es gelungen ist, die Charaktere sehr authentisch und bildhaft zu zeichnen. Die fesselnde Geschichte war für mich jedoch teilweise sehr schwer zu lesen. Sie ist brutal und roh, aber auch herzzerreißend und berührend. Das intensive Buch, in dem es außer um Homosexualität auch um Missbrauch und Vergewaltigung geht, ist schwere Kost. Ich brauchte zwischendurch öfter längere Lesepausen von Mungos düsterer Welt. Die Beschreibung der Gewaltszenen habe ich als zu detailliert und zu brutal empfunden.

Empfehlung für Leser, die auch vor schwerer Kost nicht zurückschrecken!

Bewertung vom 12.02.2023
Die Affäre Agatha Christie
Gramont, Nina de

Die Affäre Agatha Christie


ausgezeichnet

Phantasievolle und spannende Mischung aus Fiktion und Fakten
In Ihrem neuen Roman erzählt Nina de Gramont eine fiktive Geschichte über das 11tägige Verschwinden der englischen Autorin Agatha Christie im Dezember 1926. Agatha Christie hat Zeit ihres Lebens vorgegeben, sich nicht daran erinnern zu können, was ihr während dieser 11 Tage widerfahren war. Mehrere Autoren und Filmemacher haben versucht, das Rätsel zu lösen.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht nicht die erfolgreiche Krimiautorin Agatha, die mit ihrem Ehemann Archie und der gemeinsamen Tochter Teddy in London lebt, sondern Nan O'Dea. Die 26jährige Sekretärin hat seit fast zwei Jahren ein Verhältnis mit Archie. Nachdem dieser seine Frau verlassen hat, um mit Nan zusammenzuleben, verschwindet Agatha. Am nächsten Morgen wird ihr Auto gefunden, und eine intensive Polizeisuche beginnt.

Die Ich-Erzählerin Nan blättert nach und nach die teilweise zutiefst erschütternden Ereignisse ihres Lebens auf, sie erzählt von ihrer großen Liebe, und wir erfahren den Grund, weshalb sie ganz gezielt Archie Christie als ihren potentiellen Ehemann gewählt hat.

Der intelligent erzählte Roman spielt auf mehreren Zeitebenen. Am Anfang irritierte mich ein wenig, dass es außer der Ich-Erzählerin eine allwissende Erzählerin gibt. Ich finde die fiktive Geschichte rund um Agathas Verschwinden sehr spannend und fesselnd, auch wenn Agatha entgegen meinen Erwartungen zu einer Nebenfigur gerät, während über Nans Vergangenheit sehr ausführlich erzählt wird. Zu Beginn des Buches war mir Nan sehr unsympathisch. Ich hatte mir ein Bild über sie gemacht, das ich dann aber im Laufe des Romans korrigieren musste. Es gibt einige unerwartete Wendungen, äußerst interessante Charaktere, und das Ende war für mich vollkommen überraschend.

Das Buch hat mir sehr viel Lesefreude bereitet, und ich kann mir vorstellen, dass es eine gute Vorlage für einen Film wäre.
Leseempfehlung von mir für diese phantasievolle und spannende Mischung aus Fiktion und Fakten!

Bewertung vom 03.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


sehr gut

Fesselnder und bewegender Roman
Der Gitarrist und Komponist Marc Sinan legt mit "Gleißendes Licht" seinen ersten Roman vor, in dem er den Völkermord an den Armeniern durch die Türken thematisiert.

Im ersten Kapitel des Buches lernen wir den 15jährigen Hüseyin Umut kennen, der im späten Frühling des Jahres 1915 angeheuert wird, um zwei Soldaten und 14 Kinder zwischen 4 und 10 Jahren auf das offene Meer zu rudern. Dort geschieht Schreckliches.

Die Handlung springt in die 80er Jahre, und es begegnet uns Kaan, Hüseyins Enkel. Kaan lebt gemeinsam mit seinen Eltern in München. Seine Mutter Nur ist türkisch-armenischer Abstammung, sein Vater, der im Buch fast nicht vorkommt, Deutscher. Nur ist die Tochter von Hüseyin, der einst ein wohlhabender und angesehener Haselnussfabrikant war und mit Vahide, einer Armenierin, verheiratet war. Kaan sieht in sich ein deutsches Kind - "bis auf den Namen". An seinem 16. Geburtstag verliebt er sich in Susanne, genannt Zizi. Die beiden werden ein Paar, und Zizi besucht Kaan häufig während seines Studiums an der Musikhochschule in New York.

Das Buch springt zeitlich hin und her, es wird also nicht chronologisch erzählt. Wir begleiten Kaan auf seinen Urlaubsreisen zu den Großeltern in die Türkei. Die Großeltern erzählen ihrem Enkel ihre Lebensgeschichten, und in Kaan erwacht im Januar 2022 der Wunsch, die Geschichte des schrecklichen Völkermordes an den Armeniern aufzuschreiben.

Der Sprachstil des Autors ist brillant, große Teile der Geschichte sind mitreißend erzählt und haben mich sehr berührt. Marc Sinan ist es gelungen, die Figuren bildhaft und authentisch zu skizzieren. Die Zeitsprünge erschweren das flüssige Lesen, und vor dem Hintergrund der zahlreichen türkischen Ausdrücke hätte ich mir zum besseren Verständnis ein Glossar am Ende des Buches gewünscht. 

Das empfehlenswerte Buch liest sich nicht leicht, besonders die surrealen Schilderungen fordern den Leser, aber es regt auch an, sich näher mit der Geschichte der Armenier zu beschäftigen.

Bewertung vom 30.01.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


gut

Wichtiges Kapitel deutsch-russischer Geschichte
Sabrina Janesch erzählt in ihrem neuen Roman "Sibir" die Geschichte der Familie Ambacher.
Im Hier und Jetzt erfährt Leila in einem Telefonat mit ihrer Mutter, dass ihr Vater, der über 80jährige Josef, wegen seiner fortgeschrittenen Demenz nicht mehr daheim bleiben kann. Die Mutter bittet ihre Tochter, nach Hause zu kommen. Leila packt ihre Sachen und macht sich auf den Weg. Sie bleibt und beginnt damit, die Lebensgeschichte des Vaters schriftlich festzuhalten.

Die weitere Handlung wird auf zwei Zeitebenen erzählt:
Wir schreiben das Jahr 1945, es ist Frühling, als der 10jährige Josef Ambacher mit seiner Familie von Soldaten der Roten Armee nach Sibirien verschleppt wird. Bei der Ankunft in Kasachstan verschwindet seine Mutter Emma in den Schneewehen spurlos. Die Familie, die gefangen ist in einem gnadenlosen System, in dem sie nicht mehr deutsch sprechen darf, kämpft in einem kleinen Dorf ums Überleben und versucht, sich in der kargen Region ein neues Leben aufzubauen. Erst 1955 darf die Familie nach Deutschland zurückkehren.

1990, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, kommen deutschstämmige Aussiedler aus Kasachstan nach Mühlheide, dem Ort, in dem Josef nach seiner Rückkehr aus Kasachstan eine neue Heimat gefunden hat. Er arbeitet als Programmierer, ist mit der Polin Agnieszka verheiratet und hat eine Tochter, Leila. Es ist ihm ein großes Bedürfnis, den Neuankömmlingen zu helfen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.

Der Teil der Geschichte um Josef Ambacher, der in Kasachstan spielt, ist für mich der fesselndste Teil des Buches. Leider erstreckt sich die Handlung lediglich auf einen Zeitraum von etwa einem Jahr. Das gleiche gilt für die Parallelgeschichte, in der Josef eher eine Nebenrolle spielt. Im Fokus steht seine Tochter Leila. Auch hier erstreckt sich die Handlung auf die Dauer eines Jahres. Wir begleiten in erster Linie Leila und ihren Freund Arnold auf ihren gemeinsamen Streifzügen.
 
Ich hatte mir von dem Buch mehr versprochen und hoffte auf eine interessante Lebensgeschichte des Josef Ambacher. Stattdessen wird nur über zwei Jahre seines Lebens erzählt. Die Schilderungen über Leila und ihre Freunde langweilten mich sehr schnell, viel lieber hätte ich mehr über das Leben von Josef gelesen. Wie verlief seine Jugend, wie gestaltete sich die Rückkehr nach Deutschland und sein weiteres Leben? Das alles hätte mich sehr interessiert. Das unverhoffte Zusammentreffen am Ende war für mich ein schöner und berührender Abschluss.

Das Buch, in dem es auch um Schuld und Sühne geht, ist sehr anspruchsvoll. Die Autorin hat einen brillanten Sprachstil, etwas gewöhnungsbedürftig empfand ich allerdings die abrupten Zeitenwechsel innerhalb der einzelnen Kapitel. 

Bewertung vom 28.01.2023
Feldpost
Borrmann, Mechtild

Feldpost


ausgezeichnet

Erschütternde Liebesgeschichte
Der Droemer Verlag hat "Feldpost" veröffentlicht, den neuen Roman von Mechtild Borrmann. Ich hatte bisher von der Autorin noch kein Buch gelesen, der Klappentext weckte mein Interesse - und ich wurde nicht enttäuscht!

Wir schreiben das Jahr 2000: Es ist kurz vor Weihnachten, und die junge Rechtsanwältin Cara Russo sitzt in Kassel in einem Café. Sie schreibt Weihnachtskarten, als sich eine etwa 70jährige Frau zu ihr setzt. Die Unbekannte wirkt ein wenig verwirrt und erzählt Cara von Adele Kuhn, die sie in deren Haus in Kassel-Wilhelmshöhe nicht angetroffen hat. Man habe ihr dort erzählt, dass eine Adele Kuhn niemals dort gewohnt habe. Die Fremde verschwindet und lässt ihre schwarze Einkaufstasche zurück. In dieser befinden sich neben Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg alte Fotos und ein Vertrag über den Verkauf einer Villa. Caras Interesse wird geweckt, und sie beginnt zu recherchieren.

Die Handlung springt zurück in das Jahr 1935. Wir lernen die Geschwister Adele und Albert Kuhn kennen, die zusammen mit ihren Eltern Gerhard und Katharina in Kassel leben. Der Vater führt ein Speditionsunternehmen. Adele und Albert sind mit dem Geschwisterpaar Dietlind und Richard Martens eng befreundet, die Jugendlichen verbringen viel Zeit miteinander. Das Leben der Familie Kuhn ändert sich, als Gerhard Kuhn verhaftet wird und wenig später wegen Sabotage zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wird. Er verliert durch Enteignung sein Unternehmen, und Adele verlässt die Schule, um eine Tätigkeit als Schreibkraft anzunehmen. Ihr Bruder beginnt in Göttingen mit einem Studium. Nach Gerhards Entlassung aus dem Gefängnis bleibt ihm und Katharina nur die Flucht ins Ausland .....

Die Geschichte ist ganz wunderbar in schönem Sprachstil auf zwei Zeitebenen erzählt. Die Kapitel wechseln zwischen dem Jahr 2000 und der Vergangenheit. Im Jahr 2000 begleiten wir Cara bei ihren Nachforschungen, in den Jahren ab 1935 stehen neben einer verbotenen Liebe die Schicksale der Familien Kuhn und Martens im Mittelpunkt. Das Buch ist mitreißend und vollkommen kitschfrei, es hat mich von Beginn an begeistert und gefesselt. Der Autorin ist es gelungen, die sympathischen Charaktere sehr authentisch  zu skizzieren. 
Die tragische Geschichte, in der es um Liebe und Freundschaft, aber auch um Schuld und Verrat geht, hat einige unerwartete Wendungen. Sie war bis zum überraschenden Ende äußerst spannend und hat mich zutiefst berührt. 

Absolute Leseempfehlung und 5 Sterne für diesen großartigen Roman!

Bewertung vom 26.01.2023
Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen
Langmann, Nico

Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen


ausgezeichnet

Beeindruckende Autobiographie
Der Brandstätter Verlag hat "Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen" veröffentlicht, die Autobiographie von Nico Langmann, einem erfolgreichen Profitennisspieler aus Österreich.

Nico ist erst zwei Jahre alt, als seine Mutter auf der Fahrt in den Skiurlaub in einen schweren Autounfall verwickelt wird. Er ist nun vom 8. Brustwirbel an gelähmt und wird laut Aussagen der Ärzte nie wieder gehen können. Nicos Eltern können die Diagnose "Querschnittslähmung" nicht akzeptieren und setzen sich zum Ziel, dass Nico wieder gehen kann. Dafür werden sie alles tun, was ihnen möglich ist. Über viele Jahre besteht ein großer Teil des Alltags von Nico aus Therapien. Die Eltern suchen immer wieder mit ihm neue Alternativmediziner und Wunderheiler auf. Nico unterzieht sich allem, aber wird dabei immer unglücklicher.
Als er 17 Jahre alt ist, entscheidet er sich, nicht mehr das Ziel, gehen zu können, zu verfolgen. Er hat nun drei neue Ziele: das Abitur zu machen, an den Paralympics teilzunehmen und ein glückliches Leben mit dem Rollstuhl zu führen. Das Tennisspiel ist schon seit Jahren seine Leidenschaft, die Eltern unterstützen ihn, er findet Förderer, aber der Erfolg lässt lange auf sich warten ...

Das flüssig zu lesende Buch ist in schöner Sprache mit viel Humor und großer Offenheit geschrieben. Der Autor erzählt aus seinem Leben, er schreibt über positive und negative Diskriminierung und seine Karriere als Profisportler. Selbstkritisch berichtet er über seine Niederlagen und schreibt sehr offen über sehr Persönliches und Intimes. Er hadert nicht mit seinem Schicksal und macht nicht nur denen, die Ähnliches erlebt haben, Mut. Ich habe durch das Buch viel über Rollstuhltennis gelernt und Themen, die mit einer Profikarriere im Behindertensport zusammenhängen.

Hervorzuheben ist die außergewöhnlich schöne Gestaltung des Buches. Es ist auf hochwertiges Papier gedruckt, hat ein Lesebändchen und enthält zahlreiche Farbfotos.

Mir hat die Biographie des sympathischen Autors, der sich nicht als Behinderten sieht, sondern als Menschen mit Behinderung, sehr gut gefallen - klare Leseempfehlung und 5 Sterne!

Bewertung vom 26.01.2023
Liebewesen
Schmitt, Caroline

Liebewesen


sehr gut

Beeindruckender Debütroman
In ihrem Debütroman "Liebewesen" erzählt Caroline Schmtt die Geschichte der Biologin Lio. Diese ist Mitte Zwanzig und lernt durch Vermittlung ihrer besten Freundin Mariam den attraktiven Soziologen Max kennen. Max ist Mitte Dreißig und arbeitet als Rundfunkmoderator. Obwohl Lio ihren Körper nicht mag und es ihr schwerfällt, körperliche Nähe zuzulassen, verlieben sich die beiden ineinander und teilen sich schon bald eine Wohnung. Die Beziehung gestaltet sich schwierig, Streitigkeiten sind an der Tagesordnung. Auch Max' Depressionen, seine Untreue und Lios in der Vergangenheit erlittene Traumata belasten die junge Beziehung. Als Lio nach zwei Jahren feststellt, dass sie ungewollt schwanger ist, fällt es ihr schwer, eine Entscheidung zu treffen.

Das Buch ist in der Ich-Form geschrieben und bringt dem Leser dadurch Lios Gedanken und Probleme noch näher.
Der Roman liest sich sehr flüssig, die Sprache ist sehr direkt, in meinen Augen manchmal zu direkt. Der Autorin ist es gelungen, die Entwicklung der Beziehung von Lio und Max sehr authentisch zu schildern. Lios Erinnerungen an die erlittenen Traumata und die damit verbundenen Probleme sind schonungslos offen und eher nüchtern beschrieben. Trotz der zahlreichen, mit viel Humor erzählten Passagen handelt es sich bei dem Buch um keine leichte Kost, es geht hier auch um Misshandlungen in der Kindheit, Vergewaltigung und Selbstverletzung. Auch Lios Erinnerungen an ihre kaltherzige Mutter und den alkoholkranken Vater schockieren, sie machen betroffen und traurig.

Das aufwühlende Buch wird mich noch länger beschäftigen - Leseempfehlung!