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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Xirxe
Wohnort: 
Hannover
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 869 Bewertungen
Bewertung vom 03.03.2019
Ein wirklich erstaunliches Ding
Green, Hank

Ein wirklich erstaunliches Ding


sehr gut

Mitten in der Nacht entdeckt die Hauptperson und Ich-Erzählerin April im Zentrum New Yorks plötzlich eine riesige metallische Roboterstatue. Gemeinsam mit ihrem besten Freund Andy macht sie ein Video, sie stellen es ins Netz und gehen schlafen. Als April am nächsten Mittag erwacht, ist sie bereits ein Star: die junge Frau und Carl, die Statue, die auch in 63 weiteren Städten weltweit aufgetaucht ist. Fortan hat sie eine Mission, die sie versucht der Welt zu vermitteln: Wer immer Carl ist, er ist friedlich und will nur das Beste für die Menschen. Doch bald gibt es Gegner und als Carl ungewöhnliche Dinge bewirkt, werden die Dispute immer gefährlicher, nicht nur für April.
Auch wenn es nirgendwo auf dem Buch vermerkt ist (zumindest habe ich nichts gefunden), es ist ein Jugendbuch. Die Protagonistin ist 23 Jahre alt und hat den für ihr Alter (vielleicht eher etwas jünger) flapsigen Ton, den ich zu Beginn recht erfrischend und amüsant fand. Doch nach ca. 250 Seiten wiederholt sich so Manches einfach zu häufig, sodass ich begann, gewisse Ermüdungserscheinungen zu entwickeln. Was aber durchaus damit zu tun haben könnte, dass ich schlicht nicht die Zielgruppe dieser Lektüre bin ;-) Auch die Verhaltensweisen von April und ihren FreundInnen entsprechen sicherlich dem Bild, was man sich von VertreterInnen dieser Altergruppe aktuell macht: schlecht bezahltes Arbeiten in einem der unzähligen Startups; idealistisch, aber auch nicht zu sehr; konsumkritisch, doch nicht abgeneigt; und selbst Minderheiten und ihre Schwierigkeiten finden Erwähnung.
Die Geschichte selbst ist mehr unterhaltsam als spannend und zeigt mir etwas zu oft, wie ich finde, den erhobenen Zeigefinger. Schnell wird deutlich, dass es in diesem Buch um die Spaltung der Gesellschaft geht, wie sie sich aktuell in vielen Staaten zeigt, insbesondere in den USA. Immer wieder wird unmissverständlich dargestellt, wie wichtig und von welchem Vorteil es ist, wenn die Menschen gemeinsam und nicht gegeneinander ihre Ziele verfolgen. Vielleicht ist es in einem Jugendbuch notwendig, dies mehrfach zu wiederholen. Als erwachsene Leserin ging es mir irgendwann jedoch auf die Nerven.
Nichtsdestotrotz hat die Geschichte ihren Reiz und ich als Nichtzielgruppenmitglied würde gerne wissen, wie es weitergeht. Denn bei so einem Cliffhanger muss ja ein zweiter Band folgen. 3,5 Sterne.

Bewertung vom 03.03.2019
Worauf wir hoffen
Mirza, Fatima Farheen

Worauf wir hoffen


gut

Die junge Laila aus Pakistan heiratet auf Wunsch ihrer Eltern Rafik, der in die USA ausgewandert ist. Dort leben sie, bekommen drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, und haben mehr oder weniger ähnliche Freuden und Sorgen wie andere Eltern auch. Beide sind gläubige Muslime und sie erziehen ihre Kinder in diesem Sinne. Doch insbesondere Amar, der Jüngste, lehnt sich dagegen auf und stellt sämtliche Werte und Überzeugungen seiner Eltern in Frage. Sein Vater, bereits von vornherein streng und autoritär, reagiert auf seine Respektlosigkeiten noch rigoroser, sodass die Zusammenstöße immer heftiger werden.
Gegliedert ist das Buch in vier Teile, wobei zwei von der Hochzeit der ältesten Tochter berichten, der letzte wie eine Art Brief des Vaters an seinen Sohn wirkt und der zweite die Vergangenheit der Familie beschreibt. Besonders mit diesem Teil hatte ich so meine Schwierigkeiten: Die einzelnen Abschnitte, die chronologisch nicht aufeinander aufbauen, umfassen stets nur wenige Seiten über ein Geschehnis mit jeweils einer anderen Hauptfigur. Ein Beispiel: Es beginnt mit einem Ausflug zum Vierten Juli, als die älteste Tochter Hadia sieben Jahre ist. Danach folgt eine Szene aus der Zeit, als Laila noch unverheiratet in Pakistan lebt. Weiter geht es mit Hadia, ca. 11 Jahre, die sich in der Schule um ihren Bruder kümmert und sich an etwas erinnert, das ungefähr zwei Jahre zurückliegt. Und es folgt ein Fest, bei dem Amar um die 16 Jahre alt ist. Durch diese bruchstückhafte Erzählweise blieben mir die Personen fremd und die Spannung, wie es mit den Mitgliedern dieser Familie weitergeht, ließ immer mehr nach.
Die Autorin hat einen zarten, stellenweise fast schon poetischen Stil und schreibt Sätze, die immer wieder zum Nachdenken und Auswendiglernen anregen. 'Wie kann man wissen, welche Momente einen Menschen prägen?' oder 'Was bedeutet Scham? Dass man sein Gesicht nicht zeigen kann. Dass man davor Angst hat.'
Auch wenn dieses Buch stark von der Religion dieser Familie geprägt ist (man sollte auf viele islamische Ausdrücke und Gebräuche vorbereitet sein), ist diese Geschichte dennoch auch in jeder anderen Konstellation denkbar, in der Werte und Tradition aus Gewohnheit übernommen und gelebt werden. Wäre die Lektüre nicht so ein ständiges Hin und Her gewesen und hätte es zudem noch ein Glossar mit Erklärungen der islamischen und pakistanischen Begrifflichkeiten gegeben, hätte mich dieses Buch vermutlich ziemlich begeistert. So jedoch bleibt es bei einem 'Ganz ok'.

Bewertung vom 17.02.2019
Roter Rabe / Max Heller Bd.4 (1 MP3-CD)
Goldammer, Frank

Roter Rabe / Max Heller Bd.4 (1 MP3-CD)


gut

Dresden 1951. Max Heller, Kommissar, verabschiedet seine Frau nach Köln, wo sie den gemeinsamen Sohn besuchen wird. Viel Zeit sie zu vermissen hat er nicht, denn kurz danach gibt es einen neuen Fall: Zwei Zeugen Jehovas sind in ihrer Untersuchungszelle gestorben - Selbstmord? Heller beginnt mit seinen Nachforschungen und plötzlich scheint es jeden Tag Tote zu geben - alles wirklich nur Selbstmorde? Er selbst scheint überwacht zu werden, sein Chef wirkt verängstigt, und ein Freund von früher, der nun beim Geheimdienst ist, deutet an, dass die Gefahr einer Atombombenzündung bestehe.
Die Geschichte ist derart verwickelt, dass ich fast bis zum Ende keine Zusammenhänge herstellen konnte. Da sterben Zeugen Jehovas, ein Notar, ein Grundbuchbeamter, ein Ingenieur, ein altes Ehepaar undundund - und nirgendwo ein roter Faden (vom Raben ganz zu schweigen ;-)). Vielleicht gestaltet es sich beim Lesen etwas einfacher, beim Hören war ich auf jeden Fall sehr gefordert, um den ganzen Todesfällen, möglichen Verdächtigen und diversen Spekulationen noch folgen zu können. Eine richtige Herausforderung, die von Heikko Deutschmann durchaus spannend vorgetragen wurde.
Bemerkenswert ist die Darstellung Dresdens in jener Zeit. Dem Autor gelingt es, die Atmophäre der damaligen DDR überzeugend und bildhaft zu übermitteln, sodass ich während des Hörens geradezu das Gefühl hatte, diese Zeit gemeinsam mit den Handelnden zu erleben.
Doch es sind ein bisschen viele lose Fäden, die in dieser Geschichte miteinander verwoben werden. Nicht nur die große Zahl an Todesfällen, die zu klären sind und ein eventueller Uranerzschmuggel; hinzu kommen noch jede Menge Schwierigkeiten im privaten Bereich von Max Heller sowie die Probleme seines Kollegen Oldenbusch. Fiel es mir schon schwer, nicht den Überblick über all die Geschehnisse zu verlieren, war es am Ende dann jedoch endgültig vorbei. Mir fehlten schlicht einige Aufklärungen über das Wie, Warum und Weshalb, wobei es natürlich auch sein kann, dass ich es einfach überhört habe. Doch all die verschiedenen Baustellen, auf denen Heller zu kämpfen hatte, waren für meinen Geschmack ein paar zuviel. Mal wieder gilt: Etwas weniger wäre deutlich mehr gewesen.

Bewertung vom 17.02.2019
Cat Person
Roupenian, Kristen

Cat Person


ausgezeichnet

12 Geschichten, die teilweise unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Großteil sind überaus realitätsgetreue Erzählungen, wie sie sich jederzeit in unserer unmittelbaren Umgebung ereignen könnten; daneben gibt es ein Märchen sowie Geschichten, die gekonnt die Balance zwischen Phantasie und Realität halten. Das Bemerkenswerte an den Meisten ist die unglaubliche Dynamik, die entwickelt wird, sodass man atemlos Seite um Seite liest und kaum glauben kann, was sich hier ereignet. Meist jüngere Menschen, die überzeugt davon scheinen zu wissen, was ihr Gegenüber denkt und ihr Handeln danach ausrichten, sodass sie sich in Situationen hineinmanövrieren, aus denen sie kaum noch herauskommen bzw. deren Nachwirkungen sie auch noch nach Jahren spüren. Die Dinge tun, von denen sie nie gedacht hätten, dass sie dazu nie in der Lage wären, aber durch welche Umstände auch immer dazu gebracht wurden.
Die Autorin schildert das Innenleben ihrer jeweiligen ProtagonistInnen derart intensiv und detailliert, dass man die Angst, Furcht und den Ekel regelrecht miterlebt. Und in den 'normalen' Geschichten beschreibt sie so überzeugend die Geschehnisse, dass wohl fast Alle das Geschriebene bis ins Detail nachvollziehen können.
Für empfindsame Gemüter ist dieses Buch vermutlich nicht so ganz geeignet, aber für mich war es eine richtig klasse Sammlung von Kurzgeschichten, einem Genre, mit dem ich bisher nur wenig anfangen konnte.

Bewertung vom 17.02.2019
Nacht über dem Bayou / Dave Robicheaux Bd.9
Burke, James Lee

Nacht über dem Bayou / Dave Robicheaux Bd.9


ausgezeichnet

Ein verurteilter Mörder bittet Dave Robicheaux um Hilfe, da er zu Unrecht verurteilt worden sei. Gleichzeitig beginnt ein Filmteam eine Dokumentation über diesen Fall zu drehen, da es offenbar Ungereimtheiten gibt. Schnell ist klar, dass der kommende Gouverneur LaRose alles andere als begeistert über dieses Engagement ist, was Daves Interesse erst richtig weckt. Als er sich intensiver mit LaRose beschäftigt, begegnet er einer früheren Geliebten wieder, die offenbar noch eine Rechnung offen hat mit ihm und mit ihrem Ehemann LaRose einiges zu verbergen scheint.
Auch dieser 9. Band spielt im tiefen Süden der USA, in den Sümpfen Louisianas. Wie zu erwarten gelingt es Burke erneut, die spezielle Atmosphäre dieser Gegend so intensiv zu vermitteln, dass man sie beim Lesen praktisch vor sich sieht (sollte ich jemals in dieser Gegend Urlaub machen, werde ich die Bücher Burkes im Handgepäck haben). Seine Beschreibungen sind intensiv und bildhaft, aber nie ausufernd oder langatmig ("Die Bogenfenster waren noch mit den ursprünglichen Eisenläden verschlossen, an denen orangefarbene Rostschlieren herunterliefen wie Blut aus einer Wunde."), was sich auch auf die Darstellung der Menschen bezieht, die in seinen Romanen eine Rolle spielen ("Er hatte lange Haare, wie ein Indianer aus dem 19. Jahrhundert, das Gesicht war unrasiert, die Haut dunkel und körnig, wie mit schwarzem Pfeffer eingerieben.").
Bemerkenswert ist, dass Burke seine Figuren stets so differenziert beschreibt, dass eine klare Schuldzuweisung selbst am Ende nicht einfach ist. Immer wieder wird deutlich gemacht, dass es nicht nur Gutes und Böses, Schwarz oder Weiß gibt, sondern eine Menge an Zwischentönen, die allzu häufig nicht beachtet werden.
Ach ja, der Fall selbst ist natürlich packend und spannend mit schnellen Szenewechseln, die konzentriertes Lesen voraussetzen. Ansonsten muss man sich einen Abschnitt nochmal vornehmen - was bei einer solchen Lektüre aber wohl nicht so schlimm ist ;-)

Bewertung vom 17.02.2019
Wallace
Oelze, Anselm

Wallace


sehr gut

Den meisten Menschen der Welt, die das Glück hatten und haben, eine Schule besuchen zu dürfen, ist Charles Darwin vermutlich ein Begriff. Der Begründer der Evolutionstheorie. Weniger bekannt dürfte den Meisten hingegen Alfred Russell Wallace sein, der praktisch parallel zu den gleichen Ergebnissen gelangte, mit denen zeitlebens Charles Darwin verbunden ist.
Als Alfred Bromberg, Nachtwächter im Museum für Natur- und Menschheitsgeschichte, zufällig auf ein Foto von Wallace stößt und von einem befreundeten Antiquar dessen Lebensgeschichte erfährt, beginnt er auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, ob Darwins Ruhm nicht eigentlich Wallace zusteht. Kann er, Bromberg, ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen?
Abwechselnd zu Brombergs Geschichte wird auch von Wallaces Leben erzählt, seinen Reisen nach Südamerika wie auch Asien. Der Autor besitzt einen herrlichen, leicht altertümlich liebenswürdigen Stil, der einem praktisch die gesamte Lesezeit ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Ein richtiger Lesegenuss! („Umringt von den Kindern räumte er seine Kisten an Land. Ein kleines, langhaariges Mädchen befühlte zaghaft den groben Stoff seiner Hose, ein anderes grub, während er sich nach unten beugte, vorsichtig ihr dünnes Händchen in das haarige Knäuel unter seinem Kinn.“ Oder „… (er) wünschte, es würde sich in diesem Moment seine Diarrhö bemerkbar machen. Mit jenem Grummeln im Unterleib, das von außen so klang und sich von innen so anfühlte, als braue sich ein Gewitter zusammen.“)
In den Erzählungen über die beiden Männer finden sich neben manch naturwissenschaftlichen Abhandlungen (die problemlos zu lesen und zu verstehen sind) auch Exkurse zu philosophischen Gedanken: Was ist Gerechtigkeit? Gibt es sie überhaupt? Ist ein Mensch mehr wert als der andere? Stets sehr anschaulich und unterhaltsam geschrieben, was bei solchen Themen nicht unbedingt selbstverständlich ist.
Dennoch störte mich etwas. Die Beziehung Brombergs zu Wallace leuchtete mir während des Lesens immer weniger ein. Mir blieb unklar, weshalb diese historische Persönlichkeit einen solch großen Einfluss auf Brombergs Leben zu nehmen beginnt. Und so empfand ich den Zusammenhang der beiden Geschichten immer weniger glaubwürdig, fast schon aufgesetzt. Schade, denn beide Teile für sich genommen sind überaus lesenswert! Nichtsdestotrotz bleibt es eine empfehlenswerte Lektüre.

Bewertung vom 28.01.2019
Fünf Tage im Mai
Hager, Elisabeth R.

Fünf Tage im Mai


sehr gut

Sieben Jahre alt ist Illy, die Ich-Erzählerin, als das Buch an einem Maitag beginnt; 25 Jahre, als es wiederum an einem Maitag endet. Dazwischen treffen wir sie an drei weiteren Tagen im Mai, an denen sich wie auch am Anfang und Ende Dinge ereignen, die Auswirkungen haben auf Illys künftiges Leben.
Es ist eine Idylle, die fast zu schön ist um wahr zu sein. Die kleine Illy, geliebt und umsorgt nicht nur von ihren Eltern, sondern besonders von ihrem Urgroßvater Tat'ka, der immer für sie da ist und Zeit hat, ihr zuzuhören; sie besser versteht als ihre Eltern, auch als sie älter wird. Doch die Idylle bekommt mit dem Älterwerden Illys Risse und als ein entsetzliches Unglück geschieht, scheint für sie die Welt nur noch grau in grau zu sein. Aber Tat'ka steht ihr auch jetzt zur Seite, mit seinen fast 100 Jahren.
Es ist ein sehr gefühlvolles Buch, mit viel Liebe für diesen wundervollen Urgroßvater, der in jeder Hinsicht ein Vorbild war für die kleine und auch große Illy. Man liebt und leidet mit der Ich-Erzählerin mit, so sehr, dass gelegentlich ein, zwei Tränen fließen können.
Ab der zweiten Hälfte des Buches nimmt jedoch die Zuneigung der Autorin zu gefühlvollen und bildhaften Darstellungen und Vergleichen für meinen Geschmack etwas überhand. "Vom Alkohol genährt, wuchs der Hass ins Unermessliche und nahm den klugen Menschen, der er war, in Geiselhaft." oder "Ich saß im Auto wie ein schlecht gestochenes Piercing, das über kurz oder lang aus dieser fröhlichen Gemeinschaft herauseitern würde." brachten mich mehr zum Lachen oder Gruseln, als dass ich mit der Ich-Erzählerin mitfühlen konnte.
Doch alles in allem ist es für ein erstes Buch (ist es doch, oder?) nicht schlecht und macht Lust, mehr von dieser Autorin zu lesen.

Bewertung vom 19.01.2019
Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2
Lemaître, Pierre

Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2


ausgezeichnet

Vorab: Dies ist kein kleiner Unterhaltungsroman, den man so zwischendurch liest. Es sind knapp 500 Seiten mit vergleichsweise kleiner Schrift und kaum leerem Raum dazwischen. Dazu springt die Geschichte zwischen einer Reihe Personen hin und her, sodass man ein gebündelt Maß an Aufmerksamkeit fürs Lesen mitbringen sollte. In diesem Fall erwartet einen ein fesselnder und grandioser Schmöker, den man kaum aus der Hand legen mag. Zumindest mir ging es so ;-)
Die geschiedene Madeleine Péricourt ist (bis auf ihren siebenjährigen Sohn Paul) die letzte Nachkommin einer vermögenden Bankiersfamilie. Da Paul während der Beerdigung seines Großvaters aus dem Fenster springt und nur schwerst verletzt überlebt, kümmert sie sich nicht weiter um die Geschäfte ihres Erbe, sondern widmet sich ausschließlich der Pflege ihres Sohnes. Doch direkt um sie herum werden Intrigen gesponnen und bringen sie um fast ihr gesamtes Vermögen. Doch Madeleine gibt sich nicht geschlagen und schmiedet einen perfiden Racheplan.
Neben Madeleines Geschichte erfährt man fast beiläufig auch von der Atmosphäre und den Geschehnissen im Frankreich der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts: die Krisenjahre mit den schnell wechselnden Regierungen; die Käuflichkeit der Presse; die Ablehnung des Staates durch die Eliten. Geschickt verbindet der Autor historischen Hintergrund und Fiktion, sodass ein eindrucksvolles Sittengemälde jener Zeit entsteht.
Diese an sich schon fesselnde Geschichte erhält durch den besonderen Stil von Pierre Lemaitre noch einen zusätzlichen Reiz. Als allwissender Erzähler beschreibt er auf eine leicht ironisch-spöttische Weise die Geschehnisse und bezieht die Lesenden mit einer gelegentlichen direkten Ansprache mit ein, als säße er uns unmittelbar gegenüber. Dadurch ensteht ein lockerer und ungemein unterhaltsamer Tonfall, der es einem erlaubt, sich voll und ganz auf die verschiedenen Personen zu konzentrieren, von denen es nicht gerade wenige gibt.
Ein toller Roman, spanned und fesselnd wie ein Krimi!

Bewertung vom 14.01.2019
nichts, was uns passiert
Wilpert, Bettina

nichts, was uns passiert


ausgezeichnet

Juli 2014: Hannes feiert bei Jonas im Garten seinen Geburtstag. Es herrscht gute Stimmung, wie so häufig wird viel zu viel getrunken. So viel, dass Anna nicht mehr richtig gehen kann und von Hannes und dem ebenfalls sehr betrunkenen Jonas in dessen Bett getragen wird, um dort ihren Rausch auszuschlafen. Als sie aufwacht, registriert sie, immer noch betrunken, dass Jonas ihr die Hose auszieht und trotz ihres Protestes in sie eindringt. Anna schläft danach wieder ein, verschwindet am Morgen lautlos aus der Wohnung und erstattet zwei Monate später gegen Jonas Anzeige wegen Vergewaltigung.
Liest man Annas Geschichte aus ihrer Sicht, scheint die Sache klar zu sein. Doch so einfach macht es sich die Autorin nicht. Sie schiebt eine dritte, unbenannte Person zwischen die Lesenden und die jeweils erzählende Figur, die wie bei einer Reportage die Beteiligten befragt. Nicht nur Anna und Jonas, der eine völlig andere Erinnerung an diese Nacht hat, sondern auch Freunde und Freundinnen, Bekannte, Verwandte usw. Dadurch entwickelt sich aus dem scheinbar klaren Tatvorwurf der Vergewaltigung ein differenziertes Bild, das beim Lesen immer wieder aufs Neue die unterschiedlichsten Gefühle und Überlegungen entstehen lässt. Hier eine eindeutige Schuldzuweisung zu formulieren, gestaltet sich mit zunehmender Seitenzahl zusehends schwieriger.
Auch das Gesetz, das wohl mehr einem Schwarz-Weiß-Denken geschuldet ist (Vergewaltigung = Einsatz von Gewalt und einvernehmlicher Geschlechtsverkehr), kommt bei einem solchen Sachverhalt an seine Grenzen. Die große Grauzone, zu der auch der hier erzählte Vorfall gehört, bleibt davon ausgespart.
Eine einfache Lösung gibt es nicht, denn egal wie Gesetze formuliert werden, es steht Aussage gegen Aussage. Und das Grundproblem, dass Alkohol Schranken fallen lässt, von denen man vorher nicht einmal wusste, dass sie existieren, wäre damit immer noch nicht gelöst.
Ein sachliches, gut zu lesendes Buch, das sehr zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 14.01.2019
Herr Kato spielt Familie
Flasar, Milena Michiko

Herr Kato spielt Familie


sehr gut

Irgendwann ist es soweit: der lang ersehnte Ruhestand! Aber vielleicht ist er doch nicht so sehr ersehnt? Für die namenlose Hauptfigur dieses Buches ist es eine Zäsur, denn von einem Tag auf den anderen ist er ein Niemand. Eine unwichtige Person, die von niemandem gebraucht wird. Seine Frau schickt ihn aus dem Haus, damit er aus dem Weg ist; im Büro ruft er nicht an aus Angst, man könne sich nicht an ihn erinnern. Für die Dinge, die er sich vorgenommen hat (Radio reparieren, Plattensammlung sortieren), fehlt ihm der Elan; vielleicht auch, weil er keinen Sinn darin sieht. Doch am Meisten erschreckt ihn die Beziehungslosigkeit, in der er lebt. Seine Ehe ist schon lange ein Neben- statt ein Miteinander, mit seinen Kindern hat er kaum Umgang, und außer zu einem Obdachlosen in der Nachbarschaft gibt es keine regelmäßigen Kontakte. Doch er sucht die Ursachen dafür nicht bei sich, sondern versucht mit Disziplin eine Regelmäßigkeit in sein Leben zu bringen, das ihm wieder Sinn verleiht - ohne Erfolg. Erst als er der jungen Mei begegnet, die ihm das Angebot macht, in ihrer Agentur als Familienmitglied für Andere kurzzeitig vermittelt zu werden, beginnt sich seine Einstellung und damit auch sein Leben zu ändern.
Es ist eine kleine Geschichte (nicht einmal 160 Seiten), die dennoch einige der Schwierigkeiten, mit denen viele Menschen zu kämpfen haben, überdeutlich macht. Die Konzentration auf die Arbeit (das scheinbar Wichtigste), die keine Zeit lässt, sich noch mit Anderem zu beschäftigen; die daraus entstehende Gleichgültigkeit selbst gegenüber den nächsten KollegInnen (man hat ja keine Zeit); die Problematik, Gefühle zuzulassen, nachdem man selbst schwer verletzt wurde; zu leben ohne dass es immer einen Sinn machen muss, einfach weil es schön ist. Das Buch bietet keine Lösungen an, sondern zeigt in einer liebenswerten Form, wie sich aus kleinsten Veränderungen der Einstellung oder Sichtweise Dinge beginnen, sich anders zu entwickeln als auf die sonst gewohnte Art.
Der Schreibstil der Autorin ist etwas ungewohnt: Der Protagonist erzählt nicht einfach das Geschehene, sondern als Lesende folgt man meist seinen Gedanken, die, wie Gedanken nun mal so sind, nicht immer chronologisch daherkommen, sondern mal hierhin, mal dorthin springen; mal in kurzer, mal in langer Form. Ich habe mich schon nach wenigen Seiten ohne Schwierigkeiten daran gewöhnt und finde diesen Stil im Nachhinein sehr gelungen.
Eine kleine feine Geschichte, die auf gelungene Weise unter anderem so Manches im (vielleicht eigenen?) Leben ganz behutsam in Frage stellt.