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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 820 Bewertungen
Bewertung vom 24.11.2020
Grimms Wörter
Grass, Günter

Grimms Wörter


weniger gut

Ambivalentes Spätwerk

Es war nicht sein letztes Buch, wie er befürchtet hatte, es folgten noch zwei weitere, mit «Grimms Wörter» hat Günter Grass seinem belletristischen Œuvre noch eine ambivalente «Liebeserklärung» hinzugefügt. Der überbordenden Liebe zum geschriebenen Wort, die hier wortmächtig und sprachverliebt zum Ausdruck kommt, steht erneut eine seiner peinlichen Selbstdarstellungen gegenüber. Eine unverhüllte Eitelkeit, die dem Literatur-Nobelpreisträger und künstlerischem Multitalent wahrlich nicht zur Ehre gereicht. Lange galt er als führender Intellektueller Deutschlands, seine Stimme hatte Gewicht, er hat sich politisch eingemischt wie kein zweiter und oft den Nagel auf den Kopf getroffen. Dieser Roman über die Gebrüder Grimm wäre ohne die selbstverliebten autobiografischen Einschübe ein amüsanter und lehrreicher linguistischer Parforceritt für sprachlich Interessierte. Wäre!

Die Geschichte um das Jahrhundertwerk der begnadeten Philologen Jakob und Wilhelm Grimm beginnt mit dem Rauswurf der «Göttinger Sieben» aus der berühmten niedersächsischen Universität, Jakob wurde sogar des Landes verwiesen. Nachdem Berufungen an andere deutsche Universitäten ausgeblieben waren, bietet sich mit dem Auftrag für ein Deutsches Wörterbuch ein Jahr später endlich für beide die Chance, ihrer inzwischen entstandenen finanziellen Misere zu entrinnen. Von Buchstabe zu Buchstabe und Wort zu Wort hangelt sich Günter Grass durch die deutsche Sprache, deren Ursprüngen und linguistischen Varietäten die gelehrten Brüder mit höchstem wissenschaftlichem Anspruch nachspürten. Eine Mammutaufgabe, wie sich schon bald erweist, es vergehen sechzehn Jahre, bis 1854 der erste Band erscheinen kann. Aus der Feder der beiden Grimms stammen dann noch die Bände bis zum Buchstaben F, den Jakob erarbeitet hat, bevor der Tod auch seinem Fleiß ein Ende setzte. Der große Rest wurde von vielen anderen Wissenschaftlern erstellt, der 32te und letzte Band erschien dann erst 1961. Die Taschenbuch-Ausgabe des dtv von 1999 enthält 320.000 Stichwörter auf 34.824 Seiten.

Mit erkennbarer Lust breitet Günter Grass linguistische Varianten ausgesuchter Wörter und diverse, von den Grimms als Belege angeführte Zitate aus der Literatur vor dem Leser aus. Er ergänzt sie um heutige, neu hinzu gekommene Worte und weist auf die Dynamik hin, der Sprache permanent unterworfen ist. Seine erkennbare Freude an barocken, altertümelnden Sprachformen findet sich auch in anderen Werken von ihm, «Das Treffen in Teltge» nennt er selbst als Beispiel. Aber er weist auch völlig unnötig auf viele andere seiner Werke hin, obwohl er solch plumpe Eigenwerbung als weitaus erfolgreichster deutscher Schriftsteller gar nicht mehr nötig hatte. Noch peinlicher aber sind die vielen einfließenden Reden, Begegnungen, politischen Aktivitäten und verbalen Scharmützel mit der Springer-Presse, durch die er sich in diesem Buch selbst inszeniert. So sehr man seinen Ansichten zu politischen und sozialen Problemen auch heute noch nur zustimmen kann, so sehr sind sie in diesem Roman fehl am Platze, es fehlt nämlich jedweder Zusammenhang mit dem Grimm-Thema. Und anders als bei den Gebrüdern hat seine Aufmüpfigkeit auch nie gravierende Folgen für ihn gehabt, sie hat ihn im Gegenteil auflagesteigernd nur bekannter gemacht.

Größte Stärke des Buches ist sicherlich der virtuose Umgang mit Sprache, hinzu kommt der interessante Einblick in die Entstehungsgeschichte des kolossalen Grimmschen Werkes. Aber auch der historische Kontext mit den vielen prominenten Zeitgenossen jener Epoche, über die da munter fabuliert wird, ist bereichernd. Es gelingt Grass aber nicht, kurzweilig zu plaudern, wie das der von ihm zitierte und bewunderte Theodor Fontane so perfekt konnte, insoweit hat der Roman auch wenig Unterhaltungswert aufzuweisen. Das posthume Herbeizitieren der Grimms zu fiktiven Gesprächen im Berliner Tiergarten, zur gemeinsamen Bootsfahrt gar am Ende, wirkt zudem eher deplatziert als mystisch bereichernd.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.11.2020
Utopia
Morus, Thomas

Utopia


ausgezeichnet

Triumph der Vernunft

Das unter dem Namen «Utopia» publizierte Buch von Thomas Morus weist bereits im Titel auf seinen satirischen Charakter hin, ein im Englischen homophones Sprachspiel um die griechischen Begriffe Outopia und Eutopia, deutsch ‹Nichtort› und ‹Glücksort›. Das im Original auf Latein verfasste Werk wurde auf Betreiben seines Freundes Erasmus von Rotterdam erstmals 1516 in den Niederlanden herausgegeben. Morus hatte bei ihm während einer diplomatischen Mission mehrere Wochen als Gast gewohnt und bei dieser Gelegenheit den entscheidenden Teil dieses Werkes geschrieben, das den thematisch zentralen Reisebericht umfasst, hin zu jener unbekannten, wundersamen Insel.

Mit dem später entstandenen ersten Teil fügte der Autor trickreich eine Rahmengeschichte hinzu, in der er in persona als Gesprächspartner eines Seefahrers namens Hythlodeus auftritt. Der erzählt von seinen weiten Reisen und schwärmt insbesondere von der unbekannten Insel Utopia, die südlich des Äquators liege. Morus nimmt dabei, aus gutem Grund, nur die Rolle eines kritischen Gesprächspartners ein, der aus reiner Höflichkeit dem euphorischen Lobgesang nicht widerspricht. Die staatskritische Thematik seines Buches nämlich war sehr gefährlich, er musste deswegen offenbar literarisch deutliche Merkmale einbauen, um das Fiktionale des Ganzen zu betonen. Denn wie sich später zeigte, wurde er als Lordkanzler unter Heinrich VIII wegen Aufmüpfigkeit ja kurzerhand zum Tode verurteilt, - Rübe ab, schon war er Märtyrer, so schnell ging das! Seine vorsorglich manifestierte, ironische Distanz drückt sich bereits im Namen des Seemannes aus, der übersetzt ‹Possenreiter› bedeutet. Andererseits ist Thomas Morus aber auch neugierig und bedeutet Hythlodeus, ihm die gesamte Geschichte von seinem fünfjährigen Aufenthalt in Utopia zu erzählen. Mit seinem ausführlichen Bericht, der den zweiten Teil dieses satirischen Romans bildet, kommt der ‹Possenreiter› diesem Wunsch erkennbar gerne nach.

Geschildert wird ein idealtypisches Staatsgebilde, das man als basisdemokratisch organisierten Kommunismus freier Bürger bezeichnen könnte. Der ganz ohne Geld auskommt, in dem alles allen gehört und jeder gerechterweise das zugeteilt bekommt, was er benötigt. Es gibt also kein Eigentum, aber auch keine Privilegien, alle herausgehobenen Ämter werden, nach einem Rotationsprinzip ständig wechselnd, nur auf Zeit verliehen. Alle arbeiten als Bauern oder Handwerker sechs Stunden am Tag, werden gemeinsam verpflegt und tragen einheitlich eine zweckmäßige Kleidung aus eigener Produktion. Da das viele Gold, das sie besitzen, als Material für sie keinerlei praktischen Nutzen hat, fertigen sie ihr Nachtgeschirr daraus. Es gibt noch viele weitere derart wunderliche Verhaltensweisen und soziale Regeln, dass seit Erscheinen des Buches immer wieder allerlei Deutungen und philosophische Dispute heraufbeschworen wurden über die faszinierende Ideenwelt von Utopia. Unwillkürlich stößt man beim Lesen dieses inzwischen fünfhundert Jahre alten Textes häufig auf Gedanken, die eigentlich naheliegend sind und viele Probleme mit einem Schlage lösen könnten, auch die unserer heutigen Welt. Wenn dem nicht jener aus dem Selbsterhaltungstrieb resultierende Eigennutz unausrottbar im Wege stände. Genau das hatte auch Karl Marx nicht berücksichtigt. Das Glück der Utopier nämlich liegt im Ideellen, nicht im Materiellen. Sie nutzen die reichlich vorhandene Zeit, um den Geist zu bereichern, für alles andere ist ja bestens gesorgt, alle sind gleichermaßen zufrieden mit dem, was sie haben.

Die liebevoll editierte Menasse-Ausgabe von 2004 lässt sich in der Übersetzung von Jacques Laager trotz der anspruchsvollen Thematik sehr flüssig lesen. Dabei hilft zum Verständnis der umfangreiche, erschöpfend Auskunft gebende Anmerkungsapparat. Als zeitloser Klassiker kann man diesen Roman, wie ich es getan habe, auch wiederholt lesen, man wird immer wieder erneut bereichert von diesem utopischen Triumph der Vernunft.

Bewertung vom 18.11.2020
Dorfroman
Peters, Christoph

Dorfroman


gut

Märkische Behaglichkeit am Niederrhein

Im Titel «Dorfroman» hat Christoph Peters die Genrebezeichnung seines neuen Buches bereits benannt, Handlungsort ist nämlich ein kleines Dorf am Niederrhein, nähe Kalkar. Und mit dem Ort wird auch gleich die Thematik deutlich, es geht um den Schnellen Brüter, jenen neuen Kernreaktortyp, der in den 70er Jahren an diesem Standort gebaut wurde. Und wie an den anderen Brennpunkten im Kampf gegen die Atomlobby, so entsteht auch in der kleinen Ortschaft ein improvisiertes Lager streitbarer Atomkraftgegner, direkt gegenüber dem Bauplatz des Atommeilers, auf der anderen Rheinseite.

Der in Berlin lebende Ich-Erzähler besucht seine Eltern in Hülkendonck, dem Ort seiner Kindheit, beide sind schon lange im Ruhestand. Bereits bei der Anfahrt mit dem Auto werden beim Anblick vieler vertrauter Plätze manche Erinnerungen wieder in ihm wach. Vieles hat sich zwar verändert, seit er vor dreißig Jahren dieses Kaff verlassen hat, aber manches ist ihm immer noch wohl vertraut. In seinem ehemaligen Kinderzimmer stößt er dann auf all die Dinge, die dort noch immer für ihn aufbewahrt werden, und mit jedem einzelnen verbinden sich irgendwelche Geschichten aus seinem Leben damals. Sein Vater war Meister in einem Betrieb für Landmaschinen, ist in dem bäuerlich geprägten Dorf geboren und kennt fast jeden. Die Mutter stammte aus der Stadt, als Lehrerin aber ist sie hier schon bald ebenfalls eng verwurzelt. Der geplante Bau des Reaktors spaltet die Dorfgemeinschaft nun in zwei Lager. Der Vater des Ich-Erzählers gehört als Kirchenvorstand, anders als seine Kollegen dort, entschieden zu den Reaktor-Befürwortern. Durch ihren Beschluss, das der Kirche gehörende Baugelände nicht zu verkaufen, blockiert eine deutliche Mehrheit im Kirchenvorstand aber den Verkauf, die Auseinandersetzungen im Dorf eskalieren. Die meisten versprechen sich neue Arbeitsplätze, und die Kirchenoberen freuen sich schon auf das viele Geld, mit dem dann auch die uralte Kirche saniert werden könnte.

Der Roman schildert sehr anschaulich das behütete Leben des Helden, das familiäre Zusammenleben, die Nachbarn, Freunde und all die Bauern, die das Dorfleben prägen. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders mit ihrer spießigen Nierentisch-Romantik. Eine geistige Ödnis, zu der vor allem auch ein naiver Katholizismus beiträgt, von dem er sich aber in der Pubertät allmählich immer mehr abwendet. Entscheidend ist dabei Juliane, eine sechs Jahre ältere Aktivistin aus dem benachbarten Protestcamp, in die er sich als fast Sechzehnjähriger unsterblich verliebt hat und mit der er schließlich auch seine Initiation erlebt. Als Schmetterlings-Sammler mit dem schwärmerischen Berufswunsch ‹Tierschützer› á la Grzimek oder Sielmann entwickelt er sich unter Julianes Einfluss zum Atomkraftgegner. Seinem drögen Leben in dörflicher Idylle wird im Roman mit dem ‹Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll› der skurrilen Typen des Protestcamps ziemlich brutal ein alternativer Lebensentwurf gegenüber gestellt. Der Roman lebt vor allem von diesem extremen Spannungsfeld.

Mit seiner ruhigen Erzählweise erinnert der Autor ein wenig an Fontane, anschaulich schildert er das ländliche Milieu einer wohlversorgten Familie aus dem Mittelstand und die Sitten und Gebräuche am Niederrhein. Die Sprache ist der kindlichen Perspektive seines jugendlichen Helden stimmig angepasst, wobei vor allem dessen naive Naturliebe, die ja in krassem Widerspruch steht zum ökologischen Wahnsinn des Atomreaktors, in wunderbaren Naturbeschreibungen zum Ausdruck kommt. Nicht ganz verständlich ist, warum im Roman von Calcar geredet wird, obwohl die kleine Stadt seit 1936 offiziell Kalkar heißt. Und dass der Heranwachsende mit seiner promiskuitiven Geliebten sich selbst unverändert als Kind bezeichnet ist ebenfalls fragwürdig. Von den Figuren wirkt besonders der Vater als ein stimmig beschriebener, kantiger Charakter fontanescher Prägung überaus sympathisch, märkische Behaglichkeit also auch am Niederrhein!

Bewertung vom 16.11.2020
Die Dame mit der bemalten Hand
Wunnicke, Christine

Die Dame mit der bemalten Hand


weniger gut

Esoterischer Kosmos

Forschungsreisen sind in der Literatur ein beliebtes Thema, auch Christine Wunnicke greift es auf in ihrem neuen Roman «Die Dame mit der bemalten Hand». Anders als bei Christoph Ransmayr oder Daniel Kehlmann jedoch geht es bei ihr um kulturelle Werte, steht das west-östliche Missverstehen im Vordergrund der pittoresken Geschichte einer gescheiterten Expedition. Schon das Titelbild deutet mit dem Kometen auf die Astronomie hin. Und wie man im Buch dann erfährt, erkannten europäische Wissenschaftler im Sternbild der Kassiopeia deutlich das Abbild jener ‹Dame› aus der griechischen Mythologie, während östliche darin allenfalls deren ‹bemalte Hand› zu erkennen vermochten.

Auf Anregung eines skurrilen Göttinger Professors und finanziert durch den dänischen König bricht 1764 eine sechsköpfige Expedition in den Orient auf, vornehmlich um Überlieferungen der Bibel durch Funde vor Ort zu verifizieren, aber auch um möglichst viele unbekannte Details über Land und Leute in den besuchten Gebieten zu sammeln. Erzählt wird mit dem Fokus auf Carsten Niebuhr, einem dreißigjährigen Mathematiker aus Bremen, der für die Kartografie und Vermessungen zuständig ist. Als einziger Teilnehmer übersteht er die Strapazen der Reise und bringt allein die nicht sehr ergiebigen wissenschaftlichen Aufzeichnungen der Expedition zurück, - soweit die Fakten. Die darüber hinaus fiktional üppig angereicherte Geschichte lässt den Romanhelden weit über das Ziel Arabien hinausschießen, er landet in Indien und besichtigt die berühmte Flussinsel Elephanta bei Bombay. Die gehört übrigens heute mit ihren in den Fels gehauenen, hinduistischen Tempeln zum UNESCO-Weltkulturerbe. Dort also trifft Niebuhr auf den schon etwas älteren, persischstämmigen Astrolabien-Produzenten Musa aus Jaipur, der eigentlich auch ganz woanders sein wollte und auf dem Weg nach Mekka einen Abstecher hierher gemacht hat. Beide haben das Schiff verpasst, das sie zurückbringen sollte, und sitzen nun fest auf der Insel. Das kleine astronomische Messinstrument, das Musa baut, weckt Niebuhrs Interesse und verbindet beide trotz aller sprachlichen Hürden. Während sie auf ein Schiff warten, das sie irgendwann aus ihrer misslichen Lage befreit, führen sie äußerst anregende Gespräche.

In zwölf Kapiteln wird abwechselnd von den beiden Männern und von ihrem unfreiwilligen Aufenthalt erzählt. Die öde Bettlerinsel wird von einigen armseligen Gestalten in primitiven Hütten bewohnt, es gibt viele Ziegen dort und eine große Affenpopulation. In den wenigen Tagen, die sie dort gemeinsam verbringen, dreht sich ihr Gespräch zunächst um Astronomie. Wobei sie den sprachlichen Hürden durch ein wenig Arabisch und viel Intuition begegnen, um sich einigermaßen verständlich machen zu können. Sie erzählen sich auch gegenseitig von ihrem Leben und den Umständen, die sie hier hergeführt haben, wo sie gar nicht sein sollten. Besonders Musa weiß nach orientalischer Tradition blumig zu erzählen, so manche seiner vielen Geschichten dürfte allerdings seiner lebhaften Phantasie entsprungen sein. Er kümmert sich auch besorgt um Niebuhr, als der, von Fieberschüben geplagt, zeitweise ins Delirium sinkt.

Die Autorin nutzt das babylonisch anmutende, sprachliche Wirrwarr für allerlei eingestreute, linguistische Vergleiche, vor allem aber für das Hinterfragen scheinbarer Gewissheiten auf beiden Seiten. Nicht nur werden da wissenschaftliche Thesen diskutiert, auch kulturelle und religiöse Unterschiede führen zu allerlei von Missverständnissen befeuerten Disputen. All das wird in einer spielerisch anmutenden Weise erzählt, die lebhaft fabulierend vieles in der Schwebe hält und eine schillernde, pittoreske Welt erschafft. Der so entstandene esoterische Kosmos, geradezu das Markenzeichen von Christine Wunnicke, dürfte auch hier wieder nur bestimmte Leser ansprechen, andere hingegen, durch die Platzierung auf der diesjährigen Shortlist des Frankfurter Buchpreises neugierig geworden, aber ziemlich enttäuschen.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.11.2020
Annette, ein Heldinnenepos
Weber, Anne

Annette, ein Heldinnenepos


ausgezeichnet

Leserherz, was willst du mehr?

Mit «Annette, ein Heldinnenepos» setzt Anne Weber der französischen Rebellin Anne Beaumanoir schon zu Lebzeiten ein Denkmal. Die 1923 geborene Ärztin engagiert sich bis heute auf Vorträgen gegen Unheil stiftenden Nationalismus ebenso wie gegen rassistischen und religiösen Fanatismus. Bei einem solchen Vortrag hat die Autorin sie persönlich kennengelernt, ihre Gespräche mit der betagten Dame sowie deren jüngst auf Deutsch erschienene Autobiografie dienten ihr als Vorlage. Für ihr Engagement während der Judenverfolgungen im besetzten Frankreich erhielt die Widerstandskämpferin den von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem verliehenen Ehrentitel «Gerechte unter den Völkern». Dieses Sujet nun wird narrativ in der nicht gerade alltäglichen Form eines Prosagedichtes umgesetzt, was aber, anders als befürchtet, den Lesefluss in keiner Weise stört. Vielmehr wird dadurch ganz subtil das Heldische ihrer Geschichte betont.

Schon als Jugendliche engagiert sich Annette in der kommunistischen Gruppe der Résistance und wird mit allerlei Botendiensten betraut. Bei einer von ihr allein durchgeführten, spontanen Aktion kann sie zwei Juden in letzter Sekunde vor den Nazis retten. Von ihrer Organisation aber wird sie gerügt, weil sie bei ihrem unkoordinierten Alleingang gegen die strengen Sicherheitsregeln für die Untergrundarbeit verstoßen hat. Nach dem Krieg studiert sie, heiratet einen Arzt, mit dem sie drei Kinder hat, und arbeitet als Professorin für Neurologie. Bis sie schließlich Mitte der fünfziger Jahre während des Algerienkriegs Partei ergreift für die von Ben Bella gegründete FLN und erneut in den Untergrund geht. Die hehren Werte der ‹Grande Nation›, liberté-egalité-fraternité, werden damals geradezu mit Füßen getreten, sie unterstützt deshalb ohne Rücksicht auf private und familiäre Interessen den Freiheitskampf. Mutmaßlich durch Verrat fliegt sie irgendwann auf, wird verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, kann aber vor Haftantritt nach Tunesien fliehen. Von dort aus ist sie wieder eingebunden in die Befreiungs-Bewegung und nimmt nach Ausrufung der nationalen Unabhängigkeit einen hohen Posten ein im Gesundheitswesen des neuen Staates Algerien. Bis 1965 schließlich durch einen Militärputsch Boumedienne die Macht übernimmt und Annette erneut fliehen muss. Da sie in Frankreich per Haftbefehl gesucht wird, geht sie in die Schweiz, wo sie in Genf bis ins Rentenalter als Leiterin einer neurophysiologischen Klinik arbeitet. Nach der lang erwarteten Amnestie siedelt sie sich schließlich in Dieulefit an, einem kleinen Ort im Südosten Frankreichs, wo sie heute noch lebt.

Annette ist rückblickend im Zweifel, ob sich ihr Einsatz, all ihre Entbehrungen denn wirklich gelohnt haben. Was ihr Engagement für die Résistance anbelangt hat sie keine Zweifel, was aber aus Algerien geworden ist nach der Befreiung, das sieht sie mit Sorge. Und es gibt dort politisch ja auch bis heute keinen Lichtblick, ‹Arabischer Frühling› hin oder her! Am Ende wird Camus zitiert, der die Sache weise zurechtrückt: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen».

«Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt», schreibt die Jury des Deutschen Buchpreises 2020 in ihrer Begründung zur Preisverleihung. Und in der Tat stellt die Sprache die größte Überraschung dar in diesem untypischen Epos so ganz ohne strahlende Heldin. Ohne Verklärung, aber auch ohne Ironie wird hier locker erzählt, wobei die Erzählerstimme sogar den Klappentext mit einbezieht und amüsante Abschweifungen einstreut: «Kaum ist der Indochinakrieg zu Ende und Frankreich (ohne Annettes Zutun) um eine Kolonie kleiner…» Durch historische Einblicke bereichert, durch eine spannende Geschichte gut unterhalten, durch eine virtuose Sprache höchst erfreut, stellt sich hier die literarische Urfrage: Leserherz, was willst du mehr?

Bewertung vom 11.11.2020
Malé
Ehrlich, Roman

Malé


schlecht

Wenn ihr so weitermacht

Das neue Buch von Roman Ehrlich mit dem Titel «Malé» erinnert daran, dass der Menschheit neben dem weltweiten Corona-Desaster auch noch die Klimakatastrophe bevorsteht, ein weitaus schlimmeres Menetekel, dessen Auswirkungen unser Leben gründlich umkrempeln wird. In seinem Albtraum-Roman greift der Autor einen unübersehbaren Aspekt der vom Menschen verursachten Erderwärmung auf, das Ansteigen der Meeresspiegel. Und dessen verheerende Auswirkungen legt er am Beispiel von Malé, der Hauptstadt der Malediven, seinem dystopischen Roman als Szenario zugrunde. Darin ist der einstige touristische Sehnsuchtsort, als Staat längst untergegangen, von der Bevölkerung verlassen und dem Verfall preisgegeben, zum Zufluchtsort von allerlei Aussteigern geworden.

Der zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelte Roman handelt von Abenteurern, Utopisten, Weltverbesserern, Zivilisations-Flüchtlingen und auch von Verfolgten, die sich aus vielerlei Gründen dort verstecken, ein Whistleblower ist auch dabei. Dabei ist die Insel als nach außen abgeschlossener Raum ein bevorzugter Platz für Aussteiger und Realitäts-Flüchtige, die in den verfallenen Gebäuden ein alternatives Leben führen wollen. Einige von ihnen hätten, wie sie bekennen, gerne auch im Berlin der Nachwendezeit gelebt, wo bauliche Leerstände zeitweilig zur illegalen ‹Zwischennutzung› dienten. Er könne diesen Eskapismus gut verstehen, hat der Autor im Interview erklärt. Und hinzugefügt: «Die eigentliche Sehnsucht ist die Einschließung. Man will eingekapselt sein und alles an einem Ort haben, um dann Herr über diesen Ort sein zu können. Viele erhoffen sich das auch von der Insel – und je kleiner sie ist, desto besser».

Die Regierung ist durch einen Putsch von bewaffneten Milizen hinweggefegt worden, die «Eigentlichen» haben ihr Hauptquartier auf einem stillgelegten Kreuzfahrtschiff eingerichtet und sind in der Stadt fast nie zu sehen. In dem breit angelegten Figuren-Ensemble gibt es einen Vater, der auf der Insel nach seiner angeblich tot aufgefundenen Tochter sucht, eine bekannte Schauspielerin. Die hatte dort mit einem deutschen Lyriker eine Affäre. Inzwischen ist der Poet aber verschwunden und wird von einer amerikanischen Literatur-Wissenschaftlerin für ihre Forschungen dringend gesucht. Zum skurrilen Personal gehört ferner ein Professor, der als von allen respektierter Führer der Aussteigerclique gilt und in der Wohnung über der Bar «Blauer Heinrich» wohnt. Der Grill «Hühnersultan» dient als beliebter Treffpunkt der auf Malé Gestrandeten. Es gibt ferner eine athletische schwedische Schwimmerin, die nach einem Suizidversuch von ihrem platonischen Verehrer rundum bewacht wird. Sie träumt davon, aus dem am Strand reichlich angeschwemmten Plastikmüll die Basis für schwimmende Inseln zu schaffen, die künftig als Ersatz für die versunkenen Inseln des Archipels dienen sollen.

So lobenswert die Thematik des Romans ist, so zweifelhaft ist dessen narrative Umsetzung. Durch ständige Wiederholungen nerven die Beschreibungen des unsäglichen Chaos auf der Insel schon bald. Müll, Dreck, Ungeziefer, Leichen, Verwesung, Überflutung, und keine der vielen Matratzen in dem Buch ist nicht ‹versifft›. Auch die abenteuerlich benannten Figuren sind grotesk überzeichnet, ihre pathetisch vorgetragenen Lebensgeschichten sind es nicht minder. Halbe Seiten lange Passagen werden zudem wortwörtlich wiederholt, man reibt sich verwundert die Augen, weil man merkt, dass man genau das doch schon mal gelesen hat! Ein Plot ist nicht vorhanden, die Szenen sind fragmentarisch aneinandergereiht. Und alles bleibt vage, nichts wird zu Ende erzählt. Mit seiner eigenwilligen Erzählweise bleibt Roman Ehrlich immer kühl distanziert, man könnte hinter seiner apokalyptischen Szenerie sogar eine versteckte Ironie vermuten, frei nach dem Motto: ‹So könnte es euch gehen, wenn ihr so weitermacht›. Für Ironie aber gibt es keine Anzeichen, er meint es so, wie er es schreibt!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.11.2020
Herzklappen von Johnson & Johnson
Fritsch, Valerie

Herzklappen von Johnson & Johnson


weniger gut

Thematisch ambivalent

Der Schmerz ist das zentrale Thema des dritten Romans der österreichischen Schriftstellerin Valerie Fritsch, der in seiner vier Generationen umfassenden Geschichte die Frage aufwirft, wie Schmerz und Schuld den Menschen formen. Seine Protagonistin Alma spürt darin einem Familiengeheimnis nach, das sie als Trauma seit frühester Kindheit verfolgt und ihr keine Ruhe lässt. Alles andere als ein Wohlfühlroman also, fußt sein Impetus doch auf der zivilisatorischen Zäsur, die der Zweite Weltkrieg mit seinen Gräueln bedeutet hat. Deren Folge war die weitverbreitete Sprachlosigkeit einer ganzen Generation, zu der auch Almas Großeltern gehören. Ist es möglich, dass derart traumatische Erfahrungen über Generationen hinweg weiterwirken, und ist Empfindungslosigkeit vererbbar?

Alma wächst in einem klinisch sauberen Haushalt auf, in einer wenig anheimelnden Atmosphäre, die ihr mitunter geradezu kulissenartig vorkommt. Ihr Großvater kam aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und leidet seither daran, dass ausgerechnet er als einer der wenigen überlebt hat und viele seiner Kameraden nicht. Er hat sich in das Schweigen geflüchtet, denn durch seine Mitwirkung bei grausamen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung ist er zum Mörder geworden. Anders als er erzählt die kranke Großmutter, die das Haus nicht mehr verlässt und sich völlig in ihre Häuslichkeit zurückgezogen hat, Alma von der schicksalhaften Vergangenheit. Damit löst sie bei ihrer Enkelin jedoch Ängste aus, die sich zunehmend auf die Persönlichkeit der weltabgewandten, jungen Frau auswirken, die als Illustratorin arbeitet. Als sie Mutter wird, stellt sich schon bald heraus, dass ihr Sohn unter einer genetisch bedingten Analgesie leidet, dem krankhaften Fehlen von Schmerzen. Damit fehlt ihm der somatische Selbstschutz, die Warnfunktion des Schmerzes also, was auf seinen Körper verheerende Auswirkungen hat. Seine Mutter wird ständig in Atem gehalten, weil er sich dauernd irgendwo verletzt, ohne es zu merken. Sie muss ihm den Schmerz deshalb rein verbal demonstrieren, die Sprache fungiert dabei als Stellvertreter.

Mit Schmerz und Leid geht natürlich auch die Empathie-Empfindung einher. Valerie Fritsch versucht hier quasi, psychische und physische Gefühllosigkeit und das daraus resultierende Schweigen als Antipoden in eine Metapher zu binden. Sie stellt dem Schweigen des Großvaters die Sprachlosigkeit des Kindes gegenüber, das sich nicht beklagt, weil es nichts spürt. Der Großvater stirbt schließlich, «Er schwieg sich davon», heißt es im Buch, «Sein innerer Winter ergriff vollends von ihm Besitz». Drei Tage später erschießt sich die Großmutter. Nach der Doppel-Trauerfeier beginnt Alma, nacheinander die Orte der Vergangenheit zu besuchen, erst die in der Nähe, dann die entfernten. Und schließlich will sie auch nach Kasachstan, zum Gefangenenlager des Großvaters. Der Roman wirft plötzlich alle Statik ab und mutiert in den letzten zwei der zehn Kapitel zur Road Novel. Ihr Mann hat einen Auftrag bekommen zum Fotografieren von Industrie-Brachen und Fabrik-Ruinen in den Ländern des Ostens. Sie wird mitfahren und diese Reise dann bis nach Kasachstan ausdehnen. Es folgt eine wochenlange Autofahrt durch endlose Weiten, armselige Dörfer und quirlige Großstädte, jeden Tag gibt es Neues zu sehen. Und plötzlich sind sie da. «Was immer sie erwartet hatte, trat nicht ein. Der letzte Vorhang fiel nicht» heißt es am Schluss.

Stilistisch bleibt Valerie Fritsch sehr zurückhaltend, sie zeigt mehr, als dass sie beschreibt in ihrer geschliffenen, kargen Prosa. Ihre Figuren bleiben sprachlos, sie wirken, ganz ohne direkte Rede, wenig lebendig. Das wichtigste narrative Element, die medizinisch extrem seltene Schmerzlosigkeit des Sohnes, ist arg weit hergeholt, erzählerisch wenig glaubhaft umgesetzt und zudem eher beiläufig in diese Geschichte eingebaut. Das gilt am Ende auch für die spontane Reise, die thematisch ambivalent neben dem zentralen Thema der Analgesie steht

Bewertung vom 08.11.2020
Goldene Jahre
Camenisch, Arno

Goldene Jahre


gut

Ironisches Requiem

Mit «Goldene Jahre» ist kürzlich das zwölfte Buch des Schweizer Schriftstellers Arno Camenisch erschienen, freudig bejubelt von seiner Fan-Gemeinde. Auch die Juroren des diesjährigen Frankfurter Buchpreises waren so beeindruckt, dass sie den 100-Seiten-Band auf die Liste der Nominierten gesetzt haben. Wie in vielen seiner Bücher geht es auch hier thematisch um die Vergänglichkeit, ein Abgesang also auf Gewohntes, Liebgewonnenes. Aber das Besondere daran ist wieder die Sprache, in der da erzählt wird, dieses spezifische, rätoromanisch durchsetzte Camenisch-Idiom. Davon schwärmen besonders jene Leser, die den Autor in Lesungen selbst erlebt haben.

Handlungsort des Romans ist ein Kiosk in einem Dorf in der Surselva, der Talschaft des Vorderrheins in Graubünden. Mit seiner Leuchtreklame auf dem Dach ist er weithin sichtbar, und mit seiner Zapfsäule ist er auch die einzige Tankstelle im Ort, ein zentraler Treffpunkt für dessen Einwohner. Margrit und Rosa-Maria hatten ihn 1969, im Jahr der Mondlandung, eröffnet, und vor kurzem erst haben sie ihr fünfzigstes Jubiläum gefeiert. Die beiden inzwischen über siebzig Jahre alten Damen haben ihre festgelegten Rituale, vor allem halten sie ihren Kiosk blitzblank. Und es hat sich über die Jahre auch kaum etwas geändert an ihrem Tagesablauf, alles ist bestens eingespielte Routine. Über sich selbst geben sie rein gar nichts preis. Eine Familie haben sie wohl beide nicht, und ob sie Schwestern sind oder nur Freundinnen, das bleibt offen.

Dieses nostalgische Narrativ von einer Welt im Wandel wird allein dialogisch vorgetragen, durch das nicht abreißende, vor sich hinplätschernde Gespräch der Beiden an einem typischen Arbeitstag. Beginnend am frühen Morgen mit dem Aufschließen, Fegen des Bürgersteigs, Fensterputzen, Herauslegen typischer Mitnahmeartikel auf die breite Ablage am Fenster. Zu den historischen Ereignissen, über die da getratscht wird, gehört die Mondlandung, der Dreh für einen James Bond-Film mit Roger Moore, aber auch die Tour de Suisse. Die hatte nämlich einmal durch den Ort geführt, was heute nicht mehr möglich wäre, dafür ist die Dorfstrasse in einem viel zu schlechtem Zustand. Mit der Umgehungsstrasse ist dann auch das Geschäft zurückgegangen, aber es reiche ja noch für sie, sagen die Beiden. Einmal hatte eine Kundin mit einem Los von ihnen 500 Fränkli in der Lotterie gewonnen. Es gab auch Prominenz als Kunden, diverse Liebesgeschichten und Skandale werden da durchgehechelt, und Ereignisse wie Tschernobyl oder der Mauerfall in Deutschland sind noch gut in Erinnerung. Die Zwei reden über Hochwasser, Lawinen und den nicht mehr zu übersehenden Klimawandel. Früher war der Kiosk ja schon mal bis übers Dach zugeschneit, heute aber falle kaum noch Schnee. Am Kiosk flitzen jetzt ältere Damen auf ihren Elektro-Fahrrädern vorbei wie einst Eddy Merckx, und die prominenten Gäste schweben mit dem Helikopter ein. Bei allem Klatsch sind Margrit und Rosa-Maria jedoch äußerst diskret, kein Mensch wird je erfahren, welche Art von Lektüre der Pfarrer gelegentlich bei ihnen kauft.

Arno Camenisch hat seinen Dörflern als Chronist sich ändernder Zeiten sehr genau ‹aufs Maul geschaut›. Die beiden unentwegt schwätzenden, einfältigen Kiosk-Damen kommen vom Stöckchen zum Hölzchen in ihrem Tratsch. Denn der schließt letztendlich alles ein, vom belanglosen Dorfklatsch bis hin zum großen Weltgeschehen, das auch in diese alpenländische Idylle hineinwirkt. Es gibt keine Handlung, ihr Zwiegespräch wird auch von keinem Kunden unterbrochen, alles entwickelt sich in Rückblenden allein aus dem Dialog. Es wird also quasi in Echtzeit erzählt, man braucht als Leser für die knapp hundert Seiten dieses kleinformatigen Büchleins kaum zwei Stunden. Und da ist es bei den Damen, die zu Beginn der Geschichte morgens ihren Kiosk aufschließen, ja noch nicht mal Mittag. Dieses ironische Requiem auf den Kiosk als solchen ist mit seinem amüsanten, alpenländischen Idiom eine angenehm unterhaltende Lek

Bewertung vom 04.11.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


schlecht

Schwaches Büchlein

In dem neuen Roman «Der letzte Satz» greift der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler erneut den Tod als Thematik auf, wie schon in seinem vor zwei Jahren erschienenen Roman «Das Feld». Konträrer aber können zwei aufeinander folgende Romane eines Autors gar nicht sein, was ihre literarische Qualität anbelangt. Während der in jeder Hinsicht erstklassige Vorgänger mit seinen 29 verstorbenen Ich-Erzählern eine, wie ich es damals formuliert habe, «unpathetische Antwort auf die Sinnfrage» gibt, behandelt das neue Buch völlig uninspiriert das Siechtum des Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler. Der berühmte Musiker ahnt 1911, auf seiner letzten Schiffpassage von New York nach Europa, den nahen Tod voraus und denkt über die Höhen und Tiefen seines Lebens nach. Dabei listet dieser in jeder Hinsicht enttäuschende, schmale Band geradezu lexikalisch nüchtern hinlänglich bekannte Stationen im Leben des Protagonisten auf. Und daraus entsteht dann letztendlich nichts anderes als erzählerischer Kitsch, nicht bereichernd, abstoßend rührselig, völlig ereignis- und spannungslos obendrein!

Auf einer Kiste an Deck sitzend starrt Gustav Mahler sinnierend auf den grauen Atlantik, während er sein Leben rekapituliert. Ein Schiffsjunge, extra für ihn abkommandiert, sorgt sich um sein Wohlergehen. Er serviert ihm regelmäßig den Tee und achtet vor allem darauf, dass der oft fiebernde Passagier immer warm in seine Decke eingehüllt ist. Seine mitreisende Frau Alma und die innig geliebte Tochter Anna besuchen ihn nicht auf dem zugigen Sonnendeck. Das banale Geschehen auf dem Schiff dient hier lediglich als narratives Gerüst für Erinnerungen, Selbstgespräche und Träume des Fünfzigjährigen. In einem schon fast peinlichen Schlusskapitel schließlich liest der ehemalige Schiffsjunge in einer Hafenkneipe vom Tod des «Direktors», wie er ihn immer genannt hat.

Seinen Durchbruch hatte Gustav Mahler als Kapellmeister und Direktor des Wiener Opernhauses, das er in seiner zehnjährigen Tätigkeit zu großem Erfolg geführt hat. Der Weg war steinig dorthin, aber er habe seine Opernreform letztendlich ja durchsetzen können, stellt er befriedigt fest. Seine ihm immer wichtiger werdende kompositorische Arbeit aber musste er hintanstellen, er denkt mit Wehmut an sein Komponierhäusel zurück, wo er bis zuletzt in den spielzeitfreien Sommermonaten an seinen Sinfonien gearbeitet hat. Mit denen er dann aber bei weitem nicht den Erfolg hatte, den er sich erhoffte. Natürlich fehlt in seiner Rückbesinnung auch die ‹Sinfonie der Tausend› nicht, jene monströse Uraufführung vor dreitausend Besuchern in München, die ihm nun, ein Jahr später, eher peinlich ist. Er denkt an seine gescheiterte Ehe mit Alma, die als Femme fatale in den Wiener Salons und in Künstler-Kreisen von den Männern umschwärmt wird. Wehmütig erinnert er sich auch an seine Tochter Maria, die als Kind überraschend starb, und besonders niederschmetternd ist für ihn die derzeitige Affäre von Alma mit Walter Gropius, der im Roman nur als «Baumeister» bezeichnet wird. In Paris hatte Mahler sehr widerwillig bei Rodin Modell gesessen für eine Büste, und in der holländischen Stadt Leiden war er vier Stunden lang bei Siegmund Freud. Der aber konnte ihm letztendlich, wie er inzwischen weiß, mit seiner psychoanalytischen Expertise auch nicht weiterhelfen in seiner Seelenpein.

«Meine Zeit wird kommen» hatte Gustav Mahler vorausgesagt, und sie kam dann auch, Jahrzehnte später allerdings, mit der Wiederentdeckung seiner Sinfonien lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Robert Seethaler aber bleibt hier weit unter seinen Möglichkeiten, entschieden zu oberflächlich und erzählerisch geradezu lieblos hingeschludert wirkt dieser schmale Band. Die starke Persönlichkeit, die ihm da als literarische Vorlage dient, bleibt auch in den Rückblenden als Figur leider völlig konturlos. Nach Lektüre dieses schwachen Büchleins mag man wirklich kaum glauben, dass vom gleichen Autor auch «Das Feld» geschrieben wurde!

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Bewertung vom 03.11.2020
Streulicht
Ohde, Deniz

Streulicht


schlecht

Durchs Raster gefallen

Als literarischer Senkrechtstarter erweist sich der kürzlich erschienene Debütroman «Streulicht», mit dem Deniz Ohde erstmals an das Licht einer breiteren Öffentlichkeit getreten ist. Prompt wurde er nämlich für den Preis der Frankfurter Buchmesse nominiert und landete schließlich sogar auf der Shortlist. Es handelt sich um einen klassischen Bildungsroman, dessen Besonderheit darin liegt, dass seine der Autorin in einigen Punkten autobiografisch ähnelnde Ich-Erzählerin durchs Raster gefallen ist. «Wenn’s nichts wird, kommst wieder heim» lautet denn auch resignativ der letzte Satz. Coming-of-Age also ganz ohne Fortune!

Die namenlose Protagonistin erzählt als Erwachsene anlässlich eines Besuchs an der Stätte ihrer Jugend ihre Lebensgeschichte. Sie wird als Kind einer türkischen Putzfrau und eines deutschen Fabrikarbeiters in Frankfurt am Main geboren, ganz in der Nähe des Industrieparks Hoechst. Ihre Aufstiegschancen aus den prekären Verhältnissen im bildungsfernen Elternhaus sind gering. Sie ist schüchtern bis hin zur Verstocktheit und wird zudem von diffusen Ängsten beherrscht. Obwohl sie Deutsche ist, wie ihre Mutter immer wieder betont, leidet sie unter dem Stigma, Tochter einer Türkin aus dem hintersten Anatolien zu sein, aus einem armseligen Dorf am Schwarzen Meer. Sie rasiert sich also die Monobraue, um nicht als Türkin zu gelten, und gibt immer nur ihren zweiten, den deutschen Vornamen an, wird aber trotzdem schon früh von den anderen Kindern gehänselt. «Frau A-?» fragt im Buch ein Chef die Heldin beim Empfang zu einem Bewerbungsgespräch, ihre Namenlosigkeit wird eisern durchgehalten im Roman. Ihr Vater ist lebenslang in der chemischen Fabrik als einfacher Arbeiter mit immer der gleichen, stupiden Tätigkeit beschäftigt. Ein äußerst eintöniges, trostloses Arbeitsleben also, das er mit viel Alkohol und stoischer Ruhe erträgt. Wie schon der Großvater ist er ein typischer Messi, der sich von nichts trennen kann, dessen Wohnung immer mehr vermüllt, deutliches Anzeichen für eine pathologische Entscheidungs-Schwäche.

Kein Wunder, dass die Tochter als unterprivilegiertes «Kellerkind» in dem Glauben, weniger wert zu sein als alle anderen, in der Schule häufig scheitert. Sie wird überall ausgegrenzt und hat außer Sophia und Mikka keine Freunde. Gleichwohl kämpft sie sich tapfer auf dem Umweg über die Abendschule bis zum Abitur durch, erreicht einen hervorragenden Notenschnitt und beginnt zu studieren. Auf der Uni lernt sie dann einen Kommilitonen kennen, der erste Freund der inzwischen über Zwanzigjährigen. Mit dem sie dann sogar im Bett landet, erst- und einmalig aber, muss vermutet werden. Mehr erfährt man nämlich nicht in dieser radikal sexfreien Geschichte. Sie ist und bleibt eine verklemmte junge Frau, deren Fremdheitsgefühl manifest zu sein scheint. Beim Erzählen aus ihrem Leben verliert sich die Protagonistin in endlosen Betrachtungen der trostlosen Umgebung und der chaotischen elterlichen Wohnung.

Diffus, wie es schon der Buchtitel andeutet, von der geraden Bahn abgelenkt also, ist nicht nur das Licht an dem vom ewigen Industrie-Smog geplagten Handlungsort, diffus ist auch die Erzählweise dieses Romans. Der Lebensweg seiner von äußeren Negativ-Zuweisungen geschädigten Protagonistin wird nämlich in allzu vielen sprunghaften Rückblenden erzählt. Wobei besonders die dauernden Wiederholungen immer der gleichen Szenarien und schmerzenden Gefühle den Leser schnell ermüden. Die von Hoffnungslosigkeit und Entmutigung gebeutelte, bindungslose Außenseiterin wirkt als Figur wenig überzeugend, was gleichermaßen für die Figurenrede gilt. Eine unterprivilegierte Herkunft ist auch das Thema von Nicolas Mathieu, dessen Roman «Wie später ihre Kinder» die daraus resultierende soziale Schieflage allerdings vehement anprangert. Was bei Deniz Ohde nur als hilflose Frage im Raum stehen bleibt: «Wie konnte dieses Kind durchs Raster fallen?», darauf gibt ihr französischer Kollege eine klare Antwort.