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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Die Fähigkeit zu sterben
Lenz, Sabine

Die Fähigkeit zu sterben


sehr gut

Psychoonkologie ist die psychotherapeutische Arbeit mit Krebskanken. Onkologie und Psychologie gemeinsam können die psychische Gesundheit eines Patienten wiederherstellen, damit der Körper gesunden oder der Tod angenommen werden kann. Die Psychotherapie Krebskranker sieht die Therapeutin als Geschenk an die Erkrankten; denn "der Krebs sucht sich nicht nur psychisch unbeschadete Menschen". Sabine Lenz fasst Erlebnisse mit Patienten in Geschichten, die spürbar auch der Selbstreflektion dienen. "Geschichten von den Rändern des Lebens" nennt sie ihren sehr persönlichen Rückblick auf ein Berufsleben mit - für Patient und Therapeut - belastenden Diagnosen und Therapien, mit Verlusten von Lebenszeit und körperlicher Attraktivität. Psychotherapie befasst sich nicht mit Tatsachen, sondern mit mit Bedeutungen, betont die Autorin. Ihre Patienten leiden nicht an etwas, sondern unter der Bedeutung, die sie den Ereignissen geben. Die Veränderung der Deutung einer Nachricht kann aus einer schlimmen eine weniger schlimme Tatsache machen, sie kann selbst Denk- und Sprechverbote zum Thema Tod überwinden. Für diese veränderte Sichtweise will eine Therapie den Patienten gewinnen. Sabine Lenz zeigt an ausgewählten (anonymisierten) Fallgeschichten, wie das Selbstbild eines Patienten und der Blick der Angehörigen auf den Erkrankten das Erleben einer unheilbaren Krankheit bestimmt. Vom bildhaften Erleben der Krankheit durch Lenz' Patienten habe ich als medizinischer und psychologischer Laie stark profitiert. In der Schulung von Angehörigen oder ehrenamtlichen Sterbebegleitern lässt sich das Erleben von Krebskranken mit diesen Bildern sehr direkt vermitteln. Leider bleiben Sabine Lenz' Geschichten durch das gewählte intellektuelle Sprachniveau vermutlich ein reines Fachbuch für Therapeuten, zu dem nur wenige Laien Zugang finden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Nachts, wenn der Tiger kommt
McFarlane, Fiona

Nachts, wenn der Tiger kommt


ausgezeichnet

Ruth Field ist überzeugt davon, dass in ihrem Haus nachts ein Tiger unterwegs ist, sie kann ihn hören und riechen. Ruths kleines Strandhaus in New South Wales wirkt in letzter Zeit fremd auf seine Bewohnerin, vertraute Gegenstände scheinen in der Nacht zum Leben zu erwachen. Erst vor kurzem waren Ruth und ihr Mann aus der Stadt ans Meer gezogen, nun ist die alte Dame verwitwet, ihre Söhne leben im Ausland. Mit magischen Verknüpfungen gibt Ruth ihrem Alltag Struktur. Immer wenn drei Spaziergänger am Strand entlang wandern oder die Wellen nach einem bestimmten Muster auf den Strand treffen, muss Ruth eine bestimmte Arbeit im Haus erledigen. Ruths zunehmende Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung sind ihr ihren Söhnen gegenüber peinlich. Schließlich gibt es in Australien keine frei lebenden Tiger. Das Auftauchen des Tigers in der Nacht könnte Schlimmes symbolisieren, das auf Ruth zukommt. Ruths Söhne könnten beschließen, dass ihre Mutter wegen ihrer beginnenden Altersvergesslichkeit besser nicht mehr allein leben sollte. Für eine betagte alte Dame wie Ruth, deren geistige und körperliche Kräfte allmählich schwinden, scheint Frida ein Geschenk des Himmels zu sein. Die große, einschüchternde Erscheinung steht eines Tages vor Ruths Tür, stellt sich als vom Staat geschickte Betreuerin vor und putzt und kocht fortan hingebungsvoll für Ruth. Fridas Hautton erinnert Ruth an ihre Kindheit auf den Fidschi-Inseln, wo ihre Eltern in einer Missions-Krankenstation arbeiteten. Fidschi war auch der Schauplatz von Ruths unglücklicher Teenager-Liebe zu Richard, zu dem sie nun wieder Kontakt sucht. Frida mit ihrer alle paar Tage wechselnden Haarfarbe kümmert sich derweil um alles, selbst um Paulas Bankgeschäfte. Frida reagiert jedoch verschnupft, sollte Ruth ihren Vorschlägen nicht sofort folgen wollen. Ruth Field ist sich ihrer Hilfsbedürftigkeit bewusst, aber sie möchte gern im Einklang mit ihren Mitmenschen leben und sich nicht ständig mit Frida herumstreiten müssen. Wer vergesslich ist, wird leicht manipulierbar durch andere, die demjenigen einreden wollen, ein Thema wäre längst besprochen und man hätte es wohl nur vergessen. Je mehr Aufgaben Frida übernimmt, umso stärker schwinden Ruths Kontakte außerhalb ihres Hauses und ihr Urteilsvermögen. Frida überwuchert Ruths Haushalt wie eine schnell wachsende Lianenart. In das abgelegene Strandhaus kommen selten Besucher, niemand, der sich mit gesundem Menschenverstand fragen könnte, wer in Ruths Haushalt zu sagen hat und von wem Frida wohl für ihre Tätigkeit bezahlt wird.

Fiona McFarlane vermittelt vor der Kulisse bewölkter Tage am Meer mit beachtlicher Einfühlung die Einsamkeit ihrer Hauptfigur im Alter. Sie nimmt ihre Leser mit in die verschwimmenden Übergänge zwischen Illusion und Wirklichkeit und balanciert mit Frida auf der dünnen Grenze zwischen Hilfe und Manipulation. Eine feine Dosis Ironie verbirgt sich hinter einem wohlwollenden Erzählton und streut schon früh Zweifel, ob sich im Strandhaus die Dinge für Ruth positiv entwickeln werden.

Ein großartiger Debüt-Roman mit einer beunruhigenden Botschaft. Nachdem ich das Buch zugeschlagen habe, bin ich mir nicht mehr sicher, dass es bei uns keine frei lebenden Tiger gibt ...

Bewertung vom 04.01.2017
Ein paar Tage Licht
Bottini, Oliver

Ein paar Tage Licht


ausgezeichnet

Als deutsch-algerisches Joint Venture plant die Firma Elbe Algérie in Algerien Panzer vom Typ Atlas zu produzieren. Der deutsche Manager Peter Richter wird direkt nach seiner Ankunft in Algerien entführt, noch ehe er den Werksaufbau verfolgen oder im muslimischen Nordafrika unbedarft in ein interkulturelles Fettnäpfchen treten kann. Der Handlungsstrang um Richters Entführung spielt im Jahr 2012. Der algerische Geheimdienst besteht auf der offiziellen Erklärung, eine al-Qaida-Gruppe fordere Lösegeld für den Deutschen und den Rückzug der Elbe Défence aus Algerien. Doch Ralf Ehey, BKA-Verbindungsbeamter in der deutschen Botschaft, bezweifelt diese Version. Nach seinen Informationen sind islamistische Terrorgruppen schon seit den 90ern vom Militär unterwandert. Eheys Aktionsradius wird nicht allein durch die Verweigerung der algerischen Behörden zur Zusammenarbeit beschnitten. Ehey muss befürchten, dass seine heimliche Beziehung zur Untersuchungsrichterin an die Öffentlichkeit gerät, die mit dem Entführungsfall befasst ist. Peter Richter ist für seine Entführer nicht wegen seiner aktuellen Tätigkeit interessant, sondern wegen seiner Rolle in einem umstrittenen früheren Geschäft des (realen) süddeutschen Gewehrherstellers Meininger Rau mit Algerien. Im Auswärtigen Amt in Berlin hat parallel zu den Ereignissen in Algerien gerade die Diplomatin Katharina Prinz einen Schritt auf der Karriereleiter nach oben vollzogen. Die ehemahlige deutsche Botschafterin in Algier war entschiedene Gegnerin des Waffengeschäftes, das einem scheindemokratischen Regime Sturmgewehre verschaffen wird. Staaten geraten in Krisengebieten zwischen die Linien, weil sie und ihre Rüstungskonzerne noch immer nicht aus alten Fehlern gelernt haben, stellt einer der Beteiligten fest. In weiteren Handlungssträngen sind unabhängig voneinander der junge Djamel und ein einflussreicher algerischer General auf dem Weg nach Deutschland. Der junge Mann, der wie viele seiner Generation das ungeklärte Schicksal eines Angehörigen im Jahr 1995 nicht verwinden kann, will ein Zeichen setzen gegen den Hauptschuldigen am Verschwinden seines Vaters. Djamel hat private Verbindungen nach Deutschland, weil sein Großvater als ehemaliger Vertragsarbeiter in der DDR noch immer im Havelland lebt. Um die erfolgreiche Abwicklung des Geschäfts mit den deutschen Sturmgewehren bangt derweil der deutsche Lobbyist Reinhold Wegner in seinem süddeutschen Heimatort, während sich in Berlin die Gegner von Katharina Prinz formieren.

Oliver Bottini führt vier Handlungsstränge akkurat zu einem spannenden, sorgfältig recherchierten Politkrimi zusammen, der im Biotop von Lobbyismus, Bestechung und menschlichen Schwächen angesiedelt ist. Passend zum Naturell einiger seiner Figuren bleibt der Erzähler den Großteil des Romans hindurch kühler Beobachter. Nicht ohne Sarkasmus demaskiert Bottini Deutschlands widersprüchliche Haltung zu Waffenexporten in Krisengebiete. Auch ohne Kenntnis deutscher Waffenschmieden und der historischen Ereignisse in Algerien kann man mithilfe des umfangreichen Glossars reale Personen und Orte von fiktiven unterscheiden. Diese Möglichkeit, am Ende der Lektüre mit einem Blick aufzulösen, welche Teile Fiktion sind, habe ich mir schon oft gewünscht.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Heimkehr
Morrison, Toni

Heimkehr


ausgezeichnet

Als Frank Money das Haus von Dr. Beauregard Scott betritt, greift der sofort zur Waffe, weil er von einem Schwarzen nichts anderes als einen Überfall erwartet. Doch Frank ist gekommen, um seine Schwester Cee aus dem Haus des Doktors zu holen, der mit jungen, naiven Mädchen vom Land medizinische Versuche macht. Frank ist Veteran des Koreakriegs, ein kräftiger junger Schwarzer, der nach seiner Rückkehr aus dem Krieg seinen Platz im rassistischen amerikanischen Süden noch nicht wieder gefunden hat. Frank ist traumatisiert, rastet in Situationen aus, die anderen harmlos erscheinen mögen. Ein Jahr nach seiner Entlassung hat Frank noch keine Arbeit gefunden; denn ohne die vom Militär gewohnten Befehle kommt er nicht klar. Kurz zuvor war er von der Polizei aufgegriffen und wegen Landstreicherei in die Psychiatrie gesperrt worden. Entlassen wird Frank mitten im Winter ohne Diagnose, ohne Schuhe und ohne Geld, mit der Ermahnung, zukünftig nicht zu trinken. Franks Erinnerungen an den Krieg sind gesprenkelt mit den Körperfetzen seiner gefallenen Kameraden. Aufgrund eines geheimnisvollen Anrufs, er müsse sich in seiner Heimat sofort um seine Schwester Ycidra (Cee) kümmern, schlägt sich Frank ohne Geld mit Bus, Bahn und der Unterstützung eines Netzwerks schwarzer Aktivisten bis nach Lotus/Georgia durch. Für amerikanische Kirchengemeinden müssen in den 50ern Armenspeisungen und Kleiderkammern zur täglichen Routine gehört haben. Scham darüber, dass er diese Unterstützung in Anspruch nimmt, kann Frank sich nicht leisten, er nimmt jedoch wahr, wie sauber und liebevoll gebügelt die gespendeten Kleidungsstücke aussehen. Frank hatte seit ihrer Kindheit zur vier Jahre jüngeren Cee ein sehr inniges Verhältnis. Die Eltern der beiden arbeiteten 16 Stunden am Tag als Baumwollpflücker und hatten danach keine Kraft mehr für ihre Kinder. Frank erinnert sich lebendig daran, wie seine Eltern (die Mutter war damals mit Cee schwanger) und er von bewaffneten Männern in Kapuzen aus ihrem Heimatort in Texas vertrieben wurden und sich danach in Lotus niederließen. Die Armee war für Frank der einzige Weg aus dem Fünfzig-Häuser-Dorf fortzukommen, in dem Kinder nichts fürs Leben lernen konnten. - Die Verbindung zwischen dem Schicksal eines Veteranen des Korea-Kriegs und illegalen medizinischen Versuchen an Schwarzen wirkt in "Heimkehr" etwas sperrig und setzt voraus, dass man sich als Leser zu diesen Themen selbst informiert. Posttraumatische Belastungsstörung von Veteranen wurde in den 50ern noch verdrängt, die Betroffenen wurden irgendwo in Militärhospitälern vergessen. So wirkt völlig authentisch, wenn Morrison in dem sehr kurzen Text, der in der Printversion nur 160 Seiten umfasst, den Krieg und seine Folgen nur streift. Wie Frank zukünftig zurechtkommen wird, bleibt offen. Beachtlich viele Personen, Handlungsebenen und Themen bringt Toni Morrison in ihrem kurzen Text unter. Ihre diversen Handlungsebenen reihen aneinander: Franks Erlebnisse in der Gegenwart, seine traumatischen Kriegserinnerungen, seine kurze am Kriegstrauma gescheiterte Beziehung mit Lilly, Rückblenden in Franks und Cees Kindheit und Cees Erlebnisse bei Dr. Scott. Frank diktiert seine Erinnerungssplitter voller Wut und Selbstekel einem namenlosen Autor, den er direkt anspricht und ihn auffordert "Schreib das auf, trau dich!". "Heimkehr" beeindruckt mit der ausdrucksstarken Schilderung der erstickenden Atmosphäre in Lotus und Morrisons geradezu zärtlicher Darstellung ihrer Figuren. - Hörbuch: Die verschiedenen Handlungsebenen werden in der Hörbuch-Version durch die Aufteilung auf zwei Sprecher klar voneinander getrennt. Durch die klare Gliederung spricht das Hörbuch besonders Leser an, denen die Verknüpfung mehrerer Handlungsebenen sonst nicht liegt. Doris Wolters liest in neutralem Ton und dennoch voller Empathie für die Figuren die Stimme des neutralen Erzählers. André Berndorff spricht die Zuhörer direkt in der Rolle des sehr jugendlich klingenden Frank an.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Garten des Blinden
Aslam, Nadeem

Der Garten des Blinden


sehr gut

Rohans Garten in Heer im nördlichen Pakistan, in dem die Bäume so hoch sind wie 10 Männer, ist Zeugnis einer untergehenden Welt. Hier wächst noch ein Schulholzbaum, aus dessen Holz früher die Schultafeln gefertigt wurden. Rohan erlaubt in seinem Garten einem Vogelbegnadiger, Vögel in Fallen zu fangen, die dessen Kunden später zur Vergebung ihrer Sünden freilassen werden. Der alte Mann erblindet; er wird die geradezu unwirkliche Schönheit seines Gartens nicht mehr lange sehen können. Rohan verliert in den Tagen nach dem 11. September 2001 sein Augenlicht, mit seiner Schule das mit seiner verstorbenen Frau gemeinsam geschaffene Lebenswerk und seinen Sohn. Obwohl Jeo sein Medizinstudium noch nicht beendet hat, will Rohans Sohn sich in Peschawar als Sanitäter für Verletzte des Kriegs zwischen den USA und Afghanistan melden. Seinem Vater verschweigt Jeo, dass er aus Peschawar direkt ins afghanische Kriegsgebiet reisen wird. Jeo will dort helfen, wo die Not am größten ist. Mikal, Jeos Freund und Adoptivbruder, wird Jeo als Beschützer begleiten und "ihm die Verwundeten vom Schlachtfeld holen". Zurück bleibt beim schon lange verwitweten Rohan Jeos junge Frau Naheed. Jeo weiß nichts davon, dass auch Mikal Naheed liebt. Rohans Schule wurde nicht im Frieden an einen Nachfolger abgegeben; Major Kyra, der neue Besitzer von Haus und Grundstück, steht auf der Seite der Taliban und Rohan ist fortan in seinem Häuschen nur geduldet. Rohans Schule samt Lehrern und Schülern wird zum Spielstein geldgieriger Warlords, die Kinder zu ihren Geiseln. Kyra sorgt dafür, dass Jeo noch am ersten Tag seines idealistischen Einsatzes an die Taliban verkauft und getötet wird. Mikal überlebt und will aus dem Einflussbereich des Warlords auf gefährlichen Wegen zurück zu Nadeem flüchten, die als Witwe zum Freiwild gieriger Männer geworden ist. In diesem moralischen Niemandsland wechselt Mikal seine Rolle von der Geisel, zum Gefangenen der USA bis zum Botengänger und Retter eines amerikanischen Soldaten, der wiederum als Rächer seines Bruders unterwegs ist. In diesem Krieg gibt es keine klaren Frontlinien, unklar ist den handelnden Personen häufig, auf welchem Stammesgebiet sie sich gerade befinden und welcher Warlord Geschäfte mit ihnen machen wird. Auch Rohan begibt sich auf eine heimliche Mission, er will den Sohn des Vogelbegnadigers aus der Hand der Taliban befreien, die für jede Kindergeisel mehr Lösegeld beanspruchen als ein ehrlicher Arbeiter in 20 Jahren zusammensparen kann.

"Der Garten des Blinden" ist ein sprachlich virtuoses, verstörendes Buch voller Gewalt, Folter und Erniedrigung. Als westlicher Leser versteht man vermutlich nicht alle Bilder und Gleichnisse, die Nadeem Aslam für seine Leser zeichnet. Sehr anrührend zeigt Aslam die Situation muslimischer Frauen, die ihre getöteten Männer nicht betrauern dürfen und selbst wie eine Ware verschachert werden. Zentrales Thema des Buches ist u. a. Rohans Erblindung, die je nach persönlicher Sicht als schicksalhafte Erkrankung, Folge eines Kriegs, eines Traumas, der bitteren Armut oder als Strafe Allahs gesehen werden kann. Verstörend wirkt der krasse Kontrast zwischen Nadeems üppig wuchernden Sprachbildern und den schnöden kriminellen Taten, die die Figuren, angeblich im Namen Allahs, erleiden müssen.

Bewertung vom 04.01.2017
Knut hat Wut
Schreiber-Wicke, Edith;Holland, Carola

Knut hat Wut


ausgezeichnet

Wenn Knut in Wut gerät, wird sein Gesicht rot wie ein Luftballon. Knut tritt, brüllt und wirft mit Spielzeug. Kater Grizzly faucht vor Schreck und flüchtet vor dem Krokodil, das durchs Kinderzimmer fliegt. Eine Gedankenblase zeigt Knuts Ratlosigkeit. Warum will Kater Grizzly sich wohl nicht mehr von Knut anfassen lassen? Knut sitzt deprimiert am Esstisch. Warum er so wütend wird, weiß er selbst nicht. Zum Geburtstag bekommt Knut einen roten Boxsack zum Abreagieren.

In Familien mit Vier- oder Fünfjährigen sind Wutanfälle ein wiederkehrendes Thema. Mit der Einfühlung in andere (könnte Knut versuchen sich aus Rücksicht auf Kater Grizzly zu beherrschen?) und dem körperlichen Abreagieren der Emotionen beschränkt Edith Schreiber-Wicke sich auf zwei Wege der Aggressionsabfuhr. Den dritten Weg (über die Gefühle sprechen lernen, die das Kind überwältigen) beschreiten Kinder und Eltern beim gemeinsamen Ansehen des Bilderbuches. Knut und Kater Grizzly zeigen ihre Gefühle sehr ausdrucksstark und bieten den Betrachtern des Bilderbuchs damit vielfältige Gesprächsanreize. Ein aus den Illustrationen hervorleuchtendes sattes Rot spricht Kinder besonders an.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Haus, in dem es schräge Böden, sprechende Tiere und Wachstumspulver gibt
Llewellyn, Tom

Das Haus, in dem es schräge Böden, sprechende Tiere und Wachstumspulver gibt


sehr gut

Das gerade gekaufte Haus der Hensleys in der nördlichen Stechpalmenstraße Nr. 1418 ist alt und unschlagbar billig, wenn auch die Gegend mehr als sonderbar wirkt. Ein paar Eimer Farbe für die hölzerne Fassade sollten das Problem lösen können. Die Eltern Hensley, Jacob, sein Bruder Charlie und Opa mit dem handgefertigten Holzbein, können sich sowieso kein teureres Haus leisten. Im Innern des Holzhauses sind Wände und Böden vollständig mit Schrift, Formeln und Diagrammen bedeckt. Alle Fußböden haben leichtes Gefälle zur Zimmermitte. Ein schräger Fußboden kann praktisch sein, denn jedes herunterfallende Kleinteil würde stets in die Mitte des Zimmers rollen. Ein normaler Tisch, der nicht speziell mit zwei kurzen und zwei langen Beinen dem schrägen Fußboden angepasst wurde, steht in diesem Haus schief. Bestimmer in Henleys neuem Haus ist Mister Daga, der geschäftstüchtige Patriarch einer Rattensippe. Der Vorbesitzer der Villa Tilton soll sich mit Daga sogar in der Rattensprache unterhalten haben.

Während Jacobs Vater noch Haus und Veranda von außen streicht, will Jacob mit der Unterstützung von Charlie und der Nachbartochter Lola den Zusammenhang zwischen den beschrifteten Wänden und schrägen Fußböden im Haus, den Machenschaften der Beerdigungsunternehmer Gebrüder Peat und dem ehemaligen Hausbesitzer Tilton herausfinden. Dabei entdecken die Kinder ein unheimlich wirksames Wachstumspulver und einen Fehler in der Hauselektrik, mit dem man das gesamte Haus verschwinden lassen kann.

Das Haus mit den schrägen Fußböden macht seinem Namen alle Ehre - es ist einfach schräg. 9- bis 12-jährigen Fans von Spukhäusern bieten die eher locker miteinander verbunden Kapitel allerlei skurile Szenen. Als Impulsgeschichten zum Zeichnen oder Schreiben eigener Spukhaus-Entwürfe kann ich mir Jacobs Abenteuer gut vorstellen. Eine durchgehende Spannungskurve und ein genauerer Blick des Autors in die Persönlichkeit der 10-jährigen Hauptfigur Jacob hätten dem Buch mehr Tiefe gegeben.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Extrem
Günday, Hakan

Extrem


weniger gut

Grenzüberschreitung
Saniye ist vom Vater ihrer Tochter Derdâ noch vor der Geburt verlassen worden. Als es in Derdâs Internat zu einem tödlichen Unfall kommt, der ihrer Tochter angelastet wird, entledigt sich Saniye der Verantwortung für ihre Tochter, indem sie die Elfjährige mit Bezir verheiratet. In Saniyes Dorf schickt man Mädchen sowieso nicht zur Schule. Als verheiratete Frau würde Derdâ wenigstens von den Müttern und Tanten des Schwiegerclans beaufsichtigt werden. Aus einem Dorf stammend, über das ein Aga als Clanchef herrscht und in dem zwischen Dorfschützer und Terrorist kein Unterschied besteht, gelangt Derdâ mit ihrem Mann nach London. Derdâ wird von ihrem Mann geschlagen, vergewaltigt, ins Haus gesperrt und spricht auch nach Jahren noch kein Wort Englisch. Fünf Jahre später kann die noch nicht volljährige "Ehefrau" aus ihrem Gefängnis flüchten, nachdem ihr Besitzer von einem Auftragskiller getötet worden ist. Derdâ beabsichtigt, den Spieß umzudrehen und sich mit einem grandiosen Rundumschlag an allen zu rächen, die sie bisher verletzt haben. Sie erkennt schnell, dass sich mit bizarren sexuellen Gewohnheiten ihrer Mitmenschen viel Geld verdienen lässt. Derdâs Rundumschlag könnte jedoch so interpretiert werden, dass sie nur ihr gewohntes Verhaltensmuster als Opfer von Gewalt beibehält, weil sie nichts anderes kennt.

Während Derdâ mit knapp 18 in England zum ersten Mal in ihrem Leben eine Person trifft, die es gut mit ihr meint, schlägt sich in Istanbul ein Junge als Wasserträger auf einem Friedhof durch. Sein Name: Derda, nur der letzte Buchstabe unterscheidet seinen Namen von dem des zwangsverheirateten Mädchens in London. Derda lebt auf dem Friedhof möglichst unauffällig, um nicht als elternloses Kind entdeckt und ins Heim geschickt zu werden. Als Derda zu groß ist, um bei den Trauernden noch Mitleid auszulösen, arbeitet er bei einem Verkäufer von Raubdrucken. Derdas Erkennen, dass er den Grabstein eines Autors seit Jahren kennt, dessen Bücher er nun transportiert, regt ihn zwar zum Lesenlernen an, bringt ihn in der Folge aber auch für Jahrzehnte ins Gefängnis.

Mit "Extrem" überschreitet Hakan Günay Grenzen des Erträglichen. Zärtlich in der Darstellung seiner Figuren, ungeheuer sarkastisch gegenüber dem "System", das die geschilderte Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern zulässt, schreckt er weder vor einem respektlos wirkenden Umgang mit Leichenteilen zurück noch vor der Schilderung bizarrer sexueller Techniken. Das Ausmaß an Gewalt und Erniedrigung, das seine Figuren erleiden müssen, ist weder zur Einfühlung der Leser in die Figuren noch für einen Erkenntnisgewinn nötig. Mir fällt niemand ein, dem ich das Buch empfehlen würde.

Bewertung vom 04.01.2017
Glückwunsch, du bist ein Mädchen!
Eismann, Sonja; Köver, Chris

Glückwunsch, du bist ein Mädchen!


gut

Eine Anleitung zum Klarkommen für Mädchen könnte ein passendes Geschenk zur Konfirmation oder zum Schulabschluss sein, dachte ich beim Blick auf das Buch. Die drei Herausgeberinnen des Missy Magazins treten als Autorinnen mit feministischem Ansatz an. Ihre Kernthemen sind die weibliche Rolle, das Verhältnis von Mädchen zu ihrem Körper unter Einfluss von Werbung und Castingwahn, die Gruppendynamik in Mädchencliquen, Billigtextilien, Sexualität und Verhütung, sowie Sportarten fern vom rosaroten Klischee. -Ist die weibliche Rolle angeboren oder antrainiert und welchen Einfluss hat die Herkunft unseres Frauenbildes auf unsere Möglichkeit, etwas daran zu verändern? Wie kann ich mir ein eigenes Bild von Weiblichkeit machen, wenn mir das öffentlich vermittelte Frauenbild nicht zusagt? Welchen Einfluss hat die Mode-Industrie auf meine Vorstellung von Weiblichkeit? Sind Billig-Klamotten wirklich billig und betrifft mich das Thema als Käuferin überhaupt? Warum zicken Mädchen? Wie kann ich unter Mädels einen zugewandteren Umgangston erreichen und nicht nur über andere lästern? Was ist normal – hetero, homo, bi oder asexuell? Welcher Sport passt zu mir? Diese Fragen sind nicht nur 14- bis 17-jährigen Mädchen wichtig, an die sich das Buch richtet, sondern auch ihren Müttern, Ausbilderinnen oder Mentorinnen, die sie ins Leben begleiten. - Durch eingestreute Interviews mit aktiven, kritischen Frauen wirkt das Buch auf den ersten Blick flott und altersgerecht. Beim genaueren Lesen frage ich mich jedoch, welche Zielgruppe die Autorinnen im Auge haben. Sprachniveau und Informationsvermittlung zum größten Teil über den Text richten sich vermutlich an Gymnasiastinnen. Körperbild und Schönheitsideale würden sich m. A. in Bild und Text gefälliger vermitteln lassen. Für die angesprochene Altersgruppe finde ich den Gehalt an belastbaren Fakten sehr dünn. Bei den Themen Billig-Textilien, Geschichte des Feminismus und Verhütung wird aus dem feministischen Bauch heraus polemisiert, aber kaum informiert, einige Formulierungen sind sprachlich und inhaltlich anfechtbar. Argumentiert wird zum Textil-Thema weder wirtschaftlich, ökologisch noch empirisch belegbar. Als Botschaft kommt bei mir als Leserin aus diesem Kapitel an: Mädels können nur Polemik, aber nicht Wirtschaft, Sozialwissenschaften und Geschichte. Kleidung war früher teurer als heute, "weil sie nach Maß geschneidert wurde", so die Autorinnen. Sind Kleidungsstücke aus nachwachsenden Rohstoffen mit jahrzehntelanger Haltbarkeit wirklich teurer als Fünf-Euro-T-Shirts, die nur eine Saison halten? Fakten (1920 musste ein Arbeiter x Stunden arbeiten, um sich ein Hemd kaufen zu können, 2010 y Stunden) wären hier eindrucksvoller als nicht belegte Annahmen. Wenn es mit dem Kondom nur ein Verhütungsmittel gibt, das zugleich gegen ungeplante Empfängnis und sexuell übertragbare Krankheiten schützt, wie kann "der doppelte Schutz so hoch wie bei keiner anderen Methode" sein, wenn keine andere Methode diese zweifache Wirkung hat? (Seite 122) Von den Autorinnen wünsche ich mir, dass sie sich nur zu Themen äußern, die sie selbst verstanden haben; denn Jugendliche sind ein sehr kritisches Publikum. - "Glückwunsch, du bist ein Mädchen" vermittelt einige unterstützenswerte Botschaften, von "Werte niemanden ab", über "Jede sexuelle Orientierung ist in Ordnung, ob sie nun hetereo, homo, bi oder asexuell genannt wird", "Trag Querstreifen, wenn alle sagen, Querstreifen machen dick". "Guck keine Casting-Shows" dürfte schon schwieriger umzusetzen sein. Mit dem Buch wurde eine gute Idee sprachlich und in der Logik der Argumentation nicht durchgehend sorgfältig ausgearbeitet. Der Text ist nicht frei von Konfrontation zwischen den Geschlechtern, die aus der Feder von zwischen 1969 und 1979 geborenen Autorinnen verwundert. Die zu Einzelthemen vermittelten Fakten genügen weder einer Leserinnengruppe, denen diese Themen noch völlig neu sind, noch Leserinnen, denen aufgrund eigener Vorkenntnisse die Schwächen im Text auffallen.