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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Weil ich Layken liebe / Will und Layken Bd.1
Hoover, Colleen

Weil ich Layken liebe / Will und Layken Bd.1


sehr gut

Der Staat Michigan zeigte sich den neuen Einwohnern von seiner typischen Seite - mitten im September schneite es. Die Icherzählerin Layken (Lake), ihre Mutter und ihr kleiner Bruder ziehen nach dem Tod des Vaters nach Ypsilanti/Michigan. So ungerührt, wie Layken den Möbeltransporter in die Einfahrt des neuen Hauses rangiert, glaubt man kaum, dass sie gerade erst 18 geworden ist. Im Haus gegenüber wohnt Will, der auf magische Weise immer gerade auftaucht, wenn seinen neuen Nachbarn Hilfe guttut. Layken und Will verlieben sich auf den ersten Blick ineinander. Doch diese Liebe darf es nicht geben, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Will ist ein begeisterter Poetry-Slammer, der mit ebenso großer Begeisterung andere für den öffentlichen Auftritt begeistern kann. Der Club, in dem die Slammer sich regelmäßig treffen, wird für Layken der Ort sein, an dem sie ihrer Trauer und ihrer Wut über die verbotene Liebe Ausdruck verleihen wird, in einem Ausmaß, das sie zu Beginn der Geschichte zum Glück noch nicht ahnen kann. Layken darf aus der Rolle der vernünftigen und beherrschten älteren Schwester ausbrechen und als ganz normale Jugendliche ihrem Schicksal grollen.

Einer unvergesslichen Hauptfigur mit ungewöhnlich trockenem Humor stellt Hoover in der Person von Eddie eine zupackende, bedingungslos liebende Freundin an die Seite, genau was Layken in ihrer Situation braucht. In den Nebenrollen rühren Laykens und Wills jüngere Brüder, deren Freundschaft ebenfalls Liebe auf den ersten Blick ist, wenn man im Zusammenhang mit kleinen Jungs überhaupt das L-Wort benutzen darf. Unter dem ausdrucksstärkeren Originaltitel "Slammed" hat Colleen Hoover noch als Independent Autorin eine berührende Liebesgeschichte verfasst, in deren Mittelpunkt der Tod und das Leben nach dem Abschied von geliebten Menschen stehen. Durch das Slammen erhalten Hoovers Figuren eine zusätzliche, sehr persönliche Ausdrucksmöglichkeit, die das Buch heraushebt. Auch ohne die Ballung von Schicksalsschlägen, die die Autorin auf ihre Protagonisten hereinbrechen lässt, würde die Geschichte ihre Leser begeistern, an Glaubwürdigkeit würde sie gestrafft sogar gewinnen.

Bewertung vom 04.01.2017
Krieg
Rausch, Jochen

Krieg


sehr gut

Arnold hat sein Leben als Lehrer hinter sich gelassen und lebt in einer einsamen Berghütte. Hütte, Grundstück und komplett ausgestatteten Haushalt hat er von den Vorbesitzern gekauft. Obwohl er mitten in einem Urlaubsgebiet lebt, hat der Mann dafür gesorgt, dass Besucher nicht mit dem Auto bis an seine Hütte heranfahren können. Arnolds Verbindungen zur Welt sind nicht vollständig gekappt, er hebt regelmäßig Geld ab und kauft im nächsten Ort ein. In einem anderen Leben vor diesem hatte Arnold einen Beruf, eine Frau und einen Sohn, der in den Krieg gezogen war. Verschachtelte Rückblenden führen in dieses Leben, als Chris den Krieg anderer Leute gegen Männer mit Bärten führte und alle drei Familienmitglieder die Tage zählten bis zum Ende des Einsatzes.

Sowie Arnold unterwegs ist und sich von seiner Hütte entfernt, gerät er in Panik, dass etwas mit seinem Hund sein könnte. Außer Arnold gibt es einen anderen Bewohner der Wildnis, der bei Arnold einbricht, seine Einrichtung zerstört und den namenlosen Hund schwer verletzt. Arnold bewaffnet sich und nimmt die Spur seines anonymen Gegners auf. Der gesichtslos bleibende Eindringling kann nicht ahnen, dass Arnold alles verloren hat und darum bereit ist, alles zu opfern, um seinen unsichtbaren Feind zu töten.

Die Geschichte des deutschen Lehrers Arnold Steins spielt in den österreichischen Bergen. Sie erinnert stark an Donovans "Winter in Maine", reicht an Donovans atmosphärische Schilderungen jedoch nicht heran. Rausch arrangiert sein verstörendes, schnörkellos erzähltes Psychogramm eines Einsiedlers um die Folgen des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan auf deren Angehörige. Arnold hat seinen Schülern immer empfohlen, einen Schritt zurückzutreten, um die Dinge im Ganzen zu sehen. Dieser Schritt zurück lässt den Roman nach dem Lesen noch lange nachwirken. "Krieg" hat mich gefesselt und beeindruckt. Lesern, die schwer ertragen, wenn einem Tier im Roman Gewalt angetan wird, rate ich von dem Buch ab.

Bewertung vom 04.01.2017
Wann hab ich eigentlich genug?
Geisler, Dagmar

Wann hab ich eigentlich genug?


ausgezeichnet

Der junge Mann auf dem Titelbild hat sich klar übernommen. Seine Spielzeugbox mit Inhalt ist größer als er, aus seinen Hosentaschen quellen Süßigkeiten hervor, für die er keine Hand mehr frei hat. In Dagmar Geislers Buch zur emotionalen Entwicklung und zur Suchtprävention geht es um das Habenwollen und um Grenzen des Konsums. Die unterschiedlichsten Kinder und ihre großen und kleinen Süchte sind hier versammelt. Lisa mag gern Weingummi - über Lisas Gesichtsausdruck beim lustvollen Zermatschen farbiger Gummitiere kann man nur verständnisvoll grinsen. Doch wie viel Naschen ist normal? Wird Lisa nach zwölf Gummibärchen schlecht oder nachdem sie eine ganze Tüte geleert hat? Lisas nach der Gummibärchen-Orgie gelb verfärbtes Gesicht erweckt eher Mitleid beim Betrachter. Emma dagegen merkt beim Tauchen genau, wann Schluss ist. Sie kann unter Wasser bleiben, bis sie bis 20 gezählt hat, selten bis 23. Tim sammelt Hasen in Fussballtrikots. Einen Hasen wird jedes Kind lieben und umsorgen. Na gut, auch eine Hasen-Mannschaft. Aber wo wird Tim schlafen und spielen, wenn er ständig neue Hasen bekommt? Lilly mag Glitzerkram. Lilly braucht dringend noch ein Schmuckstück - und noch eins ... Von Paul können wir lernen, dass andere Menschen und auch Tiere Grenzen setzen. Wie gut für Paul, dass die meisten Erwachsenen respektieren, wenn ein Kind nicht abgeküsst werden möchte ...

Zu viel Essen, zu viel Fernsehen, zu wenig Bewegung? Das Erfahren von Grenzen und die Freiheit vom Habenwollen sind im Kindergartenalter ein wichtiges Thema. Dagmar Geisler lässt die Augen ihrer Figuren angesichts begehrter Schätze lustvoll glänzen und zeigt drastisch die völlige Ermattung, wenn ein Kind zu viel in sich hinein gestopft hat. Wie in allen ihren Büchern zur emotionalen Entwicklung von Kindern in Kindergarten und Grundschule können sich die Betrachter Geislers humorvoller Zeichnungen auch hier wunderbar in ihre temperamentvollen Figuren einfühlen. Suchtprävention ist ein großes Wort. Lisa, Tim und die anderen Figuren kann man auch ohne pädagogischen Anspruch einfach mit Kindern betrachten, die dabei lernen sich in andere einzufühlen.

Bewertung vom 04.01.2017
Bienensterben
O'Donnell, Lisa

Bienensterben


ausgezeichnet

Marnie und Nelly haben ihren toten Vater im Garten vergraben und die Leiche ihrer Mutter versteckt. Damit das Jugendamt nicht auf die beiden allein lebenden Jugendlichen aufmerksam wird, müssen sie den Tod der Eltern verheimlichen und nach außen ein möglichst normales Leben inszenieren. Beide Mädchen waren schon einmal im Heim. Vor einer Wiederholung dieser Erfahrung will Marnie die jüngere Nelly dringend schützen. Marnie musste schon als kleines Mädchen die Hausarbeit erledigen und ihre jüngere Schwester betreuen. Da die Mädchen schon immer von den Eltern vernachlässigt wurden, wird es kaum auffallen, wenn die "Totalausfälle" von Eltern angeblich verreist sind. Izzy und Gene haben gesoffen, gekifft, das Haus vermüllt. Mindestens eine der Töchter wurde sexuell missbraucht. Vermutlich würde die Scheinwelt der Schwestern schon bald entdeckt, wenn nicht der Nachbar Lennie die Mädchen versorgen würde. Lennie ist alt und nach dem Tod seines Lebenspartners einsam. Er geht darin auf, für die Mädchen zu kochen und ihnen ein schönes Zuhause zu schaffen.

Die Zweckgemeinschaft mit Lennie kann nur so lange gutgehen, wie der Sozialhilfescheck regelmäßig kommt, Marnie und Nelly sich nicht verraten und niemand ernsthaft nach Gene und Izzy sucht. Marnie, für ihr Alter deprimierend erfahren in den Abgründen von psychischer Krankheit, Sucht und Drogenhandel, mimt die fürsorgliche ältere Schwester. Nelly nimmt im Team der beiden die Rolle des Sonderlings ein. Sie spielt Geige, sorgt sich um den Zustand der Welt und das Bienensterben und drückt sich so geschraubt aus, als hätte sie ein Wörterbuch verspeist. Falls diese Rollenverteilung aus dem Takt geraten sollte, wäre das Arrangement mit Lennie bedroht. Kurz nacheinander taucht zuerst Mick bei den Schwestern auf, der mit Gene Geschäfte gemacht hat, sowie ein Mann, der behauptet, der Großvater der Kinder zu sein. Marnie misstraut dem angeblichen Opa zutiefst; sie ist überzeugt, dass man ihn besser nicht mit Nelly allein lassen sollte. Die groteske Ausgangssituation mit zwei Leichen war offenbar noch nicht der Tiefpunkt im Leben der vernachlässigten Schwestern, sondern erst der Anfang vom Ende.

Lisa O'Donnell lässt Marnie, Nelly und Lennie jeweils aus ihrer Sicht die mehr als krassen Ereignisse beschreiben. Alle drei beschönigen dabei die Tatsachen und klammern sich an ihre Sicht der Dinge. Vernachlässigte Kinder können aufgrund ihrer Erfahrung die Welt nur durch die Brille von Kiffen, Saufen und Vernachlässigung beurteilen, muss der Leser ziemlich schnell einsehen. Bei den Figuren des Buches und auch beim Leser macht es mehrmals deutlich "Klick", wenn Schein und Realität sich voneinander trennen und wieder eine Hoffnung auf ein Happy End für die Mädchen den Bach runtergeht. Fiktion sind deprimierende Schicksale wie die von Marnie und Nelly leider keine. Die individuelle Sprache der unterschiedlichen Schwestern macht Bienensterben zu einem beeindruckenden Leseerlebnis.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Toten von Contrada Brunelli
Matino, Umberto

Die Toten von Contrada Brunelli


ausgezeichnet

Die beiden Frauen, die den toten Aldo Manfredini finden, heißen Brunelli, wie ihr Heimatort. Der Weiler auf einer von Bergen umstandenen Hochebene nördlich von Verona wird von wenigen alten Leuten bewohnt und hat weder Radio- noch Fernsehempfang. Im Winter steigt die Sonne wochenlang nicht über die Berggipfel. Hier oben braucht man noch Heilige, die vor Schlangen, Blitz und Hagel schützen. Und natürlich kann alles Böse nur von außerhalb des Dorfes kommen. So schräg, wie Umberto Matino seine Protagonisten schildert, traut man ihnen ohne jeden Zweifel zu, wegen einer zerstörten Tomatenpflanze ihren Nachbarn zu ermorden. Aldo hatte seinen Posten als Anästhesist in Padua aufgegeben und in Brunelli einen Steinhaufen "mit beiliegendem Gestrüpp" gekauft. Gefunden hatte er den geradezu altertümlich ruhigen Ort während einer Wanderung auf der Suche nach Mineralien. Aldo freundete sich mit Pietro an, der Aldos Interesse an Mineralien teilte und sich intensiv mit der lokalen Geschichte befasst hatte. Als Aussteiger an ein Grundstück in dem abgelegenen Nest zu kommen, erwies sich als harte Prüfung für Aldo. Selbst Dorfbewohner, die längst fortgezogen waren, hingen noch immer an ihren allmählich verfallenden Häusern und weigerten sich zu verkaufen. Aldo erfährt, dass in der Region früher Edelmetalle abgebaut wurden. Das hartnäckige Hängen an der Heimat, die einst von den Zimbern besiedelt war, könnte also handfeste finanzielle Motive haben.

Aldos Freund Carlo nimmt nach dessen Tod das Erbe seines Freundes an, putzt und ordnet dessen Haushalt, so wie Aldo es von Carlo erwartet hätte. Dabei findet Carlo ein umfangreiches Tagebuch, das Aldo innerhalb weniger Monate in Brunelli verfasst hat. Die Aufzeichnungen bestärken Carlo, nicht nur Aldos Todesursache, sondern auch das Geheimnis des Ortes Contrada Brunelli und der diversen Brunellis zu ergründen. Als es im Ort zu einem weiteren Todesfall kommt, stellt sich Carlo eine klassische Ermittleraufgabe. Was in dieser winzigen Gemeinschaft könnte die Todesfälle provoziert haben und wie konnte es ungesehen geschehen, wo doch Romilda Brunellis Blick aus ihrem Küchenfenster nichts entgeht? Zur Auswahl stehen ein Motiv aus Aldos persönlichem Umfeld oder Auseinandersetzungen um versteckt liegende Reichtümer.

Die erstickende Atmosphäre eines zur deutschen Sprachinsel zählenden Bergdorfs, dessen Bewohner schon mit einem Bein im Grab stehen, hat mich sofort für Umberto Matinos Krimi begeistert. Der italienische Autor lässt Aldo in seiner persönlichen Stimmlage durch seine Tagebuchaufzeichnungen sprechen. Die eingeschobenen Ereignisse des Jahrhundertwinters 1985 erzählt Matino in gemessenem Ton und lässt dazwischen auf jeder Seite den Schalk hervorblitzen. Obwohl Carlo als Fremder im Ort die Idealbesetzung ist, um genau dort genau seine Art der Ermittlung durchzuführen, tappte ich in Bezug auf das Motiv für die Ereignisse bis zuletzt im Dunkeln. Kriminalromane mit Setting an einem abgelegenen Ort mit nur wenigen beteiligten Personen mag ich sehr. Ein klassischer Krimi vor beeindruckend rauher Kulisse mit einigen Abschweifungen in die Geschichte der Region.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Verlobungen
Sullivan, J. Courtney

Die Verlobungen


gut

Obwohl mir "Sommer in Maine" nicht gefallen hat, habe ich mich von den Stichworten 'de Beers' (südafrikanisches Diamanten-Monopol) und 'alleinstehende berufstätige Frau im Jahr 1947' von Courtney Sullivans zweitem Gesellschaftsroman einfangen lassen. Fünf durch einen klassischen Diamant-Verlobungsring sehr lose miteinander verknüpfte Handlungsstränge spielen zwischen 1947 und der Gegenwart. Auf den Roman neugierig gemacht hat mich die Figur der Frances Gerety, Texterin des Werbeslogans "Diamonds are forever", die sich bewusst für ihre Karriere und gegen Heirat und Kinder entschied und damit Staub in der männlich geprägten Werbebranche aufwirbelte. Der Traum von verschwenderischen Märchenhochzeiten und kostspieligen Verlobungsringen steht bei Sullivan stellvertretend für Beziehungen, die in erster Linie gesellschaftlichen Konventionen genügen und die Träume der Eltern des Paares erfüllen sollen, anstatt das Hochzeitspaar selbst glücklich zu machen. Kate, die diese und andere Konventionen ablehnt und intensiv an ihrer Partnerbeziehung arbeitet, ahnt als einzige Figur, dass die Diamantenkäufe der amerikanischen Nachkriegsgeneration die Kassen des de Beers-Konzerns füllten und damit das südafrikanische Apartheidssystem stützten. Eine geplante Märchenhochzeit wird zwischen Kates Cousin Jeff und seinem Partner stattfinden. Kate muss während der Hochzeitsvorbereitungen zu ihrer großen Enttäuschung erkennen, dass sich trotz ihrer betont klischeefreien Erziehung in der folgenden Generation nichts geändert hat und kleine Mädchen noch immer mit Schmuck und schönen Kleidern zu beeindrucken sind. Evelyn und Gerald setzen überholte Konventionen fort, indem sie von ihrem Sohn erwarten, dass er seine Eltern durch Heirat und Familiengründung glücklich zu machen hätte. Der Handlungsstrang um Evelyn und Gerald spielt in den 70ern, als eine Scheidung oder Trennung - im geschilderten katholischen Umfeld - eine gesellschaftliche Katastrophe gewesen sein muss. Delphine aus Paris verliebt sich während des Verkaufs einer Stradivari in ihrem Geschäft in einen zwanzig Jahre jüngeren amerikanischen Musiker. James und Sheila, deren Lebensumstände von allen Paaren auf mich am realistischsten wirkten, kämpfen täglich ums Überleben, weil James mit einer 50-Stunden-Woche als Rettungssanitäter seine Familie kaum ernähren kann. Frances Geretys Schicksal (das mich am stärksten interessierte) bildet leider nur den Rahmen und wird nicht vertieft.

Während ich die erste Hälfte des Romans mit Spannung gelesen haben, in der Hoffnung, über Frances Alltag mehr zu erfahren, entfernten sich in der zweiten Hälfte die Handlungsstränge durch Exkurse nach Paris-Montmartre und in die Geschichte der Homosexuellen-Ehe weiter voneinander, ehe sie in einem charmanten Schluss endlich doch noch zusammengeführt wurden. Sullivans ausgeprägtes Dozieren zum Thema Homosexuellen-Rechte lässt vermuten, dass sie in den USA nicht so selbstverständlich sind, wie man erwarten sollte. Selbst im Bewusstsein, dass sich die Welt 40 Jahre nach Evelyn und Gerald zum Glück weitergedreht hat, vermisse ich bei Cortney Sullivans Protagonisten ähnlich wie in "Sommer in Maine" den Mut zu neuen Lebensentwürfen, wenn die gewohnten Rollenmodelle nicht mehr passen. Ob der Diamantring als Ausdruck gegenseitiger Verpflichtung die Handlungsstränge verbindet oder doch eine andere Symbolik, wird jeder unterschiedlich sehen.

"Die Verlobungen" empfehle ich Leserinnen, die sich für Beziehungen und Hochzeiten interessieren und die die Geduld für ein Buch aufbringen, das einen auch nach 300 Seiten noch im Unklaren darüber lässt, wohin die Handlung steuern wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Alles was ich bin
Funder, Anna

Alles was ich bin


sehr gut

Es ist das Leiden anderer, das uns zugrunde richtet ... (S. 343) wird Ruths Fazit am Ende ihres Lebenswegs sein. Die alte Dame, die nach einem Sturz schwer verletzt ins Krankenhaus von Sydney eingeliefert wird, hat ein bewegtes Leben hinter sich. Nach ihrer Entlassung aus fünfjähriger Haft wegen Landesverrats in Nazi-Deutschland musste sie sofort emigrieren. Kurz vor dem Unfall hat ihr Neurologe Ruth Wesemann mit der Diagnose beginnende Demenz konfrontiert. Sie selbst erlebt ihr Gedächtnis als besser als je zuvor. Mediziner würden Ruths lebendige Erinnerungen an Ereignisse vor 65 Jahren dagegen als Beleg für ihre nachlassende geistige Leistungsfähigkeit sehen. Ruths Erinnerungen werden mit fortschreitender Demenz oder mit ihrem Tod endgültig verloren sein. Teilen kann sie sie mit niemandem, zu fremd wirkt das Geschehen auf ihre australischen Bekannten. Im Krankenhaus besteht die Gefahr, dass Ruths Assoziationen als Beleg für eine Psychose gesehen werden. Ein Schatten im Türrahmen, ein klapperndes Schlüsselbund bringen Ruth in Gedanken zurück ins Berlin des Jahres 1933 und in die Zeit ihres Exils in London. Ruth lebte dort zusammen mit ihrem Mann Hans Wesemann (1895-1971) und ihrer älteren Cousine Dora Fabian, der Sekretärin Ernst Tollers (1893-1933). Im Londoner Exil werden bekannte Persönlichkeiten zu Niemanden aus der Provinz, denen man wie Kindern beibringt, wie sie sich in der fremden Kultur zu benehmen haben. Das Ehepaar Wesemann wird von Ruths wohlhabendem Vater finanziell unterstützt und gehört zu einer sozialistischen Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Zwar ist ihnen die Flucht aus Deutschland gelungen, damit sind sie jedoch noch lange nicht in Sicherheit vor ihren Verfolgern. Die Notgemeinschaft im Exil lässt Ruth einsehen, dass man selbst seinem Nächsten in unruhigen Zeiten besser nicht vertraut. Später wird sich herausstellen, dass Wesemann ein Gestapo-Spitzel war.

Die Sache, der Widerstand gegen die Nazis, sollte die Menschen zusammenschweissen und persönliche Gefühle dahinter zurückstehen, so sahen Ruths Gefährten im Exil die Zukunft ihrer Beziehungen. (S. 81) Anna Funder gibt uns Einblick in die Lebenswelt eines intellektuellen, bürgerlichen Milieus, das ein Hausmädchen als selbstverständlichen Lebensstandard beanspruchte - sogar in zwei winzigen Zimmern in London. In Ruths und Doras Freundeskreis diskutiert man über Arbeiterrechte, macht sich aber über die Lebensbedingungen des eigenen Hausmädchens keine Gedanken.

Anna Funders sorgfältig recherchierte Romanbiografie verknüpft mit einer in der Gegenwart spielenden Rahmenhandlung Ereignisse der Exiljahre in London und Ausschnitte aus Tollers Autobiografie. Ein Exemplar der Erstausgabe der Biografie Tollers weckt bei der betagten Ruth Erinnerungen an die Geschehnisse von 1933. Ruth Wesemann und Ernst Toller wechseln sich als Icherzähler ab. Das Leben der realen Ruth Blatt (1906-2001) spiegelt die Autorin in Dora Fabians tragischem Schicksal. Funder war mit Ruth Blatt bis zu deren Tod befreundet. Dora Fabian (1901-1935) rettete einen Koffer mit Tollers Autobiografie und seinen Tagebüchern aus dessen Wohnung. Die Nazis werteten ihre Tat als Vernichtung von Beweismitteln gegen Toller. Ruths leicht ironischer Erzählton hat mich als Leser direkt und sehr emotional angesprochen. Tollers Innensicht dagegen, des "aus einer anderen Welt angespülte Revolutionärs", konnte mich im Vergleich dazu weniger berühren.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Krokodil / Inspektor Lojacono Bd.1
De Giovanni, Maurizio

Das Krokodil / Inspektor Lojacono Bd.1


weniger gut

Pathetisch
Die Presse bezeichnet ihn als "das Krokodil", den Serienmörder, der in Neapel junge Menschen aus nächster Nähe erschießt und am Tatort benutzte Taschentücher zurücklässt. Der Täter tarnt sich offensichtlich mit seiner Durchschnittlichkeit; niemand hat ihn an den Tatorten beobachten können. Die Polizei tappt bei der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den jungen Opfern zunächst im Dunkeln; denn die Jugendlichen lebten in verschiedenen Stadtvierteln und unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Lojacono, der einzige Ermittler, dem zu dem sonderbaren Fall etwas einfällt und der selbst Vater einer Tochter im Teenageralter ist, muss seinen Arbeitstag mit dem Legen von Patiencen vertrödeln, kaltgestellt wegen eines nicht bewiesenen Dienstvergehens. Der gemeinsame Nenner der Taten ist ganz offensichtlich das Elternsein. Die junge Staatsanwältin Laura Piras untersucht, was den Mörder mit dieser Eigenschaft verbinden oder ihn davon unterscheiden könnte und befreit Lojacono aus seiner erzwungenen Untätigkeit. Maurizio de Giovanni lässt eine Vielzahl von Personen auftreten, von denen zunächst völlig unklar ist, welche Beziehung zwischen ihnen besteht. Durch die teils altertümlich verschnörkelte Sprache könnte man sogar auf die Idee kommen, dass die Figuren in verschiedenen Epochen gelebt haben. Eingeschoben zwischen die sehr kurzen Kapitel werden Briefe des Täters an eine geliebte Frau. Der Zusammenhang zwischen den Taten ist zwar schon frühzeitig zu ahnen, aber bis zur Auflösung des Falles müssen in Neapel bei den Ermittlungen erst einige Hindernisse überwunden werden.

Herausragende atmosphärische Schilderungen bietet der Krimi nicht, der Schauplatz im Einflussgebiet der Camorra wirkte auf mich beliebig austauschbar. Die Darstellung der Figuren fällt unterschiedlich aus, sehr sympathisch und glaubwürdig fand ich Laetizia, Inhaberin einer Trattoria, und die couragierte Staatsanwältin. Die das Handeln der Figuren steuernden Wertvorstellungen erinnern eher an die 50er und 60er Jahre als an die Zeit zwischen 1990 und 2010, in der die Handlung spielt. Selbst als Person mit großer Sympathie für kleine Kinder finde ich das süßliche Pathos schwer erträglich, mit dem hier ein 1958 geborener Mann über das Muttersein schreibt.

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