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Benutzername: 
hasirasi2
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Dresden

Bewertungen

Insgesamt 1115 Bewertungen
Bewertung vom 16.03.2023
Mr. Goebbels Jazz Band
Lienhard, Demian

Mr. Goebbels Jazz Band


gut

Charlie and His Orchestra

… sind 15 vollkommen unterschiedliche Künstler, deren einzigen Gemeinsamkeiten die Liebe zu ihrer Musik und ein perfekt geschnittener Smoking zu sein scheinen. Zu dieser Erkenntnis kommt der österreichische Schriftsteller Fritz Mahler, der 1941 von William Joyce alias Wilhelm Froehlich engagiert wird. Er soll einen Roman über Joseph Goebbels‘ gegen England gerichteten Propagandasender German Calling schreiben, dessen Zugpferd „Ein hauseigenes Orchester, sozusagen eine musikalische Schattenarmee … die in der Lage sei, die Briten Tag und Nacht mit dem allerfeinsten Propagandajazz zu bombardieren.“ (S. 18) ist.

Mahler wird dafür extra nach Berlin geholt. Doch je länger er dort lebt, sich durch die Nachtclubs treiben lässt, in dem Versuch, sich mit den Musikern anzufreunden, die ihn auf Abstand halten, weil sie ihn für Goebbels Spion halten, um so weniger weiß er, woran er seine Handlung festmachen soll. Ihm fehlt der rote Faden, die Leitfigur. Mehr aus einer Laune heraus rückt er Froehlich in den Mittelpunkt – und plötzlich schreibt sich das Buch fast von allein. Statt eines Romans über den Sender und die Jazzband, die aus Ausländern, Juden und Homosexuellen besteht, versucht er sich an Froehlichs wechselvoller Biographie, der als englischer Nazi nach Deutschland kam. Währenddessen tobt um ihn herum der Krieg, von dem Mahler außer ein paar Bombenangriffen nichts mitzubekommen scheint.

„Lange, verschnörkelte Sätze, altmodische Wörter, manierliche Wendungen …“ (S. 276) sagt Froehlich über Mahlers Roman, und genauso empfinde ich auch Demian Lienhards Schreibstil. Er kommt vom Hundertsten ins Tausendste, verliert sich in scheinbaren Nebensächlichkeiten, in Mahlers wirren Gedanken und Träumen. Alles ist irgendwie surreal, man weiß nie, ob es jetzt Dichtung oder Wahrheit ist und die Schlussbemerkungen inkl. Nachwort verwirren noch mehr. Darin erzählt Lienhard, dass er auf der Suche nach seiner Familiengeschichte in einem Archiv auf das Manuskript dieses Romans gestoßen ist und dieses jetzt veröffentlicht hätte.

Vielleicht verstehe ich das literarische Konzept einfach nicht, vielleicht bin ich auch mit falschen Erwartungen an das Buch gegangen. Ich hatte gehofft, etwas über die einzelnen Musiker und ihre Schicksale zu erfahren und was Joyce im Radio erzählt, um die Hörer zu beeinflussen, stattdessen geht es um Mahlers Ringen um Worte. Wichtige Fakten werden in Nebensätze eingestreut, die man wie Perlen suchen muss. So erzählt ihm einer der Musiker in einer lauen Stunde, dass das Orchester sie vor der Front rette. „Zu wenig Jude, um von der Wehrpflicht befreit zu sein, aber zu viel, um als Deutscher durchzugehen.“ (S. 191)

Auch wenn es nicht mein Buch war, lasst Euch davon bitte nicht abschrecken und bildet Euch eine eigene Meinung.

Bewertung vom 14.03.2023
Es war einmal in Brooklyn
Atlas, Syd

Es war einmal in Brooklyn


gut

Geschockt und sprachlos

… lässt mich „Es war einmal in Brooklyn“ zurück. Erwartet hatte ich eine traurig-schöne Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Blackout 1977 in New York, bekommen einen Coming-of-Age-Roman und die Geschichte zweier Familien – und (Spoiler!) eine Vergewaltigung. Für letztere hätte ich mir eine Triggerwarnung gewünscht, denn dann hätte ich das Buch nicht gelesen. Ich habe an der Stelle lange überlegt, ob ich es abbreche, zumal mich auch der Schreibstil nicht richtig packen konnte, habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Syd Atlas erzählt sehr weitschweifig, springt zwischen Juliette und David, ihren Familien, der Vergangenheit und Gegenwart hin und her, lässt sogar alternative Varianten der Handlung einfließen, die nicht passieren. Auch ist ihr Erzählton sehr roh, zum Teil brutal, und der Blackout kommt mir zu spät und zu kurz.

Ihre Figuren aber hat sie perfekt ausgearbeitet. Juliette ist die Außenseiter in ihrer Klasse. „Sie ist einfach zu groß, hat immer noch eine Zahnspange und liebt Latein.“ (S. 15) Ihre Großeltern zahlen für die teure Privatschule, ohne zu wissen, dass sie gemobbt wird. Die Ehe ihrer Eltern besteht seit Jahren nur noch auf dem Papier. Ihr Bruder ist nach London geflüchtet, um frei leben zu können. Zum Glück gibt es Davids Familie, ihre direkten Nachbarn, bei denen sie sich mehr zu Hause und geborgen fühlt als bei ihren Eltern. Allerdings wird David im Abschlussjahr todkrank. Er erträgt die Behandlungen und (Für-)Sorge seiner Eltern kaum, ist mehrfach kurz davor, seinem Leben ein Ende zu setzen. „Er kommt sich vor wie ein Käfer unter einer Lupe, kurz davor, von der Sonne verschmurgelt zu werden.“ (S. 26) Doch Juliette kommt, ohne es zu wissen, immer rechtzeitig.
Die beiden kennen sich seit frühester Kindheit. Für David war immer schon klar, dass sie später heiraten würden, wenn sie ihre Erfahrungen gemacht hätten. Aber für Juliette ist er nur ihr bester Freund, fast schon ein Bruder. Als sie mit dem smarten Pizzaboten Rico anbändelt, setzt David alles auf eine Karte.
Rico ist ein extrem unangenehmer Mensch, sehr berechnend, von sich überzeugt und kann sich gut auf andere einstellen. Er schafft es, dass Juliette glaubt, in ihn verliebt zu sein – weil er der erste ist, der nicht die Zahnspange, sondern die Frau in ihr sieht und ihr Komplimente macht. Bei seinen Auftritten hatte ich regelmäßig Gänsehaut.

Auch wenn es nicht mein Buch war, lasst Euch davon bitte nicht abschrecken und bildet Euch eine eigene Meinung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.03.2023
Schattenwalzer / Die Totenärztin Bd.4
Anour, René

Schattenwalzer / Die Totenärztin Bd.4


ausgezeichnet

Der Rosenkavalier

Als Fanny und ihr Kollege Franz zu einem Toten in die britische Botschaft gerufen werden, ärgert sie sich, dass sie die Warnung ihres Gegenspielers, des Grafen von Waidring, nicht ernst genommen hat. „Auf dem diplomatischen Parkett Wiens findet gerade ein seltsamer Tanz statt, dessen Muster ich noch nicht ganz verstehe. … Etwas geht vor sich, etwas sehr Gefährliches. Und es hat bereits ein erstes Opfer gegeben…“ (S. 15) Der britische Dolmetscher sieht friedlich aus, wie er da völlig nackt inmitten großer Rosensträuße auf seinem Schreibtisch liegt, trotz frischer Knutschflecke am Hals und diverser blaue Flecken am Körper, die aber nicht tödlich waren. Bei der Obduktion entdecken sie einen ersten Hinweis auf den Täter oder das Motiv, doch keine Todesursache. Erst als sich Fanny an von Waidrings Besuch erinnert, weiß sie, wonach sie suchen muss.

„Schattenwalzer“ ist (leider) das absolut grandiose Finale der Totenärztin-Reihe von René Anour und hat mich so gefesselt, dass ich es an nur einem Tag gelesen habe. Er hat ein paar echt fiese Wendungen eingebaut und es so aussehen lassen, als würden es einige meiner Lieblingsfiguren nicht überleben – wenn ich Fingernägel kauen würde, hätte ich jetzt keine mehr.

Neben der Suche nach dem Mörder und seinem Motiv plant Fanny ihre anstehende Hochzeit mit dem Polizisten Max. Sie träumt von einer kleinen intimen Zeremonie, während er es immer mehr aufbauscht und für seine Karriere nutzen will. Aus ihrer Vorfreude wird schnell Melancholie, sie hat das Gefühl, zur Statistin degradiert zu werden. „Manchmal habe ich das Gefühl, bei einer Hochzeit geht es nur darum, dass die Braut noch einen Tag im Mittelpunkt stehen darf, bevor sie in die Unsichtbarkeit des Ehelebens entlassen wird.“ (S. 25)

Ihre Freundin Tilde ist endlich glücklich verliebt, um so mehr fällt auf, dass mit Fannys Cousin Schlomo etwas nicht stimmt. Er wirkt zerstreut und bedrückt, denn sein neuer Partner überhäuft ihn zwar mit Geschenken, fordert dafür aber absolute Diskretion. Schlomo darf niemandem sagen, wer sein Liebhaber ist. „Für das wahre Glück… bin ich einfach nicht geschaffen. Es ist mir nicht gegeben.“ (S. 195)

Bei dem Versuch, den Mord an dem Dolmetscher aufzuklären und Schlomo zu helfen, bringen sich Fanny und Tilde wieder in sehr brenzlige, aber auch amüsante Situationen (ich sage nur „Hotel Orient“), bei denen deutlich wird, wie angstfrei und selbstlos sie sind, aber auch wie blauäugig und gutgläubig Tilde trotz allem, was sie schon erlebt hat, geblieben ist. „Sie leiden an einem pathologischen Mangel an Furcht. Das macht Sie so interessant.“ (S. 14) Und Fanny wagt einen völlig neuartigen medizinischen Eingriff, um eine geliebte Person zu retten.

René Anour hat sich mit diesem Finale inkl. filmreifen Showdown noch einmal selber übertroffen, obwohl mir die Verfilmung wahrscheinlich zu gruselig wäre. Ich bin sehr traurig, dass die Reihe jetzt zu Ende ist – hoffentlich arbeitet er schon an einem ähnlich spannenden Buchprojekt.

Bewertung vom 10.03.2023
Toskanische Sünden / Commissario Luca Bd.2
Riva, Paolo

Toskanische Sünden / Commissario Luca Bd.2


ausgezeichnet

Der Vollmond der Streitigkeiten

„Hier passieren seit gestern merkwürdige Dinge.“ (S. 106) Ganz Montegiardino scheint durchzudrehen, die Markthändler prügeln sich, zwei alte Damen streiten bis aufs Blut, ein Gast beleidigt Fabios Kaffee, ein nächtlicher Autounfall passiert auf leerer Straße und dann liegt ein Toter im Arno. Die Alten sind überzeugt, dass es an dem besonders nahen Vollmond liegt, der aller 10 Jahre kurz vor Ostern über dem Ort steht, und an der jungen Frau, die neu beim Winzer arbeitet und nicht nur den Männern von hier den Kopf verdreht. Doch Commissario Luca und Vice-Questora Aurora Mair verlassen sich lieber auf ihre Ermittlungen.

Dabei muss sich Luca mit seinen Gefühlen für Aurora, die ihn sehr offensiv anflirtet, und der Ärztin Chiara, für die sein Herz etwas mehr schlägt, auseinandersetzen. Aber auch alle anderen Junggesellinnen des Städtchens beobachten ihn mit Argusaugen und wollen sich den netten, bodenständigen Witwer mit seiner zauberhaften Tochter und den ungewöhnlichen Haustieren an Land ziehen.

„Toskanische Sünden“ ist der zweite Krimi von Paolo Riva mit dem „Commissario zum Verlieben“ und punktet mit sympathischen Protagonisten, viel Regionalität und Dolce Vita, aber auch die Spannung kommt nicht zu kurz. Luca und Aurora müssen tief in die Vergangenheit des Toten und der Bewohner eintauchen, um hinter die Motive des Mörders zu kommen und den Unfall aufzuklären, der damit in Verbindung zu stehen scheint.
Mir gefallen der flüssige Schreibstil und die überraschenden Wendungen, so wird es beim Lesen nie langweilig oder zäh und ich bin schon sehr gespannt auf den nächsten Fall, in dem es Luca nach Carrara führen wird.

Bewertung vom 06.03.2023
Der Tote auf der Treppe
Glenconner, Anne

Der Tote auf der Treppe


ausgezeichnet

Tragischer Unfall oder Mord?

„Es ist ein großes Haus, … und wir haben alle unsere Geheimnisse.“ (S. 386)
England 1950: Die junge Lady Anne Coke von Holkham Hall kann sich nicht vorstellen, warum ihr Großvater, der Earl of Leicester, die Treppe heruntergestürzt ist und sich das Genick gebrochen hat, schließlich war er noch nicht besonders alt und sehr rüstig. Und warum hatte er das berühmte Coke-Collier dabei, das seit Jahren nicht mehr aus dem Safe genommen wurde?
Die Dienerschaft ist überzeugt, dass der Hausgeist „Lady Mary“ hinter dem tragischen Unfall steckt, doch Anne stellt zusammen mit dem Maler und demokratischen Sozialisten Charles Elwood Ermittlungen an. Als sie die letzten Termine des Earl kontrollieren, fällt ihr ein Name ins Auge – Lavender Crane, Annes Gouvernante während des Krieges. „Allein der Name reichte aus, um Anne in tausend winzige Scherben zerbrechen zu lassen.“ (S. 43)

Die Tote auf der Treppe ist bereits der zweite Krimi aus der Feder von Anne Glenconner, der ehemaligen Hofdame von Prinzessin Margaret, und beruht wie schon „Lady Blake und das Grab im Meer“ zum Teil auf ihrer Biographie.

Lady Anne soll sich eigentlich auf ihren Debütantinnenball vorbereiten, als erst ihr Großvater und dann ein Jugendfreund tödlich verunglücken. Im Gegensatz zum Hauspersonal glaubt sie nicht, dass das Hausgespenst dahintersteckt, sondern sucht nach einem eventuellen Motiv und Täter. Dabei gerät auch ihre ehemalige Gouvernante ins Visier, an die sie sich nie erinnern wollte. „Nichts war ihr angetan worden. Überhaupt nichts. Sie hat eine kindische Gespensterjagd unternommen. Und eine grässliche Gouvernante gehabt. Nichts, worüber es sich zu reden lohnt. Nichts, woran man heute noch rühren sollte. Je weniger man darüber sprach, desto eher war es überwunden.“ (S. 150)

Anne und ihre Familie haben zwar immer noch ihren guten Namen und ihre Stellung in der Thronfolge, aber das Geld ist knapp, Essen wird rationiert und Kleidung getragen, bis sie auseinanderfällt. Ihre Mutter und ihre Schwester betreiben eine kleine Töpferei, deren Produkte Anne verkauft. Sie sind also ziemlich bodenständig, was sie immer wieder mit Charles Elwood diskutiert, der einen Umsturz der Gesellschaft fordert und sich wunderbare Wortgefechte mit ihr liefert.

Ich hatte Anne sofort ins Herz geschlossen. Sie ist intelligent, aufgeschlossen und neugierig, kümmert sich aber auch um die Belange der Angestellten – eine sehr warmherzige und umsichtige Persönlichkeit. Was sie allerdings mit Lavender Crane erleben musste, tat mir extrem leid. Besonders erschüttert hat mich, dass die Autorin dafür (leider) ihre eigene Vergangenheit bemühen konnte.

Charles Elwood spielt zwar nur eine Nebenrolle, die aber ziemlich gut. Anne zieht ihn ins Vertrauen, weil er in der Gegend der Einzige ist, der sie nicht schon seit der Kindheit kennt und ein Außenstehender ist. Allerdings macht er aus seinem Vorurteil gegen ihre Klasse und ihre Art zu leben keinen Hehl, auch wenn er bald einsieht, dass es auf Holkham Hall relativ gerecht zugeht. Er ist ruhiger und besonnener als Anne und bremst sie immer wieder, wenn sie übers Ziel hinausschießen oder sich selber in Gefahr bringen könnte.

Anne Glenconner schreibt sehr fesselnd und verbindet geschichtliche Hintergründe, reale Vorkommnisse und Fiktion. Bei Annes Jagd nach „Lady Mary“ kann man sich sogar ein bisschen gruseln. Ich fühlte mich wieder ausgezeichnet unterhalten, auch wenn ich den Täter etwas früher als Lady Anne ermittelt hatte, und hoffe auf weitere Bände.

Bewertung vom 02.03.2023
Die Bibliothek der Hoffnung
Thompson, Kate

Die Bibliothek der Hoffnung


ausgezeichnet

Lesen für den Sieg

Dass die Londoner U-Bahnstation Bethnal Green vor dem Krieg nicht fertiggestellt werden konnte, erweist sich 1944 als Glücksfall. Sie bietet auf 1200 m Länge 5000 Schlafplätze für Ausgebombte, eine Bühne für Theatervorstellungen und Konzerte, eine Kinderstube, ein Café, eine Sanitätsstation, einen Friseur und eine Bücherei. Die wird von der Kinder-Bibliothekarin Clara und ihrer Freundin und Assistentin Ruby betrieben. Sie haben 4000 Bücher im Bestand und leihen diese überwiegend an Kinder und Frauen aus. Außerdem betreiben sie einen Bücherbus, um die Fabrikarbeiterinnen wöchentlich mit neuem Lesestoff zu versorgen.

„Sie scheint eine besondere Gabe zu besitzen, für jeden Menschen genau das passende Buch auszuwählen.“ (S. 26) Clara ist erst 25 und schon Witwe, hat neben ihrem Mann auch ihr ungeborenes Kind verloren. Nur die Bibliothek bringt sie trotzt ihrer Trauer jeden Tag dazu, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Sie glaubt, dass ihr kein privates Glück mehr zusteht und kümmert sich vor allem um die Kinder. Zwei jüdische Schwestern von der Kanalinsel Jersey, die verzweifelt versuchen, Kontakt zu ihrem dort zurückgebliebenen Vater aufzunehmen und deren Mutter angeblich immer arbeitet, haben es ihr dabei besonders angetan.

„Sie war jederzeit lieber ein Flittchen als eine Hausfrau.“ (S. 174) Ruby ist das ganze Gegenteil. Sie liebt ihren roten Lippenstift und aufreizende Kleidung, ist jederzeit zu einem Flirt und noch viel mehr bereit. Sie lässt sich von keinem Mann sagen, was sie zu tun und zu lassen hat, auch nicht von ihrem Stiefvater, der ihre Mutter täglich misshandelt. Insgeheim stürzt sie sich auch wegen ihm in die diversen Affären, will der beklemmenden Situation zu Hause entkommen und vergessen. Und ihrer großen Schuld, über die sie nie spricht.

„… Sie sind nicht nur Bibliothekarin, sondern auch Sozialarbeiterinnen, Bürgerberaterinnen, Krankenschwestern, Unterhalterinnen, Zuhörerinnen, Lehrerinnen und Freundinnen.“ (S. 142)
So unterschiedlich die beiden Frauen auch sind, zusammen sind sie ein perfektes Team. Während um sie herum der Krieg tobt, immer wieder Bomben und Raketen fallen, versuchen sie die Moral der Bewohner in der Station hochzuhalten. Sie lesen den Kindern jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vor und richten einen Lesekreis ein, versorgen die Frauen auf Wunsch mit verbotener Literatur über Verhütung.
Aber sie haben auch Feinde. Der neue Vorsitzende des Bibliotheksausschusses ist weder mit ihrer Bücherauswahl einverstanden (zu viel Unterhaltungsliteratur), noch damit, dass die Bibliothek eine Zuflucht und Begegnungsstätte für so viele Menschen geworden ist. Und die Männer sind nicht begeistert, dass ihre Frauen sich durch die gelesenen Bücher immer mehr emanzipieren.

„Die Bibliothek“ der Hoffnung ist für mich ein Lesehighlight. Mit viel Gefühl schildert Kate Thompson die emotionalen Geschichten und Schicksale der Bibliothekarinnen und Bewohner von Bethnal Green. Sie erzählt von den „Kanalratten“, Kindern, die z.T. ihr ganzes bisheriges Leben auf der Station verbracht haben und sie wie ihre Westentasche kennen, aber nicht wissen, wie eine Welt ohne Krieg aussieht. Sie berichtet von Jungen, die besser Gärtnern als Lesen können, weil Essen wichtiger ist als Wissen, und sich immer wieder nach „oben“ wagen, um ihr Gemüsegärtchen inmitten der Trümmer zu pflegen. Und sie erzählt von den täglichen Verlusten, dem Schmerz und den Ängsten, die die Bewohner von Bethnal Green während der Angriffe ausstehen müssen, von ihren Fluchten in den Alkohol und von den neuen Lieben, die sich trotz des Irrsinns finden. Ein sehr bewegendes und wichtiges Buch im Kampf #gegendasvergessen. „Ein Leseausweis und ganz viel Liebe – das war alles, was wir brauchten.“ (S. 455)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.03.2023
Vegan One Pot
Fauda-Rôle, Sabrina

Vegan One Pot


sehr gut

Auch für Kochanfänger perfekt geeignet

„Nur kurz waschen und schnippeln, dann ab mit dem Gemüse, Hülsenfrüchten und Co. in Topf oder Bräter – den Rest erledigt der Herd!“ verspricht Sabrina Fauda-Rôle in „Vergan One Pot“, und ich muss zugeben, dass mir die Rezepte von allen bisher getesteten Kochbüchern die wenigste Arbeit gemacht haben. Das liegt nicht nur daran, dass man nur ein Kochgerät (Ich habe meistens eine Pfanne genommen.) braucht, sondern auch an der kurzen Vorbereitungszeit von max. 15 min, meist sogar nur 10. Danach köchelt das Gericht noch kurz vor sich hin und schon kann gegessen werden. Da es zu jedem Gericht ein Foto mit den Zutaten und eins mit dem fertigen Essen gibt, kann man vor dem Kochen noch mal vergleichen, ob man wirklich nichts vergessen hat – das ist gerade für Kochanfänger perfekt.

Die Rezepte sind in „Blitzschnelle Gerichte“, „Getreide“. „Hülsenfrüchte“, Eintöpfe“, „Nudeln“, „Aus der Pfanne“, „Suppen“ und „Desserts“ gegliedert, wobei ich die Porridge-Varianten eher zum Frühstück als zum Nachtisch essen würde.

Unser Highlight bei den ausprobierten Rezepten sind die Spaghetti mit Humus und Spinat, aber auch der Reis mit Mandeltofu und die Reisnudeln mit Zuckerschoten waren lecker und sättigend, wobei ich bei fast allen Gerichten noch Gewürze ergänzt habe. Lediglich das Tomatenrisotto hat uns irritiert – es war zwar sehr lecker, aber mehr Beilage als vollständiges Gericht, da die Eiweißkomponente fehlte. Gleiches gilt für den in Bier geschmorten Rotkohl und den Süßkartoffelstampf.

Mein Fazit: Perfekt für Kochanfänger und Camper, Studentenküchen oder andere winzigen Küchen mit nur 1 oder 2 Herdplatten, aber man sollte beim Nachkochen mutig sein und Gewürze ergänzen.

Bewertung vom 28.02.2023
Der Traum vom Leben
Fuchs, Katharina

Der Traum vom Leben


sehr gut

Über Nacht zum Star

… davon träumen viele junge Mädchen. Luise Jensen schafft das 1992. Vom Bauernhof in Ostfriesland auf die Laufstege in Paris in nicht mal einer Woche, dabei ist sie eigentlich als Frisörin engagiert ...

Luise ist 17, mit 1,86 m größer als die meisten Männer, extrem dünn, hat kaum weibliche Formen und Schuhgröße 43, wird kaum als Frau und potentielle Partnerin wahrgenommen. Ihr Tag beginnt um 5 Uhr mit dem Melken der Kühe, danach geht´s in den Salon, wo sie als Frisörin arbeitet. Sie ist glücklich in Ostfriesland, aber „Mutti, das reicht mir nicht. Ich muss weg von hier.“ (S. 41) Als sie einen Wettbewerb gewinnt, macht ihr der Starfrisör Udo Hammer das Angebot, seine Assistentin zu werden. „Ich nehme dich mit auf die Fashion Weeks der Welt. … London, Mailand, New York, Paris … Überlege nicht zu lange! Manche Gelegenheiten im Leben bekommt man nur einmal.“ (S. 91) Doch Luise ist zum ersten Mal verliebt. Erst als die Beziehung nach nur einem Sommer endet, erinnert sie sich an Udos Offerte. Sie begleitet ihn nach Paris zu den Prêt-à-porter-Shows, springt ein, als ein Model ausfällt und bekommt einen Vertrag bei der Modelagentur ELLE.

Ihre ungeplante Karriere als Supermodel ist nicht einfach. „Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin, ob ich wirklich hierhergehöre, ob ich diesen Druck aushalte.“ (S. 156) Sie spricht weder die Sprache, noch weiß sie, was bei Verträgen etc. üblich ist. Aber sie wagt es, stürzt sich in das Abenteuer und kann sich endlich mit ihrem Aussehen aussöhnen. „Noch nie zuvor war sie so eins gewesen mit ihrem Körper… Der Laufsteg war für sie zu einer Welt geworden, in der sie ihre Sehnsucht nach Freiheit ausleben und ihre eigene Identität finden konnte. Hier entdeckte sie plötzlich eine Seite an sich, die sie bisher noch nicht gekannt hat.“ (S 369)

Katharina Fuchs erzählt die Geschichte einer märchenhaften Karriere, die auf einer wahren Geschichte beruht, lässt den damaligen Zeitgeist wieder auferstehen und zeigt die goldenen und Schattenseiten der Mode-Welt.
Sie konzentriert sich auf die wenigen Monate vom Sommer 1992 bis Frühling 1993, länger braucht es nicht, bis Lou, wie sie sich jetzt nennt, zu den ganz Großen gehört. Aber sie ist nicht frei von Zweifeln, hat manchmal Angst vor ihrer eigenen Courage, begreift schnell, dass nur der schöne Schein zählt, sie außer Salat ohne Dressing und Pillen zu Champagner nichts essen darf. Dafür gehört sie zu den Topmodels und arbeitet für die angesagtesten Designer – aber will sie das wirklich?

Ich fand das Thema des Buches unheimlich spannend und auch das Setting und die Stimmung des Romans haben mich begeistert. Katharina Fuchs hat das Paris der 90er und die schillernde Modewelt sehr lebendig geschildert, viele große Namen und Modehäuser einfließen lassen. Auch Lous Begeisterung und Zweifel werden sehr anschaulich geschildert, ihre mentale Entwicklung ist nachvollziehbar. Es gab nur 2 kleine Stellen, mich etwas irritiert haben. Zum einen bekommt ihre Familie zu Hause ihren Aufstieg nicht mit und zum anderen stakst sie bei ihrem ersten Auftritt noch ungelenk über die Bühne, bewegt sich am nächsten Tag aber schon wie ein Profi – ganz ohne Training.

Bewertung vom 23.02.2023
Die schönsten Jahre unseres Lebens / Frauen, die die Welt schöner machen Bd.2
Engel, Kristina

Die schönsten Jahre unseres Lebens / Frauen, die die Welt schöner machen Bd.2


ausgezeichnet

Sport macht schön

Lüneburg 1968: Lili ist Anfang 20 und hat ihr Leben genau geplant. Wenn ihre Oma Margarethe Ende des Jahres zu ihrem Partner aufs Land zieht, übernimmt Lili den Frisörsalon und baut ihn zu einem Kosmetikstudio um. Außerdem bekommt sie Margarethes Wohnung, in die nach der hoffentlich bald stattfindenden Hochzeit auch ihr Freund John ziehen soll. Doch der überrascht sie damit, dass er endlich seinen Vater in San Francisco besuchen wird, den er als „Besatzerkind“ nie kennengelernt hat. Da sich John nach seinem Weggang wochenlang nicht bei ihr meldet, hat ihre Familie Mitleid und schickt sie hinterher. Obwohl die gemeinsamen Wochen in San Francisco schön sind und sie sich sehr lieben, kommt John nicht mit zurück nach Hause. „Hier ist das Leben, das ich mir immer erträumt habe.“ (S. 118) Stattdessen soll sie zu ihm zu ziehen. Aber ihr Herz schlägt für ihre Familie und ihre Heimat. Zurück in Deutschland erfährt sie, dass John als Soldat nach Vietnam geschickt wird – eine Zeit des Hoffens und Bangens beginnt, dann wird er vermisst …

Kristina Engel schreibt die Geschichte der Familie Jensen weiter. Nach Anne, der ersten Avon-Beraterin Deutschlands, geht es nun um ihre erwachsenen Zwillinge Lili und Leo.
Lili ist eine moderne junge Frau mit festen Vorstellungen von ihrer Zukunft, offen für Neues und immer auf der Suche nach dem nächsten Trend. Als sie in San Francisco mit Aerobic in Berührung kommt, sieht sie sofort das Potential, das in der Kombination aus Gymnastik und Tanz steckt und den Körper gleichmäßig formt, kräftigt und besser durchblutet – das könnte doch was für ihre Kundinnen sein. Zudem ist sie sehr familiär und hängt an ihrer kleinen Schwester Mia, die ein Contergankind ist und große Probleme mit der Lunge hat.
Lili leidet sehr unter Johns Weggang und seiner Vermisstenmeldung, verkriecht sich monatelang in sich selbst und hat das Gefühl, nur noch zu funktionieren. Sie merkt dadurch gar nicht, was für eine starke Persönlichkeit und wie innovativ sie ist, dass sie trotz Trauer neben ihrem Kosmetiksalon auch noch das erste Aerobic-Studio aufzieht.
Leo kommt mit der ganzen Situation ebenfalls nicht zurecht, denn John war sein bester Freund. Er flüchtet oft nach Hamburg, wo er neben Alkohol noch ganz andere Drogen konsumiert.

Mir gefällt, wie die Familie trotz aller Probleme zusammenhält. Obwohl sich ihr Leben oft um Mias schlechte Gesundheit dreht, passen sie doch alle aufeinander auf und sind füreinander da. Mein Highlight war dabei wieder Margarethe mit ihrer Schnodderschnauze, die so herrlich exzentrisch und unkonventionell ist und die Dinge gern in die Hand nimmt, ohne groß zu diskutieren.

Genau wie den Vorgängerroman „Ein Koffer voller Schönheit“ habe ich auch „Die schönsten Jahre unseres Lebens“ an nur einem Tag verschlungen. Kristina Engel bietet eine sehr unterhaltsame, fesselnde und informative Zeitreise in die 60er und 70er Jahre, in der sie auch auf die Besetzung der Tschechoslowakei und die damit verbundene Angst vor dem nächsten Weltkrieg, den Vietnamkrieg und die erste die Mondlandung eingeht.

Bewertung vom 21.02.2023
Die Begine und die Zauberin
Stolzenburg, Silvia

Die Begine und die Zauberin


sehr gut

Magie oder heimtückischer Mord?

Die ehemalige Begine Anna und ihr Mann Lazarus erwarten endlich ein Kind, doch die Angst, dass doch noch etwas schief geht, ist groß, denn in letzter Zeit sind einige Schwangere des Heilig-Geist-Spital gestorben. Außerdem erkranken immer mehr Insassen und Mönche an hohem Fieber und Durchfall. Ist das die Strafe Gottes dafür, dass Anna und Lazarus ihre Orden verlassen und geheiratet haben oder steckt die schwarzhaarige junge Frau dahinter, die neuerdings bei den Beginen lebt, im Spital ein uns aus geht und Amulette und Sprüche verteilt? Anna traut ihr nicht und hält sie für eine Betrügerin oder Zauberin.

Derweil ist Stadtpfeifer Gallus auf einem privaten Rachefeldzug. Er hat herausgefunden, dass die Bettelbande um den Schwarzen Utz in den Tod seiner Verlobten involviert war und will sie zur Strecke bringen. Da ihm die Stadtwache nicht glaubt, versucht er allein sie zu stellen und gerät in Lebensgefahr.

„Die Begine und die Zauberin“ ist bereits der 5. Band der Reihe und auch wenn man die Vorgänger nicht zwingend lesen muss, versteht man die Zusammenhänge dann doch besser. Ich finde es sehr interessant, wie Silvia Stolzenburg die Geschichten ihrer Protagonisten weiterschreibt und man deren Leben begleitet.

Anna und Lazarus könnten glücklich sein, doch eine Schwangerschaft war damals gefährlich, viele Frauen überlebten die Geburt nicht. Darum sorgt sich Lazarus sehr seine um Frau und das ungeborene Kind. Es passt ihm gar nicht, dass sie neben ihrer Arbeit im Spital die Hübschlerinnen im Frauenhaus medizinisch versorgt – wo plötzlich ebenfalls Frauen sterben. Als Anna dann auch noch beginnt, wegen der sich häufenden Todesfälle zu ermitteln, versucht er erfolglos, ihr das zu verbieten. Aber Anna kann einfach nicht anders, zumal ihr eine Gemeinsamkeit bei allen Toten aufgefallen ist.

Im Gegensatz zum Vorgängerband lässt Silvia Stolzenburg es hier etwas ruhiger angehen, es gibt keine dramatischen, atemlosen Verfolgungsjagden, die Spannung spielt sich eher in den Köpfen der Beteiligten ab. Lazarus sucht verzweifelt nach einer Ursache und Behandlungsmethode für die wütende Seuche, während Anna der Zauberin hinterherspioniert, um sie zu überführen. Allerdings gibt ihr zu denken, dass selbst ihre ehemalige Beginenmeisterin diese für ungefährlich hält und Anna Neid vorwirft, weil sie nicht mehr die einzige Kräuterkundige ist.
Trotzdem ist es wieder ein hervorragend recherchierter, mit spannenden Fakten und medizinischen Details gespickter historischer Roman, der gut unterhält und neugierig auf die Fortsetzung macht.