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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 548 Bewertungen
Bewertung vom 19.01.2022
Eure Leben, lebt sie alle
Hein, Sybille

Eure Leben, lebt sie alle


ausgezeichnet

Eins vorweg: Das Cover ist das schlechteste an diesem Buch, es wird dem äußerst gelungenen Roman nicht ansatzweise gerecht.

Autorin Sybille Hein lässt uns auf unterhaltsame und intelligente Weise am Leben ihrer fünf Protagonistinnen teilhaben. Da ist etwa Psychologin Ellen, die ihrer jugendlichen Ungebundenheit hinterher trauert, die sie einstmals als Sängerin einer Band ausleben konnte. Und so flüchtet sich Ellen aus dem Trott zwischen Familienalltag und Praxis in eine Affäre mit einem Toyboy. Oder die stets perfekt gestylte Luise, die ihre Selbstzweifel hinter einer Wand aus Regeln und Erwartungen versteckt, unter denen nicht nur ihre Familie, sondern auch sie selbst leidet. Sie mutiert zu einem Kontrollfreak, die an Bree aus der TV-Serie "Desperate Housewives" erinnert.

Gemeinsam ist den Figuren, dass sie im Lauf ihres Lebens eine Fassade errichtet haben, dass sie dem entsprechen, was andere von ihnen erwarten, oder auch einem Bild, das sie selbst einmal von sich gezeichnet haben. Auf der Strecke geblieben ist dabei, inne zu halten und sich selbst ehrlich zu betrachten. Bestandsaufnahme des eigenen Lebens zu machen, sich an Träume zu erinnern, Wünsche zu hinterfragen. Und vor allem: sich nicht nur einzugestehen, wenn man in der Vergangenheit Fehler gemacht hat, sondern diese auch zu korrigieren, selbst wenn beides Mut erfordert.

Hein ist es gelungen, höchst verschiedene Charaktere zu schildern, die einem sofort vertraut erscheinen. Sie erinnern an eine Arbeitskollegin, Nachbarin, Tante - oder auch ein wenig an sich selbst. Hein schreibt kraftvoll, witzig und bringt zum Nachdenken. Gute Unterhaltungsliteratur - die ich von dem albernen Einband befreit habe.

Bewertung vom 19.01.2022
Survival
Atwood, Margaret

Survival


gut

Margaret Atwood zählt zu den wenigen kanadischen Autorinnen und Autoren, die es zu Weltruhm gebracht haben. Ihre Dystopie "Der Report der Magd" wurde in zahlreichen Ländern ein Bestseller. Nun ist Atwoods Analyse der literarischen Landschaft ihrer Heimat erstmals auf Deutsch verlegt worden, knapp 50 Jahre nach Veröffentlichung des Originals.

Ich mag Atwoods Romane, stellte vor der Lektüre von "Survival" selbstkritisch fest, dass ich wenig über Kanada und noch weniger über Canlit wusste und stürzte mich erwartungsvoll auf die vom Verlag recht vollmundig als skandalös und hochamüsant angepriesene Literaturgeschichte.

Was habe ich durch das Buch gewonnen? Nun, durchaus an Erkenntnis, etwa dass Atwood das Überleben als eines der zentralen Symbole kanadischer Literatur ausmacht. Dass die Natur von kanadischen Autoren als zerstörerisch und brutal beschrieben wird, dass ihre Protagonisten verzweifelte Verlierer sind, geprägt von der kolonialen Ausbeutung ihrer Heimat.Die Zukunft einer Nation benötigt eine identitätsstiftende Vergangenheit, und der Blick auf den Ist-Zustand der Literatur kann sicher zum (Selbst-)Verständnis einer Nation beitragen. Allerdings kann ich Atwoods Thesen nicht einmal ansatzweise bewerten, kenne ich doch so gut wie keines der zahlreich zitierten Werke. Überdies ist ihre Analyse veraltet, sie bildet den Status von vor 50 Jahren ab. Und das ist mir zu wenig. Ich frage mich einerseits, wieso Atwood es - abgesehen von weiteren Vorworten - nicht für sinnvoll und nötig erachtete, ergänzende Kapitel zur jüngeren Canlit zu verfassen. Außerdem würde ich gerne wissen, wieso der Verlag ein derart angestaubtes und veraltetes Buch gerade jetzt erstmals in Deutsch veröffentlicht. Vermutlich wäre das ohne Atwoods Prominenz und der Tatsache, dass Kanada Gastland der letzten Frankfurter Buchmesse war nicht geschehen.

Was mich ferner stört ist die Verwendung des Begriffs "amerikanische Literatur", wenn US-amerikanische Literatur in Abgrenzung zur Canlit gemeint ist. Was ist mit der Literatur aus Mittel- und Südamerika? Aber es kommt noch schlimmer: Dass Atwood es bei der Neuauflage von 2013 nicht erforderlich fand, die postkoloniale, äußerst negativ besetzte Fremdbezeichnung "Indianer" durch First Nations oder Natives zu ersetzen, ist inakzeptabel und ignorant. Dass der berlin Verlag sich hier mit einer einzigen, winzigen Fußnote aus der Verantwortung stiehlt, enttäuscht mich überdies. Ich wünsche mir hier, dass man Haltung zeigt. Ebenso sollte man wissen, dass Atwood - selbst Anglokanadierin - auf die frankokanadische Literatur nur stiefmütterlich eingeht.

Für mich ein insgesamt durchwachsenes Leseerlebnis, leider.

Bewertung vom 17.01.2022
Die Schule der Redner
Seeger, Johann

Die Schule der Redner


sehr gut

Hätte man mich vor der Lektüre dieses Romans nach einer Gemeinsamkeit von Rittern und Rhetorik gefragt, hätte ich wahrscheinlich erst gestutzt und dann etwas von "Minnegesang" gemurmelt.

Johann Seeger aber fügt die beiden Felder in seinem Erstlingsroman geschickt zu einem spannenden Plot, in dem Ritter und Vertreter verschiedener Religionen um die Macht des Wortes ringen. Man merkt der Erzählung an, dass der Autor hauptberuflich Rhetoriktrainer ist. Geschickt erteilt er seinen Leser*innen quasi nebenbei die ein oder andere Lektion in der Kunst der Rede. Ich habe dies mit großem Genuss und viel Gewinn gelesen, denn es kommt keineswegs schulmeisterlich daher, sondern ist sehr mitreißend und kurzweilig . Leider fällt bisweilen aber auch auf, dass es Seegers erster Historienroman ist. So gibt es den ein oder anderen (kleinen) Anschluss- oder Logikfehler, und dass der Ausdruck "Kartoffelnase" einen vorgreifenden Anachronismus darstellt, hätte der ausgewiesene Mittelalterfan Seeger eigentlich wissen müssen.

Darüber kann man aber großzügig hinwegsehen, wenn man vor allem spannende Unterhaltung möchte. Denn die liefert Seegers ohne Frage: Atemberaubende Verfolgungsjagden wechseln sich mit grausamen Folterszenen ab, die Erzählung ist temporeich, dicht und gefühlvoll. Ab und an haben mir die Protagonisten ein Quäntchen zu viel Glück oder scheinen regelrechte Zauberkräfte zu entwickeln, aber sei´s drum ... Etwas mehr hat mich gestört, dass der Plot zum Ende hin zunehmend in Richtung Fantasy geht, das ist einfach nicht mein Genre.

Dennoch gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für alle Liebhaber guter Mittelalterromane, die überdies Interesse an Rhetorik haben. Besonders gefallen hat mir das persönliche Nachwort des Autors, in dem er nicht nur erklärt, wie Sprache anhand von Agitation und Propaganda missbraucht wird, sondern auch dazu aufruft, sich durch rhetorische Kenntnisse genau davor zu schützen.

Bewertung vom 17.01.2022
Sehnsucht nach Shanghai
Lingyuan, Luo

Sehnsucht nach Shanghai


ausgezeichnet

Journalistin, Weltreisende, Abenteurerin, Autorin und erste Bergbauingenieurin der USA - das 92 Jahre währende Leben der 1905 geborenen Emily Hahn war Vieles, nur mit Sicherheit nicht langweilig.

Reichlich Stoff für einen Roman also, und natürlich gibt es nicht nur Hahns eigene Bücher zu entdecken (mehr als 50 an der Zahl), sondern auch zahlreiche Veröffentlichungen über diese großartige Schriftstellerin. Und dennoch möchte ich "Sehnsucht nach Shanghai" aus dieser Fülle hervorheben und besonders empfehlen. Ich kann dazu etliche Gründe anführen, nenne hier aber nur die beiden wichtigsten:

Autorin Luo Lingyuan hat sich in ihrem biografischen Roman auf die sieben Jahre beschränkt, die Emily Hahn in China, und davon vor allem in Shanghai, verbracht hat. Und doch ist die Geschichte extrem dicht, die Ereignisse folgen so schnell aufeinander, dass einen beim Lesen schier schwindelt und man sich fragt, wie die junge Emily nach all den erlebten Schicksalsschlägen immer weiter machen, sich immer neu erfinden konnte. Besonders erwähnen möchte ich, dass Lingyuan ausschließlich historisch belegte Personen auftreten lässt. Die oftmals überstrapazierte "dichterische Freiheit" fehlt - diese Autorin hat sie schlichtweg nicht nötig, Emilys Leben ist spannend genug, Lingyuan muss nichts dazu erfinden, um eine fesselnde Lektüre zu schreiben.

Was allerdings nötig ist, ist umfangreiche Recherche und akribische Auswertung der im Überfluss vorhandenen Originaldokumente. Und hier hat Lingyuan Großartiges geleistet. Sie nutzte ihre familiären Kontakte in die alte Heimat und konnte so nicht nur auf englische und deutsche, sondern auch auf chinesische Originalveröffentlichungen zurückgreifen, sozusagen Informationen "aus erster Hand" nutzen.

Herausgekommen ist ein faszinierendes Porträt einer unkonventionellen jungen Frau, die sich durch nichts und niemanden aufhalten ließ. Es ist ebenso die Geschichte einer großen Liebe und deren plötzlichem Ende. Und fast im Vorbeigehen gewinnt man kurze, aber intensive Einblicke in die chinesische Upper Class, das Schicksal der in Shanghai gestrandeten Juden, die vor den deutschen Nazis geflohen waren sowie den zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg. Ein klein wenig zu kurz kommt für meinen Geschmack die Beziehung zwischen Emily und der Ehefrau ihres chinesischem Geliebten Zau Sinmay, die wohl mehr als ambivalent war und zwischen Freundschaft und Eifersuchtsdramen changierte.

Aber das wäre vermutlich Stoff für einen weiteren spannenden Roman ...

Bewertung vom 07.01.2022
Die Eleganz der Katze
Pickeral, Tamsin

Die Eleganz der Katze


sehr gut

Dieser brillante Bildband beeindruckt zuallererst durch seine hochwertige Aufmachung. Großformatig und mit überdurchschnittlich stabilem Einband versehen liegt das Hardcover schwer in der Hand und man wünscht sich schon für ein erstes Durchblättern eine stabile Unterlage.

Auf Anhieb war ich von den hervorragenden Fotos begeistert. Die meisten Aufnahmen sind farbig, einige wenige schwarz-weiß, allen gemeinsam ist eine ganz besondere Ästhetik mit künstlerischem Anspruch. Dabei zeigt Tierfotografin Astrid Harrisson eine große Bandbreite ihres Könnens. Die portraitierten Katzen sind in der Natur und in Wohnräumen festgehalten, man kann sie in ihrer ganzen Pracht und anhand von ungewöhnlichen Detailaufnahmen bewundern. Und nicht zuletzt bestechen viele Fotos durch eine ungewöhnliche Perspektive.

Bedauerlicherweise erreicht der begleitende Text von Kunsthistorikerin und Tierbuchautorin Tamsin Pickeral nicht ganz die Klasse der Fotografien.

Es werden 55 Katzenrassen vorgestellt, darunter bekannte wie die Siam, Perser oder Maine Coon, aber auch unübliche wie die Pixiebob oder die schottische Faltohrkatze. Eingeteilt sind die Rassen in fünf Kapitel nach dem Zeitpunkt der Entstehung, vom Altertum bis in die Neuzeit. Die Einleitung zu den verschiedenen Epochen ist noch gleichermaßen informativ wie kurzweilig. So erfährt man etwa, dass der Kult um die altägyptische Göttin Bastet, die mit einem Katzenkopf dargestellt wurde, einerseits zu immenser Verehrung der Samtpfoten führte, andererseits auch aus heutiger Sicht grausame Auswüchse hervorbrachte: So wurden eigens Katzen in großer Zahl gezüchtet, nur um getötet und mumifiziert als Grabbeigaben zu dienen. Interessant sind auch Legenden, Mythen und Aberglaube rund um die Stubentiger sowie kurze Beschreibung, wann und wo sie nicht nur als Haus- sondern auch als Gebrauchstiere dienten.

Die einzelnen Rasseporträts schließlich konnten mich leider nicht gänzlich überzeugen. Zu Beginn gibt es einen kurzen und guten Überblick über Erscheinungsbild, Größe, Fell und Wesen der jeweiligen Rasse. Im folgenden ausführlichen Text legt Pickeral allerdings den Schwerpunkt für meinen Geschmack zu sehr auf die Zucht. Welche Rasse wann, wo und von wem zuerst gezüchtet wurde oder wie viele Katzenbabies im ersten Wurf mit dem und dem Merkmal auftraten hat mich mit der Zeit etwas gelangweilt. Auch das Wissen, welche Rasse wann von welchem Zuchtverband anerkannt wurde oder welche Katze aus welcher Ausstellung als Champion hervorging dürfte wohl in erster Linie Züchter und weniger den normalen Katzenliebhaber interessieren. Etwas irritiert hat mich auch die Übersetzung: Es ist fast ausschließlich von "Kitten" die Rede, wenn es um Katzennachwuchs geht. Zwar ist dieser englische Ausdruck wohl den meisten Lesern auch hierzulande verständlich, jedoch hat sich der Begriff im deutschsprachigen Raum bislang vor allem unter Katzenzüchtern durchgesetzt. Im allgemeinen Sprachgebrauch herrschen nach wie vor die Worte Katzenbaby, Kätzchen oder Katzenjunges vor.

Etwas anstrengend wird die Lektüre aufgrund der sehr kleinen Schrift.

Fazit: Ein wunderschön illustrierter Bildband mit äußerst gelungenen Fotos mit künstlerischer Note. Als Coffee Table Book für Katzenfans großartig, im Text etwas zu viel Augenmerk auf die Zucht.

Bewertung vom 27.12.2021
Selber machen statt kaufen - Geschenke

Selber machen statt kaufen - Geschenke


ausgezeichnet

Früher war Selbstgemachtes in den Augen vieler kein "richtiges" Geschenk, außer vielleicht es war von Kinderhänden fabriziert worden. Schön, dass sich das langsam aber sicher ändert: Nachhaltigkeit und weniger Konsum haben Einzug in den Zeitgeist gefunden, und der Wert eines Geschenks wird nicht mehr vor allem danach bemessen, was es gekostet hat.

Das vorliegende schmale Taschenbuch ist ein wahres Füllhorn an Ideen für individuelle, selbstgemachte Geschenke, denen ein eigener Wert inne wohnt. Nicht obwohl, sondern gerade weil man sie nicht kaufen kann. Die mehr als 100 Anleitungen sind äußerst vielfältig: selbst gezogene exotische Zimmerpflanzen, hausgemachte Salben oder Badezusätze, ein Memory-Spiel mit persönlichen Fotos oder das Kuschelkissen aus einem alten Lieblingsshirt - es gibt Nützliches, Leckeres und einfach nur Schönes zu kreieren.

Die Anleitungen sind gut verständlich und oft Schritt für Schritt durch anschauliche Fotos illustriert. Leider fehlen Angaben zu Herstellungszeit und Schwierigkeitsgrad, das dürfte für Do-it-yourself-Anfänger nicht immer einfach abzuschätzen sein. Sehr gut gefallen hat mir die Einleitung, die auch dazu anregt, gemeinsame Zeit für ein Erlebnis zu verschenken. Auch sind Tipps für Patenschaften oder Spenden im Namen des Beschenkten eine schöne Idee. Ein weiteres Highlight für mich ist das letzte Kapitel, das sich mit den Möglichkeiten der nachhaltigen und zugleich sehr persönlichen Geschenkverpackung befasst.

Der Herausgeber smarticular Verlag betreibt auch das Ideenportal smarticular.net, das sich verschiedensten Aspekten der Nachhaltigkeit widmet. Und so gibt es zu jeder im Buch enthaltenen Anleitung auch einen weiterführenden Link.

Ich habe in diesem hübsch gestalteten kleinen Büchlein überraschend viele tolle Geschenkideen gefunden, und alles, was ich bislang ausprobiert habe, war problemlos nachzumachen. Es war doppelte Freude, einmal beim Herstellen und dann noch beim Verschenken, sehr zu empfehlen!

Bewertung vom 23.12.2021
Der Himmel über Bay City
Mavrikakis, Catherine

Der Himmel über Bay City


sehr gut

Catherine Mavrikakis, US-amerikanische Literaturdozentin mit französisch-griechischen Wurzeln, gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Kanadas. Zu Recht: Ich kann mich nicht erinnern, je etwas mit diesem Werk Vergleichbares gelesen zu haben.

Der Roman ist extrem verstörend, die Direktheit der Sprache brutal. Gedankenfetzen ziehen wie ein Tornado durch die Geschichte und haben mich regelrecht weggefegt. Das Szenario ist düster und deprimierend: Protagonistin Amy wächst, mit Mutter und Bruder, bei der Familie ihrer Tante in einer Blechhaussiedlung am Rande von Bay City auf. Gewalt, ja sogar Mord gehören unter dem rauchgeschwängerten Himmel der Industriestadt für die Jugendlichen ebenso zum Alltag wie Drogen und Sexualität. Und als wäre das nicht schon genug, muss Amy auch noch damit klar kommen, dass ihre Mutter sie für debil hält und wünschte, sie wäre (wie Amys ältere Schwester) gleich nach der Geburt gestorben.

Anfangs erinnerte mich die durchweg bedrückenden und pessimistische Stimmung an "Clockwork Orange" und "Trainspotting". Doch dann taucht im Roman neben Gewalt und Drogenkonsum ein völlig anderer Aspekt auf, eigentlich das zentrale Thema, nämlich vererbte Traumata. Inzwischen gilt es durch Experimente als erwiesen, dass Verhaltensauffälligkeiten durch traumatische Erlebnisse nicht nur bei den Betroffenen selbst vorkommen, sondern an nachfolgende Generationen weitergegeben, ja sogar vererbt werden können. 2008, als der Roman im Original erschien, war die Vererbung von Traumata jedoch nicht mehr als eine - noch dazu umstrittene - Theorie. Die Autorin hat also Mut bewiesen, ihre Protagonistin unter einem ererbten Trauma leiden zu lassen.

Ein wenig überstrapaziert wurden für meinen Geschmack leider die sprachlichen Bilder, die den Himmel in seinen verschiedensten Ausprägungen schildern, hier wäre weniger mehr gewesen. Ganz im Gegensatz zur Rolle der nordamerikanischen First Nations. Auch diese haben ja leider im Zug der Besiedlung durch die Europäer zahlreiche Traumata erlitten, hier hätte man geschickt Parallelen aufzeigen können. Doch leider bleiben die wenigen Natives in Mavrikakis Erzählung blasse Figuren im Hintergrund.

Dennoch: Der Roman bietet eine ungewöhnliche Sicht auf den Holocaust, er ist ein gellender Schrei über das unfassbare, unmenschliche und noch immer andauernde Leid, das die Nazis verursacht haben. Mavrikakis lässt diesen Schrei nicht verstummen, und das ist gut und wichtig.

Bewertung vom 22.12.2021
Gold und Ehre
Weiß, Sabine

Gold und Ehre


sehr gut

Wie bereits in ihrem Historienroman "Krone der Welt" führt Sabine Weiß ihre Leserschaft auch in diesem Werk wieder in die Welt der Seefahrer, Händler und Architekten. Die vorliegende Geschichte spielt Mitte des 17. Jahrhunderts, und anders als im Vorgängerband liegt der Fokus diesmal nicht allein auf dem Schicksal der Bewohner Amsterdams, sondern als zusätzlicher Hauptschauplatz kommt das historische Hamburg ins Spiel. Wobei - der Begriff "Vorgängerband" sollte nicht falsch verstanden werden: Zwar tauchen einige Figuren aus "Krone der Welt" wieder auf, doch nur am Rande. Schließlich spielt die neue Geschichte zwei Generationen weiter. Und so habe ich "Gold und Ehre" auch als völlig eigenständigen Roman empfunden, und nicht etwa als Fortsetzung.

Die Story weist zahlreiche Handlungsstränge und eine Vielzahl an Personen auf, und ehrlich gesagt fiel es mir trotz des Personenregisters nicht immer leicht, den Durchblick zu behalten. Vor allem die politischen Schachzüge und Intrigen waren nicht immer gut zu verstehen, und bei den englisch-niederländischen Seekriegen hat mein geschichtliches Vorwissen leider nicht ausgereicht. Hier wäre eine Zeittafel mit wichtigen historischen Ereignissen sehr hilfreich gewesen.

Großartig finde ich hingegen die Figuren an sich. Die Autorin zeichnet nicht schwarz-weiß, sondern ihre Charaktere zeigen viele Facetten und entwickeln sich. Niemand ist nur gut oder böse, ausschließlich sympathisch oder durch und durch ein Ekel, eben so, wie im wahren Leben auch. Die Erzählung ist gespickt mit zahlreichen (akribisch recherchierten) historischen Ereignissen, etwa dem verheerenden Brand in London 1666 oder dem Amboyna-Massaker im heutigen Indonesien. Sabine Weiß zeigt zudem schonungslos die brutale Behandlung der "lebenden Ware"(!) auf einem Sklavenschiff auf. Besonders interessant fand ich die damalige Stellung der erwachsenen europäischen Frauen, ihre nahezu absolute Abhängigkeit vom Vater, Ehemann oder Vormund. Auch die Anfänge der niederländischen Siedlung Nieuw Amsterdam an der nordamerikanischen Ostküste, das spätere New York, sind unterhaltsam und sehr anschaulich beschrieben. Schön ist auch die historische Karte Hamburgs in der Umschlaginnenseite.

Ein gelungener Roman, in dem man mit den Figuren mitfiebert und -leidet, und sich auch von vielen verabschieden muss, denn der Tod war allgegenwärtig. Ich habe spannende und lehrreiche Lesestunden verbracht.

Bewertung vom 20.12.2021
Wer kennt diese Frau?
Eick, Nicole

Wer kennt diese Frau?


ausgezeichnet

Auf das ungleiche oberfränkische Ermittlerduo Alfred und Dominique war ich durch eine unterhaltsame Kurzgeschichte aufmerksam geworden, die quasi eine Vorgeschichte zum vorliegenden ersten Roman mit den beiden darstellt. Neugierig und mit durchaus großen Erwartungen machte ich mich also an die Lektüre - und wurde keineswegs enttäuscht, im Gegenteil.

Nicole Eick hat hier ein literarisches Sahneschnittchen für Liebhaber guter deutscher Regionalkrimis fabriziert. Und nicht nur für diese, denn "Wer kennt diese Frau?" ist weit mehr als ein gelungener Kriminalroman.

Dies liegt nicht nur an den bis in die kleinsten Nebenfiguren äußerst glaubhaften Charakteren, dem spannenden Plot mit zahlreichen überraschenden Wendungen sowie ab und an einer Prise Lokalkolorit. Nein, das alles ist letztendlich schriftstellerisches Handwerk, das Eick zwar aus dem Effeff beherrscht, doch das tun zahlreiche andere Autor*innen ebenso. Was diesen Kriminalroman vor allem auszeichnet, ist, dass sich Eick damit an ein großes gesellschaftliches Tabu wagt. Sie thematisiert etwas, das jahrzehntelang extrem schambehaftet war, und auch heute noch stoßen Betroffene oft auf Unwissen und Ausgrenzung statt Verständnis und Akzeptanz zu erfahren. Ob ein Krimi dies zu ändern vermag? Ich weiß es nicht, aber einen Versuch ist es allemal wert.

Die Autorin hat keinerlei Berührungsängste, ihre Sprache ist direkt und unverkrampft, und dennoch beweist sie großes Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl. Ihr gelingt ein tiefer Blick ins Innere einer traumatisierten Person, ohne dabei voyeuristisch zu werden.

Auch die Gestaltung der stabilen Klappenbroschur gefällt mir: kleine Vignetten, die den Protagonisten zugeordnet sind, leiten jeweils einen Perspektivwechsel ein und geben so gute Orientierung, passende Fotos und Zitate in den Umschlaginnenseiten machen neugierig, und auch eine knappe Autorinnenbiografie fehlt nicht.

Definitiv mein Krimihighlight des Jahres - bitte, bitte mehr davon!

Bewertung vom 06.12.2021
Sein Name war Annabel
Winter, Kathleen

Sein Name war Annabel


gut

Journalistin und Schriftstellerin Kathleen Winter nimmt uns in dieser mehr als außergewöhnlichen Geschichte mit in ihre kanadische Heimat. In einem kleinen Dorf in der Provinz Neufundland und Labrador wird Ende der 1960er Jahre ein Baby geboren, das sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale aufweist, also ein sogenannter "echter Hermaphrodit" ist.

Was macht es wohl mit den Eltern, wenn es auf die Frage "Ist es ein Junge oder ein Mädchen?" keine einfache Antwort gibt? Winter schildert dies durchaus einfühlsam, die Reaktionen der Eltern sind völlig unterschiedlich, gemein ist ihnen vor allem die gegenseitige Sprachlosigkeit und der Wille, die Intersexualität ihres Kindes als Geheimnis zu bewahren. Auch Nebenfiguren, etwa die Hebamme und spätere Lehrerin des Kindes oder eine Schulfreundin sind gut herausgearbeitet und entwickeln sich im Lauf des Plots. Zudem hat mir der Text einen interessanten Einblick in Land- und Ortschaften des nordöstlichen Kanada gewährt; man merkt, dass die Autorin dort aufgewachsen ist.

Leider kommen den First Nations lediglich Statistenrollen zu, Natives werden im Roman nur kurz erwähnt. Selbst über den Vater des Protagonisten erfährt man diesbezüglich kaum etwas, obwohl er zur Hälfte Inuit ist. Dabei hätte gerade der kulturelle Umgang der Inidigenen mit Intersexualität spannende Aspekte geboten, kennen doch viele von ihnen ein drittes Geschlecht als sogenannte "Two-Spirits". Doch davon erfährt man in der Geschichte nichts. Zudem ärgert es mich sehr, dass Winter - ACHTUNG SPOILER - den jungen Hermaphroditen auch noch durch Eigenbesamung und zunächst völlig unbemerkt schwanger werden lässt. Dies ist anatomisch-physiologisch unmöglich! Wieso also dieser Twist? Hat Winter schlichtweg schlecht recherchiert, oder wollte sie zusätzlich dramatisieren? Ersteres ist eigentlich unverzeihlich, Letzteres ist völlig überflüssig, der Plot bietet auch sonst reichlich Stoff für Konflikte.

Nur leider merkt man das ausgerechnet der Hauptfigur über weite Strecken kaum an. Weder hinterfragt Wayne (das Kind wächst nach außen hin als Junge auf) seine medizinische Behandlung, noch scheint ihn die Pubertät großartig aus der Bahn zu werfen. Selbst als er als junger Erwachsener überfallen, misshandelt und vergewaltigt wird, erfährt man von seinen darauffolgenden Suizidgedanken nur in einem Nebensatz. Ansonsten bleiben seine Sorgen und Ängste seltsam verborgen, sie blitzen nur ab und an durch, und einzig sein Gefühl von Einsamkeit wird sehr deutlich. Wo bleiben die unzähligen Fragen, die er haben muss, wo ist der Schock?

Auch beschreibt Winter immer wieder Widersprüchliches oder zumindest sehr, sehr Unwahrscheinliches. Das geht leider zu Lasten der Glaubwürdigkeit.

Fazit: Ein sehr interessantes, wichtiges Thema, dem die Autorin mit Falschinformationen und einer blassen Hauptfigur leider einen Bärendienst erweist.