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Volker M.

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Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 02.03.2023
Abenteuer am Nil

Abenteuer am Nil


ausgezeichnet

Die Lepsius-Expedition nach Ägypten in den Jahren 1842-45 war eine der großen Pioniertaten der Ägyptologie und setzte neue Maßstäbe in der archäologischen Dokumentation. Mit bis dahin unerreichter Präzision wurden die antiken Baudenkmäler messtechnisch aufgenommen und zeichnerisch festgehalten. Lepsius drang mit seinem Team dabei bis weit nach Oberägypten und zum Blauen Nil vor. Die Ausrüstung, sowohl finanziell als auch technisch, war für die damalige Zeit überragend (auch wenn Lepsius immer wieder um Geld betteln musste) und es ist sicher kein Zufall, dass alle sechs Teilnehmer gesund und wohlbehalten in die Heimat zurückkehrten. Nur der Gipsformer Franke wurde wegen Fehlverhaltens frühzeitig zurückgeschickt.

Die Ergebnisse dieser Expedition beschäftigen die Forschung bis heute, da sie Zustände und Bausubstanz im Detail dokumentieren, die heute so nicht mehr erhalten sind. Bis in die jüngste Vergangenheit werden auch immer noch Entdeckungen in den Originaldokumenten gemacht, die nahezu vollständig überliefert sind. Die Tagebücher und Reisekorrespondenz der Teilnehmer Erbkam und Weidenbach werden bzw. wurden gerade erst publiziert.

Der Begleitkatalog zur aktuellen Ausstellung „Abenteuer am Nil“ im Ägyptischen Museum in Berlin ist die aus meiner Sicht bisher beste an Laien gerichtete Publikation zur Lepsius-Expedition überhaupt. Die anschaulich geschriebenen Beiträgen stellen alle relevanten Forschungsgebiete vor und auch die Reisebegleiter, die in der Vergangenheit immer im Schatten des übermächtigen Richard Lepsius standen, werden angemessen gewürdigt. Zur Illustration werden sowohl die vor Ort entstandenen Zeichnungen herangezogen als auch exemplarische Abbildungen aus der berühmten Publikation „Denkmäler aus Ägypten“ und anderen Sekundärquellen. Mit jedem Kapitel komplettiert sich das Bild und zeigt den gesamtheitlichen Ansatz der Expedition: Minutiöse Dokumentation des vorhandenen Großbaubestandes und der Wanddekorationen, Sammeln von transportablen Stücken (vor allem Architekturelemente) und das Erstellen von Abgüssen, insbesondere von Inschriften und Stelen. Lepsius war einer der führenden Orient-Sprachforscher des 19. Jahrhunderts und seine hervorragenden Kenntnisse der Hieroglyphenschrift ermöglichten es ihm, noch vor Ort mit bemerkenswertem Gespür bedeutende Entdeckungen zu machen, die selbst heute noch die Wissenschaft beschäftigen. Die Autoren der Textbeiträge im Katalog ordnen Lepsius‘ Leistung ein und machen deutlich, wie vorausschauend der Forscher war, aber auch, wo er irrte. Auf der anderen Seite sieht man leider nur zu deutlich, wie viel Substanz in den letzten 150 Jahren unwiederbringlich verloren ging. Lepsius‘ Dokumentation ist teilweise der einzige Zeuge, dass Denkmäler überhaupt einmal existierten und es sind vor allem Ägypter, die diesen Verlust zu verantworten haben. Raubgrabungen und rücksichtsloser Umgang mit nicht-islamischen Kulturgütern sind auch heute noch ein Problem im Land.

Der Katalog zeigt sehr eindrücklich die enorme Leistung des Lepsius-Teams und wenn die physischen Strapazen und sozialen Konflikte der Expedition, die vor allem in den Tagebüchern und Briefen des Expeditionsarchitekten Georg Erbkam festgehalten wurden (Lepsius selber schrieb nur ein „fachliches“ Expeditionstagebuch), auch etwas in den Hintergrund treten, taucht der Leser tief in die Arbeit vor Ort und die Gedankenwelt des Alten Ägypten ein. Ein ausgesprochen spannend inszenierter Begleitband zur Ausstellung, der die vielen Facetten der Expedition und ihr wissenschaftliches Nachleben anschaulich vermittelt.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 22.02.2023
'Wer hier hundert Augen hätte . . .'

'Wer hier hundert Augen hätte . . .'


ausgezeichnet

Georg Gustav Erbkam war Architekt und Zeichner der legendären Lepsius-Expedition nach Ägypten in den Jahren 1842-45. Anders als der Expeditionsleiter führte Erbkam ein echtes Tagebuch, das kürzlich sehr sorgfältig editiert wurde und in dem die Kommentatorin seine Reisebriefe oft als Querreferenzen zitiert. Während das Tagebuch als Gedächtnisstütze die zahlreichen Eindrücke in gestraffter Form, dafür aber ganz unmittelbar und ungefiltert wiedergibt, sind die Briefe an Familienangehörige und Freunde in der fernen Heimat gerichtet. Sie sind stilistisch bewusst literarischer gehalten, geben anschaulich die Atmosphäre wieder und beschreiben ganz gezielt Alltägliches, das im Tagebuch (eben weil es alltäglich war) höchstens am Rande erwähnt wird.

Erbkam ist ein versierter Briefeschreiber, der sich bewusst ist, dass diese Nachrichten aus der Ferne ebenso der Beruhigung besorgter Eltern dienen, wie der Information über den Fortgang der Reise. Die Lepsius-Expedition zeichnet sich neben ihren überreichen wissenschaftlichen Früchten auch dadurch aus, dass alle Teilnehmer die strapaziöse Reise gesund überlebten. Nur der Gipsformer Franke, der schon früh durch seinen aufbrausenden Charakter auffiel, wurde 1844 vorzeitig nach Hause geschickt, übrigens auch das ein Umstand, der deutlicher in den Reisebriefen als im Tagebuch behandelt wird. Insofern sind die Reisebriefe ein anschauliches Zeitdokument, indem sie eine der wenigen authentischen Quellen zum psychosozialen Zustand der Expedition darstellen. In den offiziellen Depeschen nach Berlin tauchen diese Themen kaum auf, nur wenn sie in akute Probleme für die wissenschaftliche Zielsetzung münden.

Die Briefe sind nur an wenigen Stellen illustriert, weshalb die Herausgeberin Elke Freier verkleinerte Faksimiles aus Erbkams Skizzenbüchern einbindet, wo sich Motive eindeutig zuordnen lassen. Es ist übrigens auffällig, wie ungeschickt Erbkam zu Beginn der Reise skizziert, mit falschen Perspektiven, unsicherem Strich und wenig Routine. Das ändert sich im Laufe der Zeit deutlich und am Ende ist aus ihm ein wirklich guter Zeichner geworden, der sein Können alleine durch learning by doing perfektioniert hat.

Anders als Lepsius, dessen „Briefe aus Ägypten“ 1852 zwar ein Bestseller waren, aber weitgehend nur archäologisch-fachliche Beschreibungen enthielten, vermittelt Erbkam ein äußerst lebendiges Bild vom Expeditionsalltag. Seine Begeisterung für die Wunder des Orients, sein unermüdlicher Fleiß und seine Leidensfähigkeit, wenn die Begleitumstände oder das Klima wieder einmal die Komfortzone verlassen, machen die Reisebriefe zu einem noch heute spannenden Bericht, nicht zuletzt, da er auch seine damalige Leserschaft gezielt unterhalten wollte und mit Pointen und einem erzählerischen Spannungsbogen gefesselt hält.

Georg Erbkam ist sich stets bewusst, an welcher außergewöhnlichen Unternehmung er teilnimmt und dass seine Schilderungen auf ein Publikum treffen, für die Ägypten fast so unerreichbar war, wie für uns heute der Mond. Dass er zu einer Zeit lebte, als die Kunst des Briefeschreibens auf ihrem absoluten Höhepunkt war, macht die Lektüre zu einem besonderen Erlebnis. In der Zusammenschau von Reisebriefen und Erbkams Tagebuch, die ausdrücklich komplementäre Informationen liefern, kann man wohl kaum näher an die Menschen der Lepsius Expedition herankommen, als hier.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.02.2023
Der Doktor und das liebe Vieh - Staffel 3
Ralph,Nicholas/West,Samuel/Madeley,Anna/+

Der Doktor und das liebe Vieh - Staffel 3


gut

In der dritten Staffel rückt der Krieg mit Deutschland immer näher und James steht im Konflikt, ob er sich freiwillig zum Militär meldet oder als Tierarzt in der Heimat dient. Tristan wandelt auf Freiersfüßen, während Siegfried mit seiner Entscheidung hadert, James zum Teilhaber gemacht und damit einen Teil der Kontrolle abgegeben zu haben. Eine große Rolle bekommt auch Mrs. Hall, die die Beziehung zu ihrem entfremdeten Sohn zu reparieren sucht.

Die Neuverfilmung punktet wieder durch eine prachtvolle Ausstattung, mit stilechten Kostümen und sorgfältig zusammengestellten Requisiten. Der Aufwand wird diesmal auch im Bonusmaterial gewürdigt, wo es einen Rundgang durch die Requisitenkammer und den Kostümfundus zu sehen gibt.
Etwas gestört hat mich der immer aufdringlichere Woke-Charakter der Drehbücher, die Themen wie Rasse und Behinderung geradezu zwanghaft einbauen und James zunehmend zu einem weinerlichen Weichei degradieren, während Hellen (buchstäblich) die Hosen anhat und ohne sie nichts mehr läuft. Um es noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Die Serie spielt 1939, nicht 2019 und es ist schlichtweg geschichtsvergessen, die Wertmaßstäbe von heute dem Jahr 1939 überzustülpen, nur damit die Woke-Aktivisten Ruhe geben. Das ist eine insgesamt sehr bedenkliche Entwicklung Richtung Totalitarismus, nur eben eine andere Form des Totalitarismus als 1939.
Die Geschichten sind teilweise arg übersüß und harmlos gestrickt (z. B. die Hochzeit der Herriots). Während in der Originalserie von 1978-90 die originellen und spannenden tierärztlichen Fälle immer die Grundstruktur lieferten, treten diese in der Neuverfilmung völlig in den Hintergrund, ja verschwinden teilweise ganz und persönliche Probleme dominieren die Handlung. Neu ist, dass diesmal eine Zeit geschildert wird, die in der Originalserie bewusst ausgespart wurde, nämlich die unmittelbare Vorkriegszeit. Damals endete Staffel 3 mit Tristans Zulassung als Tierarzt und Staffel 4 ging bereits nach dem Krieg weiter. Allerdings lösen sich die Drehbücher durch die woke-aktivistische Grundhaltung inhaltlich auch immer weiter von den Büchern von James Herriot, was ich sehr bedauerlich finde. Als Sonntagnachmittag-Familienserie zur Unterhaltung OK, aber als Einblick in eine vergangene Zeit leider nicht mehr überzeugend.

(Diese DVD wurde mir von Polyband kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.02.2023
Professionell in ETFs investieren
Huber, Michael

Professionell in ETFs investieren


ausgezeichnet

ETFs sind bei Anlegern beliebt, weil man kostengünstig in den „Markt“ investiert. Der überwiegende Anteil der ETFs bildet 1:1 einen existierenden Index wie den MSCI World ab. Hinter einigen ETFs verbirgt sich aber mehr. Sie stellen eine moderne Verpackungsform dar, um unterschiedliche Anlageklassen und Strategien investierbar zu machen und sind somit nicht auf die Nachbildung von Indizes beschränkt, wie Michael Huber in seinem Buch erläutert. Er analysiert Replikationsmethoden, gibt Einblicke in den Handel mit ETFs und zeigt, nach welchen Kriterien ETFs ausgewählt werden können. Huber richtet sich mit seinem Hintergrund- und Detailwissen vor allem an ambitionierte Privatanleger und professionelle (institutionelle) Investoren, grundlegende Begrifflichkeiten sollten dem Leser daher bekannt sein.

Die Eindringtiefe ist bei Hubers Buch deutlich höher als bei allen anderen ETF-Ratgebern, die ich bisher gelesen haben. Er vergleicht ETFs mit Indexfonds, Futures und Zertifikaten, geht ausführlich auf die Funktionsweise von ETFs ein und erklärt verständlich, wie ein ETF technisch einen Index nachbildet und welche direkten Folgen das für den Anleger hat.

Huber zeigt die Entwicklung der ETFs vom passiven zum aktiven Investitionswerkzeug. Er geht auf die Vor- und Nachteile ein, erläutert mögliche Gefahren und gibt Tipps bei der Auswahl von ETFs für die eigene Anlagestrategie. Nicht alle Anleger lassen dabei die erforderliche Sorgfalt walten, mahnt Huber an. So sind Doppelinvestitionen in die gleichen Unternehmen über verschiedene ETFs möglich, wodurch sich ungewollt Risiken addieren.

Alle Themen werden detailliert aufbereitet, um dem Anleger das notwendige Entscheidungswissen zu vermitteln: Wie analysiere ich, welche Inhalte ein ETF hat? Wie erfolgt die Preisermittlung eines Index? Gibt es günstige und weniger günstige Orderzeitpunkte? Was muss ich beim Spread beachten? Sind physische oder synthetisch replizierende ETFs die bessere Wahl? Wie liquide sind ETFs? Welche Rendite- und Risikokennzahlen sind bei der Auswahl von ETFs relevant? Wie vermeide ich Konzentrationsrisiken? Welche Besonderheiten haben Anleihen-ETFs?

Besonders hilfreich waren für mich die beiden letzten Kapitel „Quick Guide“ und „Musterportfolios für die private Anlage“, die einen kompakten Leitfaden für die Anlageentscheidung enthalten – von der Erarbeitung einer detaillierten Anlagestrategie bis hin zu konkreten ETF-Empfehlungen. Je nach Zielsetzung des Anlegers stellt Huber drei empfehlenswerte Portfolios vor: ein einfaches Portfolio mit 3 Positionen, ein standardisiertes Portfolio mit 6 Positionen und ein individuelles Portfolio mit 12 Positionen und mehr. Er erläutert, wie die Portfolios aufgebaut sind, für wen sie sich eignen und welche Besonderheiten zu beachten sind. Der Leser erhält damit einen konkreten Fahrplan.

„Professionell in ETFs investieren“ vermittelt solides, tiefes und praxisnahes Hintergrundwissen mit und hilft dem ambitionierten und professionellen Anleger, seine Anlagestrategie zu erarbeiten und in die Praxis umzusetzen.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.02.2023
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Band 5)
Proust, Marcel;Heuet, Stéphane

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Band 5)


ausgezeichnet

Swann hat Odette geheiratet und sich damit ins gesellschaftliche Abseits gestellt. Die Bühne des Hochadels, auf der er einst meisterhaft brillierte, bleibt ihm fortan verschlossen, was ihn selber äußerlich kalt lässt, seine Frau jedoch zu strategischer Höchstleistung anspornt: Odette gelingt es innerhalb kurzer Zeit, sich eigene Kreise zu erschließen, die zwar unter dem Stand ihres Mannes, aber weit über ihrem eigenen stehen. Wie ein Schachspieler setzt sie bestehende Kontakte ein, um neue zu knüpfen, nutzt Mund-zu-Mund-Propaganda, um sich interessant zu machen und Bedürfnisse bei anderen zu wecken.

Proust schildert diesen jähen Fall und zielstrebigen Aufstieg aus der Sicht seines jüngeren Ich, das mit Swanns Tochter befreundet ist und sich sehnlichst den Zutritt zu Swanns Familie wünscht. Am Ende wird er diesen bekommen und damit selber zum Teil von Madame Swanns weit vorausschauendem gesellschaftlichem Schachspiel.

Der erste Teil von „Im Umkreis von Madame Swann“ ist ganz den komplizierten Mechanismen der gesellschaftlichen Hierarchien gewidmet, in denen sich die Protagonisten ihre Position erkämpfen. Die Atmosphäre aus Dünkel, Gefallsucht, Angst vor dem Abstieg und mit Eleganz vorgetragener Gehässigkeit erinnert manchmal an einen Raubtierkäfig, bei dem die Löwen Smoking tragen. Stéphane Heuet hat auch diesen Band mit großer Präzision gezeichnet und dem Paris des Fin de Siècle eine atmosphärisch dichte Gestalt gegeben. Wie in den vorangegangenen Bänden steht Prousts Text im Mittelpunkt, mit zahlreichen Textboxen, die in kondensierter Form Prousts Stil bewahren, ohne sich zu sehr in den ausufernden Schilderungen zu verfangen. Auch die Graphic Novel hat ein hohes intellektuelles Niveau und die Übersetzung von Anja Kootz orientiert sich nicht zufällig an der maßgebenden Übersetzung des Originaltextes aus dem Suhrkamp Verlag.

Ob Stéphane Heuet sein Mega-Projekt jemals vollenden wird, steht derzeit noch in den Sternen. Bisher hat er ungefähr 10 Jahre Verspätung, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Von Bedeutung ist das nicht unbedingt, denn die Geschichte hat kein eigentliches Ziel, sondern ihr Reiz liegt in der psychologischen Beschreibung der inneren Zirkel der Pariser Gesellschaft. Auch Proust hat das Werk ja nie vollendet und es findet trotzdem immer noch seine Leser. Das wird Stéphane Heuet genauso gehen. Seine Fassung ist sozusagen das Reader’s Digest mit Schauwerten.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 17.02.2023
365 Tage Selbstversorgung
Kirchbaumer, Natalie;Ganders, Wanda

365 Tage Selbstversorgung


gut

Wer möchte nicht gerne das ganze Jahr aus seinem eigenen Garten leben? Angesichts der Lebensmittelinflation ist das mittlerweile eine lohnende Sache geworden. Die Autorinnen von „365 Tage Selbstversorgung“ vermitteln das grundlegende Gartenwissen in kurzen Kapiteln zu allen wichtigen Aktivitäten rund um das Gartenjahr, das gleichzeitig das wesentliche Strukturelement ist. Das fängt an mit den Gartengeräten, geht über die Bodenvorbereitung, Anzucht und Beetpflege bis zur Ernte. Außerdem gibt es noch viele Spezialkapitel zu Sonderthemen, wie z. B. Imkern, Saatgutgewinnung, Balkongärten oder Hochbeete. Die Informationen sind grundlegend und bleiben z. T. sehr an der Oberfläche, was auch mein wichtigster Kritikpunkt ist. Man kann auf vier Seiten aus einem Laien keinen Imker machen – und dann darf man auf so ein Kapitel gerne verzichten. Es gibt auch beispielsweise nirgendwo eine Berechnungsgrundlage, wie groß ein Selbstversorgerbeet eigentlich sein muss. Die Tabelle auf S. 14 gibt lediglich für 15 Gemüsearten einen „Ertrag im Garten“ an, wobei völlig unklar ist, auf welche Anbaufläche und welche Kulturfolgen sich die Zahlen beziehen. Es gibt auch kaum weiterführende Informationen zu einzelnen Gemüsekulturen, selten zu wachstumshemmenden Kombinationen, Kulturanforderungen oder besonderen Anfälligkeiten für Krankheiten. Die kurzen „Exkurse“ z. B. zu Tomaten gehen über das absolut Grundlegende nicht hinaus und erwähnen weder typische Krankheiten, noch wie man sie verhindert. Zu anderen Kulturen wie z. B. Kartoffeln sind dagegen die Informationen über das ganze Buch verteilt.
Die Anbaupläne zeigen drei unterschiedliche Strategien: Ein klassisches Mischbeet, ein Pflanzbeet für lagerfähige Gemüsesorten und eine Pflanzidee mit etwas ungewöhnlicheren Arten wie Shizo, Zuckerschoten und Asia-Salaten.

Ich hatte mir ehrlich gesagt unter dem Titel etwas mehr versprochen, aber das Buch ist zumindest eine gute Übersicht für Einsteiger. Die Informationen sind insgesamt korrekt und leicht verständlich aufbereitet. Sie beginnen beim absoluten Nullpunkt, was insbesondere für Einsteiger hilfreich sein kann, auf den fortgeschrittenen Gärtner aber überfürsorglich wirkt. Wer nur auf der Grundlage dieses Buchs gemüsegärtnert, wird viele Enttäuschungen erleben und muss entweder weiterführende Literatur heranziehen oder im Internet recherchieren. Das Problem ist, dass man als Einsteiger leider nicht weiß, wo sich die Informationslücken tatsächlich befinden, so dass man einige Jahre und viel Lehrgeld benötigen wird, bevor man wirklich „365 Tage Selbstversorger“ ist.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 16.02.2023
Blitzlichter. Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt
de Goncourt, Edmond;de Goncourt, Jules

Blitzlichter. Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt


ausgezeichnet

Jules und Edmond de Goncourt schrieben seit 1851 gemeinsam Tagebuch, so wie sie auch ihre Romane gemeinsam verfassten. Nach Jules Tod 1870 führte Edmond die Arbeit alleine fort.

Die Tagebücher sind ein kulturhistorisches Dokument allerersten Ranges, das einen tiefen Einblick in die gehobene Pariser Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlaubt und dank seiner „würzigen“ Beschreibungen auch heute noch sehr unterhaltsam, ja passagenweise schockierend ist. Jules hatte ab 1887 Teile der Tagebücher veröffentlicht und darüber einen Teil seiner Freunde verloren. Es waren unerhörte Details über den Lebenswandel zahlreicher berühmter Persönlichkeiten ans Licht gekommen, die Charakterisierungen waren entlarvend, mitunter beleidigend und unter der Gürtellinie (wo sich die Goncourts besonders gerne aufhielten). Sie bewegten sich zwischen Großbürgertum und Halbwelt, frequentieren sowohl die Soireen in den Stadtpalästen als auch die Hinterzimmer von Theatern und Bordellen. Beides schildern sie mit schonungsloser Offenheit, allerdings lassen sie ihre eigenen Fehler tunlichst unerwähnt. Die Eloquenz, mit der sie über andere herziehen, ist dagegen legendär.

Es gibt unzählige Editionen ihrer Tagebücher, auch zahlreiche Ausgaben in deutscher Sprache. Die meisten bringen in chronologischer Reihenfolge Ausschnitte mit Szenen und Begegnungen, was angesichts des überwältigenden Personals die Übersicht erschwert. Die Übersetzung von Anita Albus ist meines Wissens nach die Einzige, die ausgewählte Einträge nach den handelnden Personen sortiert und damit sogar Entwicklungen nachvollziehen lässt, sowohl in den Biografien der Dargestellten als auch deren Wertung durch die Goncourts. Man darf sagen, dass noch jeder, den die Goncourts anfänglich schätzten, später in Ungnade fiel. Wer sie langweilte, wurde aussortiert.

Der hedonistische Lebensstil der Goncourts erinnert stark an Schilderungen des heutigen Jetsets, mit seiner Lasterhaftigkeit, Zügellosigkeit und sexuellen Fixierung. Überraschenderweise gab es das bereits vor 150 Jahren und man darf vermuten, dass es in begüterten Kreisen auch davor schon ähnlich zuging. In dieser schonungslosen Offenheit ist es allerdings nie dokumentiert worden.

Das Buch wurde unter dem gleichen Titel bereits 1989 in der Anderen Bibliothek herausgegeben. Die Übersetzung ist ausgezeichnet gelungen, lebendig und eloquent, allerdings ist die Kommentierung aus meiner Sicht etwas zu spärlich. Zahlreiche Begriffe, genannte Personen oder Örtlichkeiten sind einem durchschnittlichen Lesepublikum nicht geläufig, wären aber für das Verständnis hilfreich. Dennoch ist die Lektüre äußerst unterhaltsam und lässt so manchen Heroen des 19. Jahrhunderts auf seinem postumen Podest ein wenig rosten.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 12.02.2023
Rob Hammer
Hammer, Rob

Rob Hammer


ausgezeichnet

Wir machen uns im dicht besiedelten Deutschland keine Vorstellung davon, wie leer die USA sind. Dort gibt es riesige Landstriche, durch die sich einsame Straßen ziehen, auf denen kaum Verkehr herrscht. Im Abstand von Stunden oder Tagen begegnet man einer einsamen Farm in einsamer Lage, so isoliert wie eine Forschungsstation auf dem Mars.

Seit 2015 ist der Fotograf Rob Hammer mit seiner Kamera in diesem Hinterland unterwegs, 70 000 Kilometer im Jahr, denn ihn interessieren gerade die weltabgewandten Gegenden, die aufgegebenen oder nie „in Besitz“ genommenen Regionen, in denen nur die Natur den Gang der Zeit bestimmt. Wenn es Hinweise auf menschliche Gegenwart gibt, dann tragen sie oft Zeichen des Verfalls oder Rückzugs. Rostige Relikte einer Kultur, die den Kampf ums Dasein offenbar verloren hat, wie die geborstene Freiheitsstatue im „Planet der Affen“, nur die Stromleitungen neben den Straßen als zerbrechliche Lebensadern zur Zivilisation. Die verzweifelten Versuche des Menschen, sich diese Landschaften untertan zu machen, wirken manchmal rührend hilflos.

Hammers Fotos strahlen dennoch vor allem kontemplative Ruhe aus, mit ihrer unendlichen Weite, den kargen Böden und dichten Wäldern. Nichts lenkt die Sinne ab, alles ist nur Hier und Jetzt und der Fotograf hat lediglich die Aufgabe, die Stimmung in einem Bild einzufangen, das zwar nur einen Ausschnitt zeigt, aber das Ganze abbildet. Rob Hammer kann das. Er besitzt ein scharfes Auge für Strukturen und Texturen, sein klassischer Bildaufbau spielt mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund, Schärfe und Belichtung. Es sind Bilder, in denen man sich verlieren kann.

„Roadside Meditation“ ist ein Roadtrip durch die USA, den jeder Betrachter auf seine eigene Weise erlebt. Es sind Reisefotos ohne Ambitionen, spektakulär sein zu wollen. Im Gegenteil, sie nehmen ihre individuelle Aussage so weit zurück, dass der Interpretation freier Raum gelassen bleibt. Es ist weder der Lobpreis der Schönheit der Natur, wie bei Ansel Adams, noch die Verherrlichung des freien Lebens im Outback, wie bei Ernst Haas, sondern eher wie klassische japanische Landschaftsmalerei: Der Inhalt entsteht erst im Kopf des Betrachters. Eine Meditation auf 120 Buchseiten.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 11.02.2023
Das Dschungelbuch 1 & 2 (2022)
Kipling, Rudyard

Das Dschungelbuch 1 & 2 (2022)


ausgezeichnet

Rudyard Kipling erhielt als (bis heute!) jüngster Autor und als erster britischer Schriftsteller überhaupt 1907 den Literatur-Nobelpreis. In der Laudatio wurde sein Dschungelbuch als eines von nur zwei Werken namentlich erwähnt und das mag ein erster Hinweis sein, dass Moglis Geschichte kein reines Kinderbuch ist, auch wenn es als solches konzipiert war. Und mit dem gleichnamigen Disneyfilm hat es, bis auf die wesentlichen Charaktere, kaum etwas zu tun. Kipling hatte nichts übrig für honigsüßen Kitsch und seine Dschungelrealität ist oftmals reichlich düster und zeitweilig sogar brutal. Schir Khan kommt im Original nicht mit dem Leben davon und Mogli wird von seinem Rudel ausgestoßen und muss deshalb in die Welt der Menschen zurückkehren. Der Dschungel ist kein heiteres Paradies, in dem einem die Früchte in den Mund wachsen, sondern eine gefährliche Welt, in der man entweder frisst oder gefressen wird. Über allem steht das Gesetz des Dschungels und nur wer sich daran hält, überlebt. Letztlich stirbt Schir Khan, weil er dieses Gesetz missachtet.
Pflichtbewusstsein und Geradlinigkeit sind daher die maßgeblichen Werte, die Kipling in seinen Erzählungen vermittelt, aber sie sind auch ein Plädoyer gegen die Angst. Mogli meistert die gefährlichen Situationen nicht nur aufgrund von Gehorsam, sondern auch, weil er sich vor nichts fürchtet, wobei das vierte Standbein seines gefestigten Charakters die Liebe ist. Im Gegensatz zu den Tieren kommen die Menschen meist nicht gut weg. Sie sind habgierig, hinterhältig und töten zum Vergnügen. Kipling war selber ein Einzelgänger, der sich den gesellschaftlichen Netzwerken zeit seines Lebens entzog, aber er war auch ein ausgesprochen liebevoller Familienvater. Das spürt man überall in seinen Geschichten.

Im eigentlichen Sinn besteht das Dschungelbuch nicht aus Kapiteln, sondern eigenständigen Erzählungen, auch wenn sie, zumindest innerhalb der Mogli-Thematik, aufeinander aufbauen. Im zweiten Dschungelbuch ist diese Eigenständigkeit noch stärker ausgeprägt und hier gibt es kaum noch durchgehende Handlungsstränge. Der rote Faden zwischen allen Geschichten ist vielmehr die moralische Reifung des jeweiligen Protagonisten und natürlich der Umstand, dass grundsätzlich Tiere die Rolle von Menschen übernehmen.

Die illustrierte Ausgabe ist genau wie die Erstausgabe von 2015 umfangreich kommentiert und stellt die englische Originalfassung der „Dschungellieder“ der deutschen Übersetzung gegenüber.

Seit der Erstveröffentlichung sind über ein halbes Dutzend Übersetzungen in deutscher Sprache erschienen, darunter gelungene (z. B. Haefs) aber auch weniger gelungene, die heute ein wenig steif wirken. Kiplings Stil zeichnet sich durch eine ungeheure Präzision aus, was vor allem seiner journalistischen Ausbildung geschuldet ist. So entstehen zeitlose Naturschilderungen von unerreichter Intensität und gefühlter Wahrheit. Eine gute Übersetzung fängt genau diese Qualitäten ein und Andreas Nohl gelingt dieses Kunststück ganz ausgezeichnet. Er modernisiert Kipling, ohne ihn sprachlich zu vergewaltigen. Der Stil bleibt zwar stets dem 19. Jahrhundert verhaftet, aber er wirkt trotzdem nie antiquiert und so findet Nohl den goldenen Mittelweg, der eine neue Übersetzung immer rechtfertigt.

Die Illustrationen von Paloma Tarrio Alves zeigen ein sehr sicheres grafisches Gespür und zitieren in ihren flächigen, farblich fein nuancierten Elementen, die das Dschungelhafte so weit zurücknehmen, dass es für den Betrachter lesbar bleibt, die Buchillustrationen des späten Jugendstils. Vereinzelt hat es mich auch an die Buchgestaltung von Kat Menschik erinnert. Paloma Tarrio Alves liefert eine passende atmosphärische Begleitmusik zu diesem schönen, vielschichtigen Buch.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)