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Juti
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Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 02.05.2022
Eine runde Sache
Gardi, Tomer

Eine runde Sache


weniger gut

Wo ist Christine Westermann?

Wieso bekommt ein Roman in schlechtem Deutsch einen Preis. Offenbar haben die gelehrten Literaturkritiker die Nase voll von unserer Schriftsprache. Dann hört man Sätze wie „Der Autor geht spielerisch mit der Sprache um.“ Aber ich will fragen, welchen Mehrwert das schlechte Deutsch hat? Hätte es die erste Geschichte ins Buch geschafft, wenn sie korrekt geschrieben wäre? Gut, der Witz des Schäferhundes, der wegen der Maulkorbvagina nur den Vokal „ü“ kennt, wäre vielleicht schwächer, aber sonst.

Da lobe ich mir Christine Westermann, die – zwar längst nicht so rhetorisch geschliffen wie die anderen Literaten – immer die Leserinnen mit im Auge hatte. Welcher Leser will denn einen Text lesen, der klassisch ausgedrückt von Fehlern nur so wimmelt? Mit Frau Westermann in der Leipziger Jury hätte dieses Buch keinen Preis bekommen.

Will der Autor einen Migrantenbonus? Ich wünsche ihm lieber eine Lektorin, die den ersten Teil lesbar macht. Dann rätseln die Kritiker, wie beide Teile zusammenhängen. Ich möchte darauf hinweisen, dass auch im zweiten Teil der Buchstabe e sehr häufig vorkommt.

Immerhin ist die zweite historische Geschichte von Indonesier Saleh, der für die niederländischen Kolonialherren nach Europa kommt nicht ganz uninteressant, wenn auch nur die Geschichte um die Erfindung des Dampfmotor bei Schiffen und bei der Eisenbahn mich wirklich vom Hocker rissen. Immerhin kann ich so guten Gewissens 2 Sterne vergeben.

Bewertung vom 26.04.2022
Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
Kermani, Navid

Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen


ausgezeichnet

Einführung in die Theologie

Was wie ein Sachbuch klingt, wird dank der Kunst des Autors zu großen Literatur. Kermani erklärt seiner Tochter seine Religion mit sehr viel Witz. Er weist aber auf den Irrtum hin, dass die Theologie nur die Erklärung, nicht die Religion sei (vgl.66).

Zunächst behandelt er unterschiedliche Gottesbilder, sei es die große Unendlichkeit im Weltall oder die kleine in der Quantenphysik, sei es sein Wirken in der Natur, bis hin zur Vorsicht mancher Sufis keine Ameise zu zertreten, sei es der Atem der uns lebendig macht. „ ‚Geist‘ oder ‚Atem‘ wäre[..] eine Umschreibung von Gott“ (19). In anderen Sprachen wird nämlich zwischen Geist und Atem nicht getrennt.

Kermani erklärt den Islam, der anstatt vom Bekenntnis lieber vom Zeugnis spricht und auf fünf Säulen beruht: die Einheit Gottes, das Prophetentum, die Vernunft, die Gerechtigkeit und dem Auferstehungsglauben. Glaube sei Dankbarkeit (192).

Er würzt seine Erklärungen mit zahlreichen Anekdoten, die titelgebende ist oft zitiert. Ich erinnere daher an den Rabbi, zu dem zwei streitende Männern zur Schlichtung kamen. Er gab beiden Männern recht. Da rief seine Ehefrau aus einem Nebenraum, er können nicht beiden recht geben. Nach langem Überlegen gab der Rabbi auch ihr recht (35).

Fundamentalismus lehnt der Kölner klar ab. Er zitiert einen Gelehrten, der Koran sei nur eine Schrift zwischen zwei Deckeln, erst die Menschen bringen ihn zum Sprechen (38).
Nach etwa 80 Seiten beginnt die inhaltliche Diskussion, vor allem im Vergleich zum Christentum. Der Mensch werde im Islam nicht als Ebenbild, sondern als Stellvertreter oder Nachfolger Gottes geschaffen. Gott nur als Barmherzigen zu sehen, verengt das Gottesbild, wenngleich religiöse Opfer kritisch zu sehen sind.

Sein Christentum ist aus Kölner Sicht katholisch. So bezeichnet er das Christentum als Religion der Bilder, vergisst also die Calvinisten, und bezeichnet den Islam sinngemäß als Religion des Wortes. Kermani schreibt, dass er vom Theologen Graf beraten wurde, aber die christliche Erbsünde (172) hätte ich ihm besser erklären können. Sie ist eher eine Erblast als eine Sünde.

Er spricht sich gegen eine Änderung der Texte in eine geschlechtergerechte Sprache aus (167), vor allem, weil man nicht wisse, was man in Zukunft alles ändern müsse, wenn man einmal damit anfinge. Und er lobt Goethe für seine Marienbader Elegie und seinen Diwan für sein Islamverständnis und interpretiert seine „Talismane“.

Der Autor wundert sich, dass wir von Kalifin sprechen müsste, weil das Wort im Arbabischen seltsamerweise weiblich ist. Die Mystekerin Rabia wird zitiert: „Ich will die Hölle löschen und das Paradies verbrennen, damit Gott nur noch für seine ewige Schönheit geliebt wird.“ (207) und ich schließe mit Carl Friedrich von Weizsäcker, der über die Bibel sagte, was auch für den Koran gilt: „Du kannst den Koran entweder ernst nehmen oder wörtlich.“ (210)

Obwohl ich gerade die christliche Religion einige Unklarheiten enthält – ich möchte das Wort Fehler nicht in den Mund nehmen – habe ich über den Islam so viel gelernt, dass ich an 5 Sternen nicht vorbei komme.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.04.2022
Ungläubiges Staunen
Kermani, Navid

Ungläubiges Staunen


ausgezeichnet

Theologie mit Kunstgeschichte

Auch nach Jahren ist mir dieses Buch noch in Erinnerung. Der Autor
beschreibt religiöse Bilder und verbindet so die Kunstgeschichte mit der Theologie.

Alle Kapitel sind interessant, ich erinnere mich aber besonders an die Opferung des Isaak, bei der der Engel dem Vater Abraham mit einem kleinen Fingerzeig deutlich macht, dass er nicht seinen Sohn opfern soll.

Ferner fällt mir die Auferweckung des Lazarus ein, der eigentlich gar nicht auferweckt wollte. Kermani lud mich quasi zur zweiten Lektüre der Perikope ein. In der Tat würde ich diese Geschichte heute als biblische Satire bezeichnen.

Wenn ein Buch es schafft, Bekanntes aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten, dann sind volle 5 Sterne gerechtfertigt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.04.2022
Die Woche
Geißler, Heike

Die Woche


schlecht

Zerrissene Erzählung

Da fahre ich zweimal in unsere Hafenstadt Mannheim zur „Lesen“ und zweimal schwätzt Insa Wilke von diesem Buch. Ich lese also den als Geheimtipp gehandelten „Roman“. Die FAZ setzt es zurecht in Gänsefüßchen, denn dieses Werk ist nicht mehr als ein Zettelkasten der Reste vorheriger Werke.

Sprachlich fallen die Anaphern auf. So beginnen die ersten 3 Sätze mit „Wir sind“, die ersten 8 mit „Wir“. Auch später ist es das Einzige, was bei mir hängen bleibt. Aus organisatorischen Gründen musste ich das Werk in den 70ern Seiten unterbrechen.

Bei der Wiederauflage ist das Gelesene wie weggeblasen. Ich lese also den Kommentar der FAZ und finde die eingangs erwähnte „zerrissene Erzählung“. Und so fühle mich nach dem Geheimtipp weder hin- noch hergerissen sondern ganz zerrissen. Damit ich das Buch nicht auch noch zerrissen haben werde, legte ich es nach dem zweiten Montag auf S.81 bei Seite.

1 Stern und bitte keine Geheimtipps mehr.

Bewertung vom 19.04.2022
Anfänge
Graeber, David;Wengrow, David

Anfänge


ausgezeichnet

Ein Ziegelstein als Meilenstein

Ja, dieses Buch ist dick. Ja, ich habe am Osterfest nichts anderes gelesen und ja, die Wissenschaftskollegen der beiden Autoren machen nicht alle eine gute Figur. Aber ich lese doch viel lieber, dass dank neuer Erkenntnisse die alte Forschung auf den Kopf gestellt wird, anstatt wie ein Buch z.B. bei Frankopan, dass nur 100 andere zusammenfasst.

Neu ist, dass die Autoren die Geschichte der Menschheit nicht als Evolution zum Besseren betrachten, sondern alle Entwicklungen betrachten. So stellen sie fest, dass unser Geschichtsbild in den Zeiten der Nationalstaaten in Ägypten vor allem das Alte und Neue Reich als Hochkulturen überliefert wurden, während gerade die Zwischenzeiten – in der die Macht, wenn überhaupt, bei lokalen Herrschern lag – mehr Soziales und mehr Frauenrechte zu bieten hatten.

Auch ändere sich das Bild bei den Historikern mit der Zeit. Während in Zeiten des Kalten Kriegs vor allem Kriege für den Untergang von Kulturen verantwortlich gemacht wurden, stehen heute ökologische Katastrophen im Mittelpunkt.

Aufgeräumt wird auch mit der Annahme Rousseaus, dass Jäger und Sammler im Urzustand gelebt hätten, während die landwirtschaftliche Revolution erst Ungleichheit und Kriege gebracht hätte. Die Ureinwohner Kaliforniens hätten sich aber bewusst gegen die Landwirtschaft entschieden. Und die Kulturen seien so vielfältig, dass Vergleiche schwierig sind. In Mesopotamien hätten sich die Hochlandbewohner zur Hierachie entschieden, während die Gartenbautreibende – das Wort ist besser als Ackerbau – bei der Selbstverwaltung geblieben sind. Ohnehin könne von Revolution keine Rede sein, da der Prozess zum Gartenbau 3.000 Jahre gedauert hätte.

Dieses Werk zeichnet aus, dass es definiert. Wenn von Ungleichheit die Rede, so wird gefolgert, dass damit gemeint sei, diese drei Freiheiten zu haben:
1. Die Freiheit des Ortswechsels
2. Die Freiheit, Befehle anderer zu ignorieren
3. Die Freiheit, soziale Realitäten zu verändern

Die Autoren machen sich vom Eurozentrismus frei und wählen Beispiele in allen Teilen der Welt, vor allem in Amerika. Besonder der indianische Philosoph Kondiaronk, den wir heute als antikapitalitisch bezeichnen würden, hat es ihnen angetan. Ferner beschreibt das Buch das Phänomen der „Schismogenese“. Dieses bezeichnet den Umstand das zwei benachbarte Kulturen nahezu gegensätzlich sind. Während etwa im antiken Griechenland Athen für Philosophie und Weisheit stand, legte Sparta Wert auf Ordnung und Militär. Heute scheint die Vielfalt der Kulturen zu verarmen.

Auch die Zahl der Menschen weltweit wird größer, der Lebensraum des einzelnen aber kleiner. Um Eigentum zu rechtfertigen wurde das Heilige erfunden als Dinge, die von der Welt abgesondert werden und nur dem Frommen zuteil werden (184).

Die Entstehung von Städten ist nach neuesten archäologischen Grabungen auch ohne eine Führungselite denkbar. Ja, es ist sogar eine jahrzeitlicher Wechsel möglich. So denken heute die meisten während des Jahres nur an den Konsum, an Weihnachten aber kommt das soziale Herz zum Vorschein.

Auch der Ursprung des Staates wird diskutiert. Es wird gefolgert, dass drei Merkmale einen Mächtigen ausmachen:
1. Gewaltkontrolle
2. Informationskontrolle
3. (wenn beides nicht gegeben ist) individuelles Charisma

Die Verwaltung und damit die Bürokratie wird gebraucht, um die Regeln im ganzen Land durchzusetzen. Als Beispiel wird Friedrich d. Gr. genannt, der die Leibeigenschaft abschaffen wollte, aber seine Beamten verstanden seine Befehle bewusst falsch.

Alles in allem ein Buch mit revolutionären Erkenntnissen, das nicht nur Archäologen und Anthropologen anspricht. 5 Sterne

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.04.2022
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


weniger gut

Der neue Simmel

Es ist mir eine große Ehre, die 100. Bewertung abgeben zu dürfen, aber leider ist es keine gute.

Die Eheleute Rahel und Peter planen Urlaub in den Bergen, aber ihre gemietete Hütte brennt ab. Da ruft Ruth an, dass ihr Mann Viktor einen Schlaganfall hatte und deswegen zur Reha an die Ostsee muss, ob sie nicht einige Wochen auf den Bauernhof aufpassen könnten.

Nun könnte eine Geschichte entstehen, in der ein überfordertes städtisches akademisches Ehepaar mit der Pflege der Tiere überfordert ist. Aber außer einem alten Gaul, den Peter pflegt, und der Erwähnung von Hühnern ist all das kein Thema. Stattdessen werden Themen rund ums Eheleben behandelt, die auch in Dresden spielen könnten, und der Bauernhof ist nur romantische Kulisse.

Als die Tochter Selma mit ihren nervenden KIndern zu Besuch kommt, werden kritische Themen wie das frühe Kinderkriegen nur angerissen. Ja, die geheime Abtreibung von Rahel mit 45 ist ganze drei Sätze wert. Selbst die Schreckensnachricht der dritten Woche kann den gewohnten Ablauf nicht stören.

Mich erinnert die Niveaulosigkeit dieses Buches an Vielschreiber Simmel. Immerhin hat das Buch kleine Seiten, die unter einer Minute gelesen sind. Mehr als zwei Sterne gibt es nicht, dafür aber noch den Spruch:

So kauf mir doch den Simmel ab,
sonst schneid ich dir den ...

Bewertung vom 08.04.2022
Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
Nguyen-Kim, Mai Thi

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit


sehr gut

Wissenschaftliche Methoden für alle

Die Autorin deckt auf, wie genau die Wissenschaft arbeitet. Wer bei der Legalisierung von Drogen nach der Schädlichkeit fragt, muss definieren, ob er den Konsumenten oder die Gesellschaft meint. Bei der Schädlichkeit für die Gesellschaft liegt nach einer Studie Alkohol auf dem ersten Platz. Doch die Autorin zeigt Mängel in der Methode auf, sie ist subjektiv.
Neu für mich war, dass die USA in der Prohibition von 1920-33 Alkohol tatsächlich verboten hat, was auch zum sinkenden Verbrauch nach der Prohibition geführt hat. Aber dann kam die Wirtschaftskrise. Dann widmet sie sich dem aktuellen Thema der Freigabe von Cannabis und diskutiert die Erfahrungen aus Portugal.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Zusammenhang zwischen Videospielen und der Jugendgewalt. Letzteres ist rückläufig, aber liegt das an den Videospielen oder doch eher an Wohlstand und Bildung? Klar ist, dass Studien reproduzierbar sein müssen. In den Naturwissenschaften gelingt das noch einigermaßen, doch überall wo der Mensch ins Spiel kommt, also insbesondere die Psychologie, gibt es erhebliche Zweifel. Nguyen-Kim diskutiert einen umstrittenen Test zur Agressionsmessung und erklärt Korrelation, die mit einer Kausalität zusammenhängen muss. Wie ich zu meiner Studienzeit kritisiert die Autorin, dass Arbeiten, die keine Zusammenhang finden, nicht veröffentlicht werden. So könnte in ihrem Beispiel eine Studie, die eine Korrelation zwischen Brokkoli und Pickel findet, alle anderen gegenteilige Studien verdrängen, da diese nicht bekannt werden.
Eigentlich muss vor dem Beginn der Studie bekanntgegeben werden (Präregistrierung), was untersucht wird. Sonst geschieht nämlich das „p-Hacking“, d.h. die Kontrollgruppe wird so verändert, dass ein „statistisch signifikantes“ Ergebnis vorliegt. In den populären Medien ist dann nicht klar, dass das nur „nicht bloß zufällig“ heißt. An dem Größenunterschied zwischen Mänern und Frauen wird gezeigt, wie wichtig die Effektgröße d ist.

Das nächste Kapitel behandelt den Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen (GAP), wo zwischen bereinigten und unbereinigten GAP unterschieden werden muss. Auch bei Letzterem bleibt ein unerklärlicher Rest.

Dann thematisiert sie die alternative Medizin. Anhand des Contergan-Skandals zeigt sie, wie streng die Regelungen für die Zulassung von Arzneien geworden sind. Und dann legt die Autorin dar, wie einfach homoöpathische Mittel auf den Markt kommen, die trotz 200 Jahren Erfahrung nicht mehr als den Placebo-Effekt erreichten. Heilpraktikerin sei keine geschützte Berufsbezeichnung. Statt Placebos hält sie viel von „Sprechender Medzin“.

Im fünften Kapitel wird die Frage des Impfens erörtert, zunächst die Kinderkrankheiten insbesondere Masern, dann Corona. Seltene Nebenwirkungen sind deshalb nicht auszuschließen, weil in Phase drei der Zulassungsstudie es eine Kontrollgruppe gibt, die ein Placebo bekommt, was ab einer gewissen Zahl aber ethisch nicht mehr zu verantworten ist. Statt Krankheit wäre die Impfung immer vorzuziehen. Beim Thema Corona fehlt es Büchern an Aktualität. Mich hätte interessiert, was sie dazu sagt, dass man durch Impfen zwar Masern ausrotten kann, nicht aber Grippe-Viren wie Corona.

Dann folgt ein Beitrag zur Frage, ob eine Begabung genetisch oder umweltbedingt ist. Ihre Antwort ist, dass dies nicht so einfach zu entscheiden ist. Reliabilität und Validität werden erklärt. Erblich kann nur etwas sein, wo es eine Varianz gibt.

Die gleiche Frage bezieht die Autorin auf das Denken von Männer und Frauen. Nach den in Kapitel 2 gelernten Methoden sind Frauen und Männer ähnlicher als gedacht. Sie erklärt die Funktionsweise unseres Gehirns.

Nach dem Exkurs über Tierversuche – hier wird oft vorgegaukelt, sie seien durch technischen Lösungen zu ersetzen, stimmt aber nicht – diskutiert sie Dieter Nuhrs Beitrag bei der DFG 2020 mit der diese überfordert war und mit der Löschung einen Beitrag zur Cancel Culture leistete, die der Kabaret

Bewertung vom 04.04.2022
Mein kleines Prachttier
Rijneveld, Marieke Lucas

Mein kleines Prachttier


sehr gut

Gedanken eines Pädophilen

Wennn Handke dieses Buch geschrieben hätte, dann wäre es ein Skandalbuch. Über 362 berichtet der Tierarzt Kurt wie er zu eine Bauerntochter von ihm abhängig und schließlich gefügig macht. Dabei wird ausschließlich aus der Perspektive des Täters berichtet, der sein „kleines Prachttier“ stets mit du anredet.

Thematisch kann man diesen Roman kaum weiter empfehlen, es hat aber einige Stärken. So gelingt es der jungen Autorin sich in den Täter richtig einzufühlen, ja wir gewinnen den Eindruck gar kein Unrecht zu begehen, sondern nur eine Liebesgeschichte zur Vollendung zu bringen.

Anfangs noch ganz Kind erwacht im Kind das Verlangen zunächst dank eines unter ihrem Bett liegenden Penisknochen, den der Tierarzt einem Otter abgeschnitten hat. Später freut sie sich über Jungsgeweihe, hätte auch selbst gern ein kleines und staunt über Kurts Mördergeweih.
Die Leserin sollte aber nicht vergesssen, dass wir der Phantasie des Tierarztes folgen.

Eine junge Autorin darf so offenbar skandalfrei schreiben, ja das Verlangen nach einem Geweih wird von der Kritik teilweise als Unsicherheit bezüglich des Geschlechts gelesen und so werden noch autobiografische Züge in den Roman hineininterpretiert.
Mühsam sind die unendlichen langen Sätze, weil statt eines Punktes die Sätze mit „und“ zusammengebunden. Ich wollte dieses Buch auch lesen, weil es im calvinistischen niederländischen Bibelgürtel spielt und ja im 137. Psalm kommen erstaunliche Verse vor.

Ich schwanke zwischen 3 und 4 Sternen. Da dieses Buch dann doch einen meditativen Charakter hat und man schon auf den ersten Seiten erkennt, auf was man sich einlässt, wähle ich die bessere Note. Schließlich kann ja nicht das Thema zur Abwertung führen.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.04.2022
Die unaufhörliche Wanderung
Gauß, Karl-Markus

Die unaufhörliche Wanderung


ausgezeichnet

verdienter Preisträger

Das hatte ich noch nie: Während ich dieses Buch lese, erhält es den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und ich sage zu Recht. (Sonst lese ich Bücher erst nach der Preisverleihung.)

Ursprünglich glaubte ich, das Buch handle von Reisereportagen. In der Tat beginnt es mit der wohl schönsten albanischen Stadt Berat, wo ein mohammedanischer Sommelier die Weine erklärt, obwohl er nie einen Tropfen Alkohol getrunken hat. Auch die Bäcker-Bacher Kreuzung in Salzburg fällt wie die tschechische Stadt Trebic mit einem Judenviertel ohne Juden und Venedig durch die Hintertür in diese Kategorie.

Aber dann, mitten im 1. Kapitel wird es politisch. Erst moniert der Autor, dass fotografierende Neugierige Rettungskräfte behindern, dann beklagt er das die Demut – laut Augustinus die Mutter aller Tugenden – von den Politikern in allen Situationen als unterschätztes Machtmittel gerne benutzt wird. Auch der „Konkurrent“ wird zum „Mitbewerber“ oder gar zum „Marktbegleiter“. Abschließend wundert er sich über die europäische Übersetzungskultur, doch das Englische wird mehr und mehr zu Universalsprache.

Das 2. Kapitel beschreibt zunächst den größten Truppenübungsplatz Österreichs zwischen Döllersheim und Allensteig, der ganze Dörfer den Erdboden gleich machte, dann behandelt es die Kloake als Kulturleistung, bevor die titelgebende Geschichte von einer Mathematikerin spricht, die als Stadtführerin in der Vielvölkerstadt arbeitet. Das Kapitel mit dem Roma-Mädchen Nadica, das in Österreich so schlecht behandelt wurde, dass es zurück nach Serbien möchte.

Im 3.Kapitel thematisiert Gauß das Ende der Habsburger-Monarchie, die sich in den Krieg flüchten musste und vergleicht dann Österreich-Ungarn mit Jugoslawien und der Europäischen Union. Dann beschreibt die Auferstehung der Gotschee, einem Gebiet im Grenzland von Slowenien und Kroatien, im Internet. Der Grenzfluss Pruth, die fiktiven natürlichen Grenzen (Bsp.: Görlitz oder Komorn an der Donau), der unterschiedliche Umgang mit einer Grenze in der Peripherie und im Zentrum, Grenzen gegen Flüchtlinge und Zukunftsaussichten stehen dann im Mittelpunkt. Dann fragt sich Gauß, was der Osten ist und wie Wien in 50 Jahren aussieht. Traditionelle Minderheiten wie die Burgenlandkroaten verschwinden, dafür kommen neue, die z.B. Arabisch sprechen.

Der Schluss des Buches scheint autobiografisch von der Hinwendung des Autors zum Schreiben zu handeln. Erst sein Deutschlehrer, dann seine Leseliste, dann seine Erfahrungen mit der Deutschen Bahn auf einer Lesereise. Für ein Buch über Gallizien hätte er den Titel „Das reiche Land der armen Leute“ gewählt, in Deutschland sei es umgekehrt. Das Werk schließt mit einer Beschreibung einer Wanderung am Monte Pasubio zwischen Südtirol und Venedig, wo Gauß ein Gewitter voraussagt.

Die Füllen an Informationen lassen nur 5 Sterne zu.

Zitat: In meinem Land geht die Krise nicht unter. (Kaiser Franz Joseph 114)

Bewertung vom 10.03.2022
Die Fahne der Wünsche
Sila, Tijan

Die Fahne der Wünsche


sehr gut

Das Leben unter des Spirotismus in Crocutanien

In seinem ersten Roman „Tierchen unlimited“ war der Autor ausgesprochen witzig. Doch diesmal bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Wir fühlen mit dem Radrennfahrer Ambrosius, der in einer Diktatur zusammengeschlagen wird, weil sein Trainer sich von einem Tag auf den anderen ins Ausland abgesetzt hat. Obwohl er die Flucht selbst gemeldet hat und von einer Gruppe Straffreiheit zugesichert bekommt, schlägt ihn ein anderes Ministerium zusammen.

Das wiederum tut der ersten Gruppe so leid, dass er als Ersatz Goldzähne bekommt, die sein Markenzeichen werden. Als auch noch seine Freundin Betty genauso überraschend das Land verlässt, ist das „Männchen“ ziemlich verzweifelt. In Crocutanien hat er keine Konkurrenz als Rennfahrer zu fürchten und zu Rennen ins Ausland darf er nicht.

Ohne jedes Rückgrat arbeitet er als Spitzel in einer Flippergruppe, da der Spirotismus flippern verboten hat. Und auch seine Beziehung zur kranken Mutter schwankt ständig.

Erstmals habe ich gelesen, welche Nachteile Zurückgebliebene in Diktaturen habe, wenn Bekannte fliehen, dafür 4 Sterne. Und mein Respekt wegen des großen Unterschieds zum Vorgängerbuch.