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Benutzername: 
Hennie
Wohnort: 
Chemnitz

Bewertungen

Insgesamt 263 Bewertungen
Bewertung vom 07.10.2018
Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste
Schwenke, Philipp

Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste


sehr gut

DIE FLIMMERNDE WIRKLICHKEIT
Es gibt einen wesentlichen Grund, warum ich das Erstlingswerk von Philipp Schwenke unbedingt lesen wollte. Ich bin gebürtige Sächsin und im zarten Alter von 10 Jahren machte ich die erste Bekanntschaft mit den Büchern Karl Mays in seinem Geburtsort Hohenstein-Ernstthal, unweit seines Geburtshauses. Durch meine Verwandten, die in dem Ort wohnten, erfuhr ich damals schon sehr viel über den berühmten Schriftsteller, den sie einen ziemlichen „Hallodri“ und „Hochstapler“ nannten. Warum, das konnte ich damals nicht verstehen, denn ich fand seine Geschichten außerordentlich unterhaltsam.
Das Buch beginnt mit dem Jahr 1862 mit einer Verhandlung in einem Chemnitzer Gericht. Karl May muss sich wegen eines geringen Vergehens verantworten und wird mit Zuchthaus bestraft. Der Prolog endet mit dem bemerkenswerten Satz:
„Noch ehe er 21 Jahre zählte, war Karl Mays Leben vorüber.“
Der Autor stellt dieses einschneidende Erlebnis der drastischen, maßlos übertriebenen Bestrafung nochmal zur Disposition in einer Beichte Karl Mays Richard Plöhn gegenüber. Sein bester Freund befragt ihn wegen dem Wahrheitsgehalt seiner Werke und May antwortet u. a.:
„Es bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, dass ich kein Ganzes mehr sei. Stattdessen gab es in mir verschiedene handelnde Personen, die sich bald gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander unterschieden.“ S. 492
Im wesentlichen beschreibt „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ die Jahre 1899 bis 1902. Die Orte der Handlung wechseln ständig. Sie zeigen einen Karl May, der mit seinen Werken einen Riesenerfolg hatte, aber den ersten Stimmen begegnen will, die ihn als einen Phantasten, als Lügner, als Spinner beschimpfen. „Der größte Abenteurer des Deutschen Reichs“ (S. 47) ist bereits 57 Jahre alt, als er beschließt seine erste, tatsächliche Reise in ferne Länder zu bestreiten und wird dabei recht bald mit seinen eigenen Illusionen in höchst unangenehmer Art und Weise konfrontiert.
„Die Wirklichkeit aber, sie hatte zu flimmern begonnen. ...in dem Irrsinn, mit dem man ihn liebt, entgleitet Karl sich selbst.“ S. 99
Seine wirkliche Orientreise ist erneut von erdachten Situationen, gepaart mit einer nicht wirklich existierenden Person, durchdrungen. Der Mann mit der „Schmetterfaust“ bringt sich mit seinen Flunkereien und Phantastereien sehr oft und vollkommen unnötig in teils arge Schwierigkeiten und Bedrängnis. Er verstrickt sich immer mehr in seine eigene, abstruse Wirklichkeit und gerät mehr und mehr unter physischen und psychischen Druck. Wie Karl May damit, dazu mit den heftigen Angriffen der Nachrichtenblätter aus der Heimat während seiner Reise, und noch mit privaten Problemen fertig wird, davon erzählt Philipp Schwenke in seinem Roman sehr gekonnt und abwechslungsreich. Mir gefällt es sehr, wie sich der Autor auch in der schwülstig, geschraubten Sprache des „Old Shatterhand“, „Kara Ben Nemsi“ ausdrückt.

Karl May ist ein sehr dankbares Thema für einen Roman. Er war ein Schriftsteller, der es mit der Wahrheit nie so genau nahm, der vermutlich auch im privaten Umfeld unter einer verzerrten Wahrnehmung litt. Hier beziehe ich mich hauptsächlich auf sein Verhältnis zu seiner ersten Ehefrau Emma sowie auch zu der Beziehung zu Klara Plöhn, die maßgeblichen Einfluß auf ihn hatte. Philipp Schwenke hielt sich an die authentischen Gegebenheiten (dazu gibt es viele Quellen), um Karl Mays Leben darzustellen. Er läßt dem Leser weiten Raum zu Spekulationen.

Ich habe das Buch sehr gern gelesen, aber es war mir teilweise zu weitschweifig. Ca. 200 Seiten weniger hätten es auch getan.
Informativ sind die Karte im Innenteil vorn und das Foto der Ehepaare May und Plöhn im hinteren Teil des Buches.

Meine Bewertung: 4 von 5 Sternen. Ich vergebe meine Empfehlung für alle Freunde des historischen Romans und Karl Mays.

Bewertung vom 29.09.2018
Mit der Faust in die Welt schlagen
Rietzschel, Lukas

Mit der Faust in die Welt schlagen


ausgezeichnet

MEIN APPELL: LEST DIESES BUCH UND REDET MITEINANDER
Mir fiel es sehr leicht in das Buch hineinzukommen. Für mich besticht es durch seine bündige, ab und zu verknappte, präzise Sprache. Der sehr junge Autor erzählt aus der Draufsicht, wertet nicht, läßt seine Worte wirken. Seine Schilderungen sind detailreich und erzeugten bei mir eine bedrückende Atmosphäre. Für mich stand vieles zwischen den Zeilen. Die Thematik beschäftigte mich weiter, wenn ich das Buch aus der Hand gelegt hatte.
Der Roman ist in drei Teile/Bücher gegliedert: Buch 1: die Jahre von 2000 bis 2004, Buch 2: 2004 bis 2006, Buch 3: 2013 bis 2015.
Es beginnt mit dem Hausbau der Familie Zschornack, elf Jahre nach der Wende. Der Vater ist von Beruf Elektriker, die Mutter Krankenschwester. Sie haben zwei Söhne, beide in den 90er Jahren geboren. Philipp ist der Ältere und Tobias ungefähr im gleichen Alter wie der Autor. Alles scheint zunächst in Ordnung zu sein. Aber unter der Oberfläche eines normalen Alltags brodelt es gewaltig. Recht bald empfand ich die Tristesse, die Langeweile, die aus fast jeder Zeile spricht. Mich berührte sehr unangenehm die Sprach-, ja irgendwie Teilnahmslosigkeit der Erwachsenen. Warum werden die Fragen der Kinder nicht beantwortet? Das Umfeld wirkt wie erstarrt und es erfolgt kein normaler, geschweige altersgerechter Umgang mit den Kindern, weder zu Hause noch in der Schule. Philipp und Tobias erhalten keine Antworten auf ihre Fragen, ihre Probleme. Nicht zum Zustand des Nachbarn Uwe, nicht zu den rußgeschwärzten Wänden des Ausländerwohnblocks in Hoyerswerda, keine Erklärungen zu Wörtern, die als Schimpfworte benutzt werden wie „Jude“, „Judensau“. Hakenkreuzschmierereien werden vor der Schule zugehangen von einer Lehrerin! Es wird viel zu viel totgeschwiegen, ignoriert, unangenehme Situationen werden vermieden, man geht ihnen aus dem Weg, klärende Gespräche finden nicht statt, geschweige denn ein vernünftiger Meinungsaustausch.
Lukas Rietzschel zeigt anhand der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen in dem kleinen Lausitzort eine brandaktuelle Situation auf. Er beleuchtet mögliche Ursachen für den zunächst latenten und dann immer offener werdenden Rassismus. Er bringt jede Menge Erklärungsversuche für die Radikalisierung einer Gruppe von Jugendlichen, darunter die Brüder Tobias und Philipp Zschornack. Ihr „Anführer“ heißt Menzel, ein junger Erwachsener, ein Neonazi. Tobias läßt sich von ihm immer mehr beeinflussen, während es Philipp zum Ende hin gelingt, sich von Menzel zu lösen.
Ich fragte mich wiederholt: Woher kommt die unbändige Wut auf alles Fremde? Warum geht man auf die Sorben los, die schon ewig dort leben? Wie kommt ein junger Mann wie Tobias zu einer so unglaublichen Aussage:
„Es braucht mal wieder einen richtigen Krieg.“ S. 294
Meiner Meinung nach fühlt er sich von allen verlassen und gerät immer mehr in den Sog der Gewalt mit rohen, zerstörerischen Handlungen gegen Menschen und Sachen. Wer oder was kann Tobias noch stoppen? Das läßt der Roman offen.
Ein Roman kann nur bedingt die Wirklichkeit abbilden. Aber ich verstehe das Werk Rietzschels als Mahnung, als Aufforderung hinzuschauen. Dringendst notwendig erachte ich, dass in den Schulen mehr deutsche Geschichte gelehrt wird, vor allem die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg! Da hat unsere Jugend Nachholbedarf und große Defizite!

Das Titelbild des Buches ist durch das blaue Kreuz über das gesamte Cover sehr auffällig. Dahinter befindet sich ein Landschaftsgemälde (Hügel mit Bruchacker bei Dresden )– ein Bild vom bedeutendsten Künstler der deutschen Frühromantik, Caspar David Friedrich, um 1824 gemalt. Ich finde die Gestaltung sehr gut gewählt. Sie unterstützt den Inhalt des Buches, soll heißen, dass es keine Spur von Romantik, Poesie, Edelmenschentum mehr gibt. Auch das läßt viel Spielraum für Diskussionen.

Ich bin begeistert von dem reifen Werk, das Debüt!!!! des 24jährigen Lukas Rietzschel und bewerte es mit fünf von fünf Sternen. Meine Empfehlung gilt für alle!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.09.2018
Der Schatten
Raabe, Melanie

Der Schatten


ausgezeichnet

Psycho, meisterhaft erzählt

„Der Schatten“ ist für mich nach „Die Wahrheit“ das zweite Buch von Melanie Raabe und ich schicke voraus, dass mich die Story wieder überzeugt hat. Es liegt Unheimliches, Gefährliches, Drohendes von Beginn an in den Zeilen.

Der Leser wird nach dem düsteren Prolog mit einer noch unheilschwangeren Situation konfrontiert. Die Protagonistin Norah Richter, Mitte Dreißig, verläßt Hals über Kopf ihre Heimatstadt Berlin, den Freund Alex und den Hund nach einer angeblichen Katastrophe. Ihre Gründe dafür konnte ich leider nicht nachvollziehen. Sie sind wahrscheinlich in ihrem Charakter zu suchen. Die Journalistin zieht nach Wien. Kaum dort angekommen, passieren merkwürdige Dinge. Schon nach der ersten Nacht in ihrer Wiener Wohnung begegnet sie im Treppenhaus einer jungen Frau, von der sie glaubt, sie sei ein Geist. Diese Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen, besten Freundin Valerie! Als nächstes hat sie in der Wiener Fußgängerzone ein beunruhigendes Erlebnis mit einer auffälligen Bettlerin, die ihr prophezeit:
„Am 11. Februar wirst du am Prater einen Mann namens Arthur Grimm töten. Aus freien Stücken. Und mit gutem Grund.“
Sie findet es im Moment nicht bedrohlich, aber nach und nach beschäftigt sie sich intensiver mit dieser Aussage und wird fündig. Wird sie wirklich zur Mörderin?

Über die gesamte Story fühlte ich wie die Hauptperson Norah. Ich empfand mit. Es war für mich sehr verwirrend, irgendwie mysteriös! Ständig schwebte über dem Geschehen diese unterschwellige Bedrohung, eine beklemmende Atmosphäre, die sich auch auf mich übertrug. Es gab etliche Wiederholungen bei Norahs Tagesablauf, ihrem Gemütszustand, ihren Handlungen. Sie drehte sich im Kreis. Was hatte es mit der „Weissagung“ der großen, obdachlosen Frau auf sich? Wer wollte unbedingt, dass sie diesen Arthur Grimm tötet? Welches Motiv steckte dahinter? Und was hatte die vor langer Zeit verstorbene Valerie damit zu tun? Es geschehen rätselhafte Dinge um Norah herum. Norah hört Geräusche, riecht Pfeifentabak, doch niemand ist zu sehen. Sie fühlt sich beobachtet. Es verschwinden Dinge aus ihrer Wohnung, andererseits finden sich welche an. Ein Fremder, der sich als ihr Freund bezeichnet, sendet merkwürdige SMS-Botschaften. Die Freunde Tanja, Max und Paul wenden sich von ihr ab. Als Leser war ich hin- und hergerissen. Bildet sich Norah das alles nur ein? Oder ist es so, wie es beschrieben wird? Sind es tatsächliche Wahrnehmungen, Feststellungen, Ahnungen von Norah oder handelt es sich vielleicht doch um Halluzinationen? Bis ins letzte Drittel des Buches war ich im Unklaren. Wie die Autorin die Geschichte auflöst, und als Stilmittel dann in die Ich-Perspektive (Norah) wechselt, finde ich meisterhaft. Eine Wendung in der Geschichte, die ich zwar ahnte, aber mich dennoch erstaunte. Die Hauptperson ist und bleibt Norah. Sie wurde gut dargestellt, eine taffe, mutige, aber zugleich auch unsichere, zweifelnde Persönlichkeit. Die Nebenfiguren bleiben weitgehend im Hintergrund, aber wurden von der Autorin mit akribischer Sorgfalt mit positiven wie negativen Eigenschaften ausgestattet.
Melanie Raabe versteht es von Anfang an, mit ihrem angenehmen Schreibstil zu fesseln. Sie weiß wunderbar zu formulieren. Mich beeindruckte ihre bildhafte Sprache. Dadurch wurden Stimmungen erzeugt, die Suggestionen, Manipulationen noch befeuern.

Cover und Titel sind gut gewählt. Tote Vögel gibt es jede Menge im Buch und werden auch in der Prophezeiung der Bettlerin erwähnt:
„Blumen welken...Uhren bleiben stehen. Die Vögel fallen tot vom Himmel.“

"Der Schatten" kann ich empfehlen, vor allem für Leser, die Psychothriller lieben. Ich vergebe die höchste Bewertung. Fünf von fünf geheimnisvollen Sternen!

Bewertung vom 29.08.2018
Blutrausch - Er muss töten / Detective Robert Hunter Bd.9
Carter, Chris

Blutrausch - Er muss töten / Detective Robert Hunter Bd.9


ausgezeichnet

GALERIE DER TOTEN
Für mich war der neunte Fall von Robert Hunter und Carlos Garcia der erste. Ich bin fasziniert von diesem Thriller von der ersten bis zur letzten Seite. Der Spannungsbogen ist weit gespannt und wird geschickt über die gesamte Story gehalten. Ich fühlte mich gut unterhalten.
Es beginnt unbeschreiblich grausam, ja geradezu barbarisch. Das erste Opfer des bald als „Chirurgen“ benannten Killers ist eine junge, schöne Frau, ein erfolgreiches Model. Sie wird ausgerechnet von ihrer Mutter gefunden. Unvorstellbar grausam zugerichtet und verstümmelt bietet sie und der Raum drumherum einen so schockierenden Anblick, dass ein Kollege die Sonderermittler Hunter und Garcia warnt mit diesen Worten:
„Seit 37 Jahren bei der Truppe, und das Einzige, was ich vergessen möchte, ist das, was in diesem Zimmer ist.“
Auch „die härtesten Profiler der Welt“ vom LAPD Morddezernat I in Los Angeles sind von diesem Gewaltakt erschüttert. Alles an diesem Tatort ist zunächst unerklärlich, verwirrend, verstörend, ein richtiger Alptraum. Doch das ist nur der Auftakt zu weiteren Morden in verschiedenen Bundesstaaten. Das FBI schaltet sich ein und nach anfänglichem Kompetenzgerangel arbeiten Hunter und Garcia mit den Special Agents Erica Fisher und Larry Williams zusammen. Der grauenhafte Mord an dem Model Linda Parker war nicht der erste. Die Spezialisten haben es mit einem Serienmörder zu tun, der auf dem Rücken der Opfer Schnitte, eingeritzte lateinische Botschaften, hinterläßt. Der Wortlaut hat stets etwas mit Schönheit zu tun.
Die 104 Kapitel sind ausnahmslos kurz und ich folgte voller Ungeduld der Story, die ab und an den direkten Handlungsstrang zum Täter unterbrach und damit die Spannung für mich erhöhte. Durch die Erzählweise ist der Leser gegenüber den Ermittlern im Vorteil. Die Protagonisten Hunter und Garcia empfinde ich als sympathisch und werde ganz sicher noch mehr von Carter lesen. Besonders mit Robert Hunter ist ihm eine Figur gelungen, die außergewöhnlich ist. Er nimmt die Welt oft anders wahr als normale Menschen. Robert verfügt über eine Gabe, die ihm ermöglicht Zusammenhänge schneller zu erkennen. Warum ihm das gelingt, hat mit seiner Krankheit zu tun. Auch das Zusammenspiel mit seinem Partner gelingt überwiegend reibungslos. Sie verstehen sich ohne Worte. Dagegen kommen die beiden FBI-Agenten nicht so gut weg. Besonders Special Agent Fisher erscheint mir übertrieben dargestellt. Ihre Art gefiel mir nicht.
Den deutschen Titel „Blutrausch - Er muss töten“ finde ich nicht passend. Der englische Titel „Gallery of the Dead“ ist besser, da er den Taten des Mörders und seinem Anliegen besser entspricht. Fast zum Schluß begründet der Killer, warum er die Verbrechen begangen hatte und sie regelrecht inszenierte. Das ist eine wirklich erstaunliche Herangehensweise und mit den lateinischen Sprüchen über die Schönheit in Gänsehaut erzeugender kreativer Übereinstimmung. Was für ein Einfall von Chris Carter!
Als Letztes überraschte mich der Autor noch mit einem Cliffhanger, mit dem ich allerdings noch nichts anfangen konnte, da er sich auf einen Vorgängerband bezieht. Auf alle Fälle macht es mich neugierig auf Band 10.

Fazit:
“Blutrausch“ erzählt von einem Serienmörder der besonderen Art. Ein Killer mit Künstlerseele!
Ausgezeichnete Unterhaltung in einem sehr gut zu lesenden Schreibstil. Chris Carter wird eingereiht in meine Galerie der besten Thrillerautoren.
Von mir gibt es die höchste Bewertung!

Bewertung vom 22.08.2018
In Schönheit sterben / Robert Lichtenwald Bd.2
Ulrich, Stefan

In Schönheit sterben / Robert Lichtenwald Bd.2


gut

Ich wollte mich gern entführen lassen in die Welt der italienischen Lebensart, in die toskanische Maremma, in die römische Kunstszene. Der Klappentext und die Leseprobe waren angereichert mit Vorfällen, die mich einen packenden Kriminalroman mit spannender Atmosphäre erwarten ließen. Aber zunächst zum
Meine Meinung:
Die ersten 4 Kapitel (von insgesamt 33) bis zur Seite 67 verliefen gemächlich ohne Action trotz des Prologs, der es schon in sich hatte, sowie der Information über die Ermordung des Kunstfreundes. Mir war leider schon nach den wenigen Seiten die Geschichte verleidet, da ich zweimal den Namen des Mörders vom ersten Band lesen musste. Warum spoilert Stefan Ulrich sich selbst? Nun brauche ich „Die Morde von Morcone“ nicht mehr lesen, weil mir das keine Freude mehr macht.
Ab etwa der Mitte des Buches wußte ich sicher, wie der Prolog in die Geschichte paßt und wer der Täter sein könnte. Für mich als erfahrene Krimileserin gab es dazu zu viele offenkundige Anspielungen. Die persönlichen Belange des Robert Lichtenwald treten mir zu sehr in den Vordergrund. Der Kriminalfall erscheint dadurch wie zufälliges Beiwerk. Die unzähligen Wiederholungen sind mir einfach zuviel. Fortwährend kommen Roberts Nochfrau Stefanie und die Tochter, seine widerstreitenden Gefühle zur jungen Reporterin zur Sprache. Auch werden die „sprechenden“ Hexenohrringe der schönen Giada Bianchi und die geheimnisumwitterte Dame mit dem Halbschleier xmal erwähnt.
Trotzdem habe ich mich gut unterhalten gefühlt. Ich kann mir vorstellen, dass Italienliebhaber ihre helle Freude an den herrlichen Beschreibungen der ländlichen Toscana, an der Erwähnung der Örtlichkeiten haben werden. Der Autor hat wunderbare, kreative Einfälle. Dazu gehören Roberts Freund Luigi La Torre, der Philosoph, der ständig zitiert und die Zuhörer sollen raten; „Auf den Geist muss man schauen. Denn was nützt ein schöner Körper, wenn in ihm nicht eine schöne Seele wohnt.“ (Euripides); und natürlich das außergewöhnliche Haustier, dass Robert von Luigi geschenkt bekam, sowie die Bäume der Reisenden.
Übrigens fand ich eine Aussage vom Autor, nachdem er nach dem Ort Morcone gefragt wurde, ob es ihn wirklich gibt:
„Ja. Aber er heißt nicht so. Wer ihn in der Maremma sucht, der wird ihn finden.“
Fazit:
Die Spannung tritt leider in den Hintergrund bei den vielen Nebenschauplätzen. Das Ende finde ich übertrieben, zu abgehoben.
Insgesamt eine unterhaltende Urlaubslektüre, nicht nur für Italienfreunde.
Meine Bewertung: 3 von 5 Sternen – also gut -

Bewertung vom 12.08.2018
Bülent Rambichler und die fliegende Sau / Bülent Rambichler Bd.1
Bogner, Anja

Bülent Rambichler und die fliegende Sau / Bülent Rambichler Bd.1


sehr gut

Der Einstieg ins Geschehen ist wie ein Paukenschlag. Eine nackte, beleibte, junge Frau mit Engelsflügeln liegt mitten auf der Straße! Mausetot! Und nach diesem Prolog ist man schon mittendrin im fränkischen Dorfleben. Direkt, geradezu, so wie der Schnabel gewachsen ist, wird parliert. Das ist keine deutsche Hochsprache, sondern dem Volk wird aufs Maul geschaut. So geht es auch recht ruppig, wenig feinfühlig zur Sache als die 80jährigen, kleinwüchsigen Walderzwillinge mit ihrem grünen Opel die Leiche der Kerstin Rummsler anrumpeln. Sie sind neben Franz Geiger, dem Suff, die ersten merkwürdigen, ulkigen bis skurillen Typen von Strunzheim, denen bald noch viele andere folgen werden. Wie Hauptkommissar Bülent Rambichler von seinem Vater Erkan an den Fall rangeschubst wird, ist schon ganz schön link. Der Alte hat es faustdick hinter den Ohren, ist mit allen Wassern gewaschen. "Wo ein Türke, da auch ein Weg.", meint er und setzt oft seinen Willen durch. Ziemlich integriert dieser Türke! Ein wahres fränkisch-türkisches Schlitzohr.
Ich bin aus dem Schmunzeln über die gesamte Story nicht herausgekommen. Wortwitz, deftige Sprache kann man der Autorin wahrlich nicht absprechen. Auch zotige, vulgäre Sprüche sind ihr nicht fremd, legt sie ihren Figuren in den Mund oder beschreibt sie mit rohen Worten. Es geht turbulent und sehr volkstümlich zu. Aber ein ums andere Mal ist es dann doch etwas überzogen, wird der Bogen überspannt. Das wird jeder Leser anders empfinden.
Für mich war dieses Buch jedenfalls rundum unterhaltsam!
Komische bis aberwitzige Szenen zuhauf! Es gibt einen Pfarrer Winter, der daher kommt wie Pater Ralph aus den Dornenvögeln, allerdings dann doch schon ein ganzes Stück anders mit seinem geschlechtsbetonten Sportdress (A. B.: „göttlicher Astralkörper“). Der pflegebewußte Hauptkommissar Bülent Rambichler tritt in jedes bereitgestellte Fettnäpfchen und seine vegane Assistentin Astrid Weber wird militant, wenn es einer Sau an den Kragen geht. Ich bin gespannt, ob sie sich in einer Fortsetzung als Liebespaar finden werden.
Die Auflösung des Kriminalfalles liefert ein ehemals Hauptverdächtiger auf banale Weise. Der ernste Hintergrund des Todes der Kerstin Rummsler wird wiederum ziemlich derb humorig verpackt und so endet diese Geschichte wie sie begonnen hat.
Ich lag von Anfang richtig mit meiner Vermutung, aber das hat meinem Lesevergnügen keinen Abbruch getan. Die Story amüsierte mich köstlich, betone ich nochmals.

Ich bewerte mit vier von fünf Sternen!

Bewertung vom 08.08.2018
Vergessene Seelen / Max Heller Bd.3
Goldammer, Frank

Vergessene Seelen / Max Heller Bd.3


ausgezeichnet

Teil drei - Vergessene Seelen - nimmt den Leser mit in die heißen Junitage des Sommers 1948. In Dresden geht der Wiederaufbau langsam voran. In mühseliger, eintöniger Arbeit beräumen die Trümmerfrauen die Stadt von den Ruinen. Kriminaloberkommissar Max Hellers Frau Karin ist mitten unter ihnen. Fast beneidet er seine Frau um ihre Tätigkeit, da sie den Erfolg ihrer Arbeit tagtäglich vor Augen hatte. Max dagegen sah seine Bemühungen im Kampf gegen das Verbrechen selten belohnt. In der hochsommerlichen Hitze wird er sehr bald hintereinander mit mehreren Todesfällen konfrontiert. Einer davon ist der Tod eines 14jährigen Jungen, der zunächst unklar erscheint. Max Heller stößt bei seinen Ermittlungen mehr auf Widerstände als auf Bereitschaft zur Mitarbeit. Zudem kommen ihm selbst ganz unmittelbar die eigenen, quälenden Erinnerungen in die Quere...
Der Kriminalroman berichtet nur über einen kurzen Zeitraum, vom 17. Juni bis 25. Juni 1948. Von der ersten Seite an begeisterte mich der direkte, lebendige Sprachstil Frank Goldammers, der den jeweiligen Umständen voll entspricht. Gut recherchiert empfinde ich den Zeitgeist in der sowjetischen Besatzungszone. Kaum von einer Diktatur erlöst, befindet sich die nächste schon in den Startlöchern. Der Zeitraum, persönliche Entscheidungen zu treffen, in welchem Teil Deutschlands man zukünftig leben wollte, war eng gesteckt. Die Menschen waren zum größten Teil verunsichert, traumatisiert, seelisch und körperlich verwundet und immer noch verblendet von der Kriegspropaganda.
Der Krieg in den Köpfen ging also weiter und die Angst vor einem erneuten Weltbrand war in der Bevölkerung Tagesgespräch. Gerüchte machten die Runde. Die Währungsreform in der Trizone wurde vollzogen, der Osten hinkte hinterher, vorerst gab es nur Aufklebeaktionen (Tapetengeld). Das es im Westen schon viel besser vorwärtsging, war nicht nur Gerede. Das war die bittere Realität im Juni 1948. Am Beispiel der Familie Heller wird auch das sehr gut in Szene gesetzt durch die beiden Söhne Erwin und Klaus. Erwin bleibt im Westen und Klaus ist schon im neuen System angekommen und integriert. Der Riß, der durch die Familie geht, war da schon so gut wie vollzogen. Ich glaube nicht, das Max Heller seine pragmatische Sichtweise zugunsten irgendeiner Partei in der Zukunft noch aufgibt.
Mit Max Heller, seiner Hauptfigur, gelang dem Autor ein sympathischer, geradliniger Charakter. Ihm habe ich seine Zweifel, Ängste, seine Unsicherheit, seine Unrast bei der Ermittlertätigkeit, bei allen seinen Entscheidungen abgenommen. Dass auch Max seine dunklen Seiten hat, woher seine Alpträume stammen, wird im letzten Kapitel deutlich. Vergessene Seelen, das ist ein Titel, den ich als sehr treffend gewählt bezeichne. Um so mehr ich darüber nachdachte, desto mehr ging es mir nahe. Alle Menschen, ob groß oder klein müssen mit einer Realität fertig werden, die sie vor Riesenprobleme stellt. Ihre Welt ist aus den Fugen geraten. Der Krieg war zwar vorbei, aber nichts in Ordnung. Anhand der Familie Utmann und ihrem Umfeld konnte ich das gut nachvollziehen. Für mich lebendig gewordener Geschichtsunterricht! Um sich das Leben erträglicher zu gestalten, konsumieren selbst schon die jüngeren Kinder Drogen (hier: Pervitin, eine Rauschdroge, die Soldaten im Krieg verwendeten). Viele der Leute sind in krumme Geschäfte verwickelt. Das Verbrechen boomt, von Hehlerei über Diebstahl, Raub, Bandentum bis zu Mord und Totschlag – alles vorhanden.
Der Krimi hat mich gut unterhalten und mir die Zeit nahe gebracht. Das Ende war für mich überraschend und hatte ich so nicht erwartet! Chapeau, Frank Goldammer!
„Vergessene Seelen“ und die beiden Vorgängerbände sind für mich ganz ausdrucksstark geschriebene Bücher, die das Leben drei Jahre nach Kriegsende so realitätsnah wie möglich beschreiben. Ein St

Bewertung vom 31.07.2018
Ein unvergänglicher Sommer
Allende, Isabel

Ein unvergänglicher Sommer


ausgezeichnet

EIN TOLLES LESEERLEBNIS
«Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher, unbesiegbarer Sommer ist.» Albert Camus

Es beginnt mit einem Schneechaos in New York. Im Stadtteil Brooklyn lebt seit Kurzem Lucía, eine geschiedene, zweiundsechzigjährige Chilenin, die als Gastdozentin an der New York University für sechs Monate lehrt. Die Frau hatte sich, was Männer betraf noch nicht aufgegeben, obwohl die Chancen nach ihrer Meinung schlecht standen. Ihr Begehren gilt Richard, ihrem Arbeitgeber und gleichzeitig ihr Vermieter. Richard aber verhält sich abweisend. Das hat zumindest den äußerlichen Anschein. Der Professor entwickelte im Laufe der Zeit eine Angst vorm Leben und der Liebe. Seine vier Katzen sind seine einzigen Mitbewohner, die ihn aber nicht behelligen. Eine davon nascht am Frostschutzmittel und er fährt trotz winterlichem Chaos zum Tierarzt. Mieze muss zur Beobachtung dableiben. Auf dem Rückweg dann beginnt das Unheil seinen Lauf zu nehmen. Durch eine kurze Unaufmerksamkeit verursacht Richard einen harmlosen Auffahrunfall. Was er zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnt, in dem Kofferraum des Wagens liegt eine weibliche Leiche...

Die Kapitel sind überschrieben mit den drei Namen der Protagonisten und dem Ort der Handlung. Anhand der eingangs beschriebenen Situation, die sie zu einer Zwangsgemeinschaft zusammenführt, entwickeln sich in Gesprächen die Lebensgeschichten von Evelyn Ortega aus Guatemala, Lucía Maraz aus Chile und Richard Bowmaster aus New York. Auf nur 350 Seiten nahm mich Isabel Allende mit in die Heimat der jungen Guatemaltekin, deren Land von Korruption, organisiertem Verbrechen und der schweren Gewalttaten der Mara (kriminelle, sehr grausam agierende Jugendbande) heimgesucht wurde. Das junge Mädchen ist schwer traumatisiert von den furchtbaren Erlebnissen, die sie selbst und ihre beiden Brüder betrafen. Evelyn gelingt die kräftezehrende, gefährliche Flucht über Mexiko in die USA.
Lucías Leben wiederum wird nachhaltig beeinflußt durch die Ereignisse um den Militärputsch 1973 in Chile. Auch sie verläßt ihr Heimatland, geht als 19 jährige nach Kanada, heiratet, bekommt eine Tochter.
Richard schließlich lebte mit seiner Familie viele Jahre in Brasilien. Nach schweren, familiären Schicksalschlägen und nach der Überwindung seiner Alkoholsucht hatte er sich weitgehend vom normalen Dasein in sich selbst zurückgezogen, wird zum Eigenbrötler.

Fazit:
Isabel Allende zählt man nicht ohne Grund zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen der Welt. Auch dieser Roman konnte mich wieder in den Bann ziehen und voll überzeugen. Beeindruckend, wie die Autorin es versteht auf den wenigen Seiten so viele Informationen äußerst lesenswert, mit viel Herz und Seele, unterzubringen. Sie erzählt in meisterhaftem, eindringlichen Schreibstil nicht nur die drei Lebensgeschichten, sondern belebt auch das Umfeld mit faszinierenden Charakteren, mit tragischen Schicksalen.
„Ein unvergänglicher Sommer“ ist ein vielschichtiger Roman. Die Verbindung von Spannung, geschichtlichem Hintergrund und Liebesgeschichte zweier Personen im reiferen Alter finde ich hervorragend gelungen.

Deshalb vergebe ich sehr gern die Höchstbewertung und eine Lese-/Kaufempfehlung.

Bewertung vom 29.07.2018
Der Duft des Lebens
Bagus, Clara Maria

Der Duft des Lebens


ausgezeichnet

DER KAMPF GEGEN DEN SEELENFÄNGER

„Vergiß nicht, das deine Seele Flügel hat.“
Das ist ein Zitat aus dem Prolog, der mit wenigen Sätzen voller geheimnisvoller Andeutungen beginnt. Der Roman fängt an wie in einem Märchen: „IN EINEM FERNEN LAND,...“.
Die feinsinnige, poetische Sprache zieht sich durch das ganze Buch, obwohl die Handlung alles andere als märchenhaft ist.

Zum Inhalt:
Der Start ins Leben des kleinen Jungen namens Aviv (bedeutet Frühling) geht mit dem Tod der Mutter Helene einher. Die Hebamme Selma, die nie Kinder bekommen konnte, nimmt Aviv als ihren eigenen Sohn an. Selma ist selig. Der Einen Unglück ist der Anderen Glück. Aviv Silberberg wächst wohlbehütet bei der schon älteren Frau auf. Er entwickelt einen wachen Blick für das Treiben der Menschen und bald beginnt er zu ahnen und zu spüren, dass etwas Dunkles, Eigenartiges in der Stadt vor sich geht. Der Junge lernt das Glasbläserhandwerk beim alten Abramowitsch. Eines Tages kommt ein seltsamer Kunde in den Laden, der ein feindliches Verhalten an den Tag legt, das Aviv das Blut in den Adern gefrieren läßt. Kaminski, ein Arzt, bestellt bei Aviv fünfzig Glasfläschchen und eine besondere Amphore. Damit nimmt das Unheil seinen Lauf...

Die Einteilung der Erzählung erfolgt in den vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter und in 73 Kapiteln sowie Prolog und Epilog. Clara Maria Bagus nimmt den Leser mit in eine kleine, fiktive Stadt mit ihren arg- und ahnungslosen Bewohnern, die dem bitterbösen Arzt Arthur Kaminski in die Falle gehen. Die meisten Menschen folgen ihrem Gewissen, aber er folgte seiner grausamen Natur. Ihm wurde schmerzhaft bewußt über viele Jahre, dass er anders ist. Deshalb verspürt Kaminski den unwiderstehlichen Drang seine rabenschwarze Seele los zu werden. Durch ein Seelenkonzentrat aus allen genialen, menschlichen Eigenschaften will er seine vollkommene Seele kreieren. Mit dem einzigartigen Lebenselixier möchte er sich zum perfekten Menschen machen.
„Das Beste der Menschheit in eine einzige Seele packen – eine Seele, die ganz allein für ihn bestimmt war.“
Die Kapitel sind kurz und die bildhafte, oft ätherische Sprache läßt sich wunderbar lesen. Abwechselnd erfährt man durch die beiden Erzählstränge um Aviv und Kaminski von den teuflischen, mörderischen Machenschaften des Arztes und von den Rückschlägen, die Aviv im Kampf gegen ihn erleiden muss. Hätte er nicht die Hilfe von seinen liebsten Mitmenschen (Selma, Abramowitsch, Filip) und des gewandelten Diebes Isaac gehabt, so wäre er gescheitert. Das Böse hätte über das Gute gesiegt!
Für mich war dieses Buch voller Weisheiten mit vielen aussagekräftigen Sätzen, die ich in meine Zitatesammlung aufnahm. Es ist ein Buch mit wundervollen Einsichten und überraschenden Wendungen sowie tiefer Menschlichkeit neben der verkohlten, schäbigen Seele des Arztes.

Fazit:
Als erstes fiel mir der wunderbare Schreibstil auf. Die Sprache ist voller Kraft, voller Poesie trotz der traurigen Momente! Nahtlos in den positiven Gesamteindruck fügt sich das stilvolle Cover ein, der hellblaue Hintergrund und die Anmut der weißen Blume.

„Der Duft des Lebens“ ist für mich ein Lesehighlight des Jahres 2018. Ich kann es guten Gewissens weiterempfehlen mit der Höchstbewertung!

Bewertung vom 25.07.2018
Opfer
Lemaître, Pierre

Opfer


sehr gut

NICHT NUR EIN OPFER
Es beginnt mit einem Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft und Anne Forestier befindet sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Die Brutalität, mit der die Männer gegen sie vorgehen, ist Aufsehen erregend. Sie wird zum willfährigen Spielball von gewalttätigen Kerlen, da Anne mit ihrer plötzlichen, unvorhergesehenen Anwesenheit ihren gut organisierten Plan durcheinander zu bringen drohte. Wie in Zeitlupe erlebt man mit, was mit der schon schwerverletzten, blutüberströmten Anne weiter passiert. Schwer zu ertragen auch die Passivität der Zuschauer. Es ist nicht zu fassen! Keiner hilft ihr. Es grenzt an ein Wunder, dass Anne diese Tortur überlebte. Camille Verhoeven, Chef der Pariser Mordkommission, sichtet die Überwachungsbänder und erkennt in der Frau, die ihn anzuflehen scheint, seine Lebensgefährtin.
Das ist die Handlung in der Leseprobe, die bis zur Seite 44 (gesamt 329 Textseiten) reichte. Es berührte mich sehr und ging mir unter die Haut. Bis dahin sehr gut und leicht verständlich erzählt.

»Vertrauen Sie auf Lemaitre. Er weiß, was er tut.« Sydney Morning Herald

Ich vertraute auf Pierre Lemaitre und las das Buch. Doch so einfach wie die ersten Seiten, ließ sich die Geschichte dann doch nicht lesen. Die Geschehnisse umfassen nur drei Tage, werden aber in minutiöser Abfolge erzählt. Es wurde für mich teilweise sehr anstrengend. Der Autor wechselt zudem oft die Erzählsituationen. Die auktoriale Sicht ist die vorherrschende Erzählstruktur, dazu kommt die Ich-Perspektive und die direkte Ansprache des Lesers (mit „Sie“ und „Ihr“) sowie die wörtliche Rede.
Sehr zeitig bemerkt Camille, dass irgendetwas mit dem Tatablauf so gar nicht stimmt. Einer der Täter versucht mit einer unerbittlichen Verbissenheit, Ausdauer und Hartnäckigkeit Anne zu töten.Warum? Das erfährt man erst ungefähr ab dem letzten Drittel des Buches. Nichts ist so, wie es scheint.
Jedenfalls übernimmt Camille die Ermittlungen, obwohl er das wegen der Nähe zum Opfer nicht dürfte. Er steckt recht bald so richtig in der Zwickmühle, da er nicht bekanntgegeben hat, wie nah ihm Anne steht. Die Summe seiner Lügen gegenüber den Vorgesetzten macht ihn fast handlungsunfähig. Doch der nur 1,45m kleine Camille ist sehr zäh und bleibt dran, setzt sich gegen alle Widerstände durch. Das Ende überraschte mich dann doch. Der Verlauf der Story war gut durchdacht. Ich könnte es mir sogar als Verfilmung vorstellen!

Fazit:
Pierre Lemaitre hat einen Schreibstil, der dem Leser einiges abverlangt, hauptsächlich Aufmerksamkeit. Evtl. kann einiges auch der Übersetzung aus dem Französischen geschuldet sein. „Opfer“ ist nicht leicht zu lesen.
Titel und Cover harmonieren, nehmen Bezug auf den Inhalt. Man sieht ein Einschussloch in eine Glasscheibe. Den Titel würde ich so interpretieren, dass es nicht nur ein Opfer (bezogen auf Anne), sondern viele Opfer im Verlauf der Handlung gibt.

Ich vergebe vier von fünf Sternen.