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Volker M.

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Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 10.02.2023
Wege und Umwege mit Friedrich Dürrenmatt Band 1, 2 und 3 im Schuber
Dürrenmatt, Friedrich

Wege und Umwege mit Friedrich Dürrenmatt Band 1, 2 und 3 im Schuber


ausgezeichnet

Friedrich Dürrenmatt besaß eine künstlerische Doppelbegabung, die er zeit seines Lebens weitgehend geheim hielt. Lange kämpfte er mit der Entscheidung, ob er eher Maler oder Schriftsteller werden sollte, und selbst als die Entscheidung zugunsten der Literatur gefallen war, betrieb er die Malerei mit großem Ernst, wenn auch ohne wirtschaftliches Interesse weiter. Ausgestellt wurden seine Zeichnungen und Gemälde nur selten, verkauft hat er fast nichts, verschenkt dagegen viel. Heute besitzt das Centre Dürrenmatt in Neuchatel (CDN) den umfangreichsten Bestand seines bildnerischen Werks, der auch, ergänzt durch Blätter aus der Privatsammlung Liechtli, Grundlage des vorliegenden Katalogs ist.

Obwohl, „Katalog“ trifft das Konzept nicht ganz. Weder handelt es sich um einen auf Komplettheit zielenden Catalogue raisonné, noch beschränkt es sich auf die reine Faksimilierung. Dürrenmatts Bilder standen im Austausch mit dem, was ihn bewegte und interessierte, sie waren keine isolierten „Eingebungen“, sondern man findet Spuren dazu überall in seiner Biografie und seinem literarischen Schaffen. Diese gegenseitige Befruchtung aufzudecken, ist das Ziel der Herausgeber. Sie sitzen bezeichnenderweise direkt an der Quelle: Madeleine Betschart ist Direktorin des CDN, Julia Röthinger arbeitet dort als Wissenschaftlerin, Pierre Bühler zeichnet als Präsident des CDN Fördervereins für die Finanzierung des Projekts verantwortlich und ist, ebenso wie die weiteren Autoren der Einzelbeiträge, auch akademisch in der Dürrenmatt-Forschung anerkannt.

Stilistisch sind bei Dürrenmatt Surrealismus und Expressionismus prägend, auch wenn er vereinzelt zeitgenössische Elemente der Fünfziger- und Sechzigerjahre aufnimmt. Wie ein roter Faden zieht sich ein augenzwinkernder Humor durch sein Werk, was mir persönlich fast wie ein Leitmotiv erscheint. Die mit sicherer Hand gezogenen Umrisszeichnungen auf den drei Einbänden können dafür durchaus als Beispiel dienen: Mit feiner (Selbst)ironie karikieren sie Mythen und Erwartungen, gleichzeitig sind sie aber auch bezeichnend für Dürrenmatts ausgeprägtes grafisches Talent. Einige seiner Zeichnungen mit Tusche oder schwarzem Filzstift besitzen eine künstlerische Ausdruckskraft, die ihn mit den großen Grafikern seiner Zeit auf Augenhöhe stellen. In späteren Jahren werden seine Motive allerdings düsterer und sein Strich verliert leider auch die handwerkliche Sicherheit.

Die Bände sind nicht chronologisch, sondern bildthematisch strukturiert. Einige Bildfindungen variiert Dürrenmatt über viele Jahre hinweg, wobei sich hier Autobiografisches und persönliches Interesse (z. B. an naturwissenschaftlichen, mythologischen oder religiösen Themen) oft vermischen. Die Autoren analysieren den umfangreichen Quellenbestand im CDN mit der gleichen Akribie, wie sie das literarische Werk nach Querverbindungen durchforsten. Neben dem Offensichtlichen entdecken sie dabei einige Überraschungen, was vor allem an ihrem überragenden biografischen Detailwissen liegt. Man muss nicht unbedingt jedem ihrer Schlüsse folgen (zumal künstlerische Absichten, sofern sie nicht vom Künstler selber dokumentiert sind, bis zu einem gewissen Grad immer hypothetisch bleiben), aber alleine die umfassende und reflektierte Analyse ist es immer wert, gelesen zu werden. Sämtliche Textbeiträge sind sowohl in französischer wie in deutscher Sprache verfasst.

„Wege und Umwege“ zeigt einen Künstler, der im wahren Sinn „seinen Weg“ sucht. Diese Suche beginnt Dürrenmatt in früher Jugend und er hat sie nie wirklich beendet. So wie wir alle.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.02.2023
Inge Morath Hommage
Morath, Inge;Miller, Rebecca

Inge Morath Hommage


ausgezeichnet

Inge Morath war 1953 die erste Frau, die in der genossenschaftlich organisierten Fotoagentur Magnum (gegr. 1949) aufgenommen wurde. Bis heute steht Magnum für Qualitäts-Fotojournalismus und der Kreis Mitglieder ist ebenso exklusiv wie brillant geblieben.

Der Hommage-Band illustriert Inge Moraths Werk mit einem Fokus auf ihre stilprägende Periode in den Fünfziger und Sechzigerjahren. Sie entwickelt in der Zeit ein untrügliches Gespür für Eleganz und wird als Portraitistin der Avantgarde und des Filmbusiness bekannt. Eher selten ist das normale Volk ihr Thema, als Sozialfotografin tritt sie nicht in Erscheinung. Dagegen gelingt es nur wenigen wie ihr, zu den Reichen, Schönen und Berühmten ein so nahes und unverkrampftes Verhältnis aufzubauen, dass sie selber im wahren Sinn „unsichtbar“ wird. Man muss sich immer vor Augen führen, dass damals das Auslösen einer Kamera ein lautes Geräusch verursachte, auf dass Personen des öffentlichen Lebens reflexhaft reagierten. Moraths Fotos zeigen dagegen kaum jemals eine Reaktion auf die Fotografin, stattdessen legen sie die Persönlichkeit der Portraitierten offen, wie auf einem Seziertisch. Es sind raffinierte Psychogramme, die man lesen kann, wie ein Buch.

Handwerklich sind die meist schwarz-weißen Fotos auf höchstem Niveau. Perfekt durchgezeichnet, selbst unter schwierigsten Bedingungen, mit einem sicheren Gespür für Bildaufbau und Dynamik. Das matt glänzende Druckpapier spiegelt wenig und lässt auf den meist ein- oder zweiseitigen Reproduktionen alle Details sichtbar werden, dank der sehr feinen Rasterung.

Die Auswahl hat mehrere Schwerpunkte, sowohl geografisch als auch thematisch. Neben ihren Arbeiten in New York und London stehen Prominentenportraits und ihre Tätigkeit als Set Photographer an Filmsets im Fokus. Bei letzterem werden oft nicht nur einzelne Aufnahmen gezeigt, sondern Serien, die einen Kontext liefern. Ein aus meiner Sicht zu großen Raum nimmt die Inszenierung von Arthur Millers „Handlungsreisenden“ in Beijing 1983 ein, eine Serie, die qualitativ nicht mehr an frühere Arbeiten heranreicht, auch wenn die Aufführung theatergeschichtlich natürlich bedeutsam war. Moraths Reisereportagen werden exemplarisch aus Frankreich, Spanien, Russland und Iran dargestellt.

Der Band zeigt einen repräsentativen Querschnitt aus dem vielfältigen Werk Inge Moraths, insbesondere vom Gipfel ihres Schaffens zwischen 1953 und ca. 1970. So wie ihr persönliches amerikanisches Netzwerk „veraltete“ und aus dem öffentlichen Interesse verschwand, suchte sie nach neuen Wirkungsfeldern, auf denen sie jedoch nicht mehr die Bedeutung erlangte, die sie als bedeutende Chronistin in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hatte.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 07.02.2023
Der Mainzer Domschatz
Lütkenhaus, Hildegard

Der Mainzer Domschatz


ausgezeichnet

Der Mainzer Domschatz hat eine tragische Geschichte. Über Jahrhunderte galt er als einer der wertvollsten Kirchenschätze jenseits der Alpen, was aber schon früh Begierden weckte. Durch Plünderungen und Kriege bereits dezimiert, wurden, bis auf wenige Ausnahmen, sämtliche verbliebene Gold- und Silberschmiedearbeiten bei der Säkularisation 1803 entweder verkauft oder auseinandergenommen und eingeschmolzen. Die antiken Manuskripte gingen in weltlichen Besitz. Nur die materiell wenig wertvollen Paramente blieben aus früheren Zeiten erhalten und erst mit dem Rückzug der Franzosen konnte der Domschatz neu aufgebaut werden, u. a. durch die Grabungstätigkeiten im Dom um 1900. Heute hat die Schatzkammer wieder einen respektablen Bestand, der sich insbesondere in den letzten 10 Jahren durch signifikante private Stiftungen und „Rettungsdonationen“ aus diebstahlgefährdeten Pfarreien der Diözese vergrößert hat.

Wie der Domschatz im Mittelalter und der frühen Neuzeit beschaffen war, belegen zahlreiche Inventare, zum Teil sogar illustriert und mit genauen Angaben zu Materialien und Verarbeitung. Die älteste Beschreibung dokumentiert um 1250 gleichzeitig einen Raubzug der Staufer, die den Schatz dezimierten (aber wohl kaum zerstörten) und seitdem gibt es zahlreiche erhaltene Quellen zu Bestand und Stiftungen. Erstaunlicherweise ist der vorliegende Band die erste umfassende Monografie zu diesem Thema, das schon seit über 100 Jahren als Desiderat der kunstgeschichtlichen Forschung gilt. Es ist vielleicht der Umstand, dass die Rekonstruktion weitgehend im theoretischen bleiben muss, auch wenn Illustrationen und verlagerte Objekte dies in reduziertem Maß zulassen würden.

Die Quellenlage wird auf den ersten 100 Seiten dokumentiert, teilweise sehr ausführlich, in der Regel aber summarisch. Die folgenden 500 Seiten behandeln dann im Detail 96 repräsentative Objekte aus 1000 Jahren, womit etwa die Hälfte des Gesamtbestandes erfasst wird. Das älteste Objekt ist die Willigs-Glockenkasel (Ende 10. Jahrhundert), das neueste eine liturgische Gewandausstattung aus dem Jahr 2022. Der Schwerpunkt liegt insgesamt auf der Zeit nach 1500, mit wiederum einem Fokus im Barock.

Die Beschreibungen umfassen neben der reinen Materialität auch den liturgischen Einsatz, der sich teilweise von heutigen Gepflogenheiten unterscheidet. Es werden Maße, verwendete Materialien und der Erhaltungszustand dokumentiert, sowie die nachvollziehbare Provenienz. Einen großen Raum nimmt die ikonografische Beschreibung aller sichtbaren Elemente ein, die im kirchlichen Kontext immer auch eine verborgene Bedeutung haben. Nicht immer ist die optische Wirkung identisch mit dem materiellen Wert, im Gegenteil: Von den wenigen originalen Objekten aus der Zeit vor 1803 sind die meisten aus „wertlosem“ vergoldeten Messing mit Glassteinbesatz. Nur so konnten sie den „Verwertern“ entgehen.

Auch wenn in Domschätzen vereinzelt säkulare Objekte zu finden sind, sind diese zumindest im vorliegenden Katalog nicht aufgenommen. Die Auswahl zeigt eine breite stilistische Vielfalt, deren goldschmiedetechnische Qualität vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausragend ist. Auch wenn gerade diese Objekte oft stilistische Rückgriffe sind, ist die Ausführung wirklich eindrucksvoll. Erst in den 1920/30 Jahren entwickelt sich eine völlig neue, abstrakte und äußerst ästhetische Formensprache, die uns auch heute noch sofort anspricht. Sie beeindruckt nicht durch Prachtentfaltung, sondern durch Klarheit und Geometrie, bzw. durch raue Natürlichkeit von Oberflächen und Material. Es zeigt, dass die Moderne zumindest künstlerisch in der Kirche angekommen ist.

Der Katalog ist großartig illustriert und wenn er auch kein vollständiges Inventar darstellt, ist er ein repräsentativer Querschnitt durch den Bestand, mit allen Highlights und vielen kleinen und großen Entdeckungen.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 06.02.2023
Metamorphosen / Metamorphoses
Koelbl, Herlinde

Metamorphosen / Metamorphoses


ausgezeichnet

Eigentlich kennt man Herlinde Koelbl als einfühlsame Portraitfotografin, aber sie kann auch Still-life. In „Metamophosen“ sind zum ersten Mal keine Menschen zu sehen, ja bei näherer Betrachtung ist es nicht einmal lebende Materie, die sie zum Thema macht. Die Fotos zeigen in einem subtilen Farbenrausch Pflanzen in allen Stadien des Verwelkens, meist im Close-up, ganz nah an den Strukturen, die man zwar auch mit bloßem Auge erkennen könnte, die man aber nur selten bewusst wahrnimmt. So entstehen phantastische, abstrakte Farbräume, die durch Formen und Bildaufbau ganz eigene künstlerische Qualitäten entwickeln. Oft muss man zweimal hinsehen, um den Bezug zur Natur zu bemerken, denn anders als bei den auf Symmetrien fokussierten Fotos z. B. bei Karl Blossfeldt stehen bei Herlinde Koelbl die ungeregelten Elemente im Vordergrund. Man entdeckt, dass welkende Blütenblätter ein viel größeres Farbspektrum aufweisen als frische, dass ein vertrocknetes Aloenblatt einem fossilen Raubtiergebiss gleicht und dass ein Schimmelrasen surreal wie eine außerirdische Landschaft sein kann. Im Vergehen entsteht etwas völlig Neues, so wie aus toter Materie neues Leben wächst.

Die Fotos sind unkommentiert ganzseitig abgebildet und bilden jeweils ein Paar im Dialog, ja selbst über die Seiten hinweg wird eine übergreifende Farbregie erkennbar. So bekommt der auch als begleitender Ausstellungskatalog gedachte Band einen eigenständigen künstlerischen Wert. Die exzellente Druckqualität auf schwerem, mattem Papier, das trotzdem ein sehr präzises und scharfes Druckbild mit ausgewogenen Kontrasten bei gleichzeitig perfekter Durchzeichnung der Details erlaubt, bestätigen nur noch einmal, dass es Bücher über Kunst gibt, aber auch Bücher, die selber zur Kunst werden.

Herlinde Koelbl interpretiert das Memento mori auf moderne Art, ganz ohne erhobenen Zeigefinger, sondern einfach als Momentaufnahme in einem ewigen, natürlichen Kreislauf. Jedes Stadium des Lebens besitzt seine eigene Schönheit, es kommt nur auf den richtigen Blick an.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 05.02.2023
Die 50 besten Börsenbücher aller Zeiten
Bieg, Peter-Matthias;Stampfer, Philipp

Die 50 besten Börsenbücher aller Zeiten


ausgezeichnet

Der Markt an Börsenbüchern ist unübersichtlich, insbesondere, wenn man die englischsprachigen Titel hinzunimmt. Die Autoren Peter-Matthias Bieg und Philipp Stampfer haben die Spreu vom Weizen getrennt und ihre persönlichen 50 besten Finanztitel zusammengestellt. Herausgekommen sind Empfehlungen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln: Grundlagen für Einsteiger und Titel für Fortgeschrittene, Bücher mit geschichtlichem und philosophischem Hintergrund, aber auch Spezialthemen wie Psychologie und Statistik. Auch Biografien und Wirtschaftsthriller sind dabei, ebenso einige Lehr- und Handbücher.

Die Aufbereitung der Empfehlungstitel erfolgt immer nach dem gleichen Muster. Nach Nennung des Erstauflagejahrs, der Seitenzahl und dem Verlag haben die Autoren den Inhalt mit Schlüsselbegriffen verschlagwortet. So weiß der Leser schnell, welche Themen in dem vorgestellten Buch behandelt werden. Warum die Autoren diese Schlüsselbegriffe nicht in ein übergreifendes Stichwortverzeichnis aufgenommen haben, ist mir ein Rätsel. Das wäre ein echter Mehrwert gewesen.
Nach einer kurzen Kernaussage fassen Bieg und Stampfer dann den Inhalt auf ein paar Seiten zusammen. Ob man dann noch das Original lesen will, kann jeder selbst entscheiden. Für 34 der 50 Titel gibt es übrigens keine deutschsprachige Übersetzung.

„Die 50 besten Börsenbücher aller Zeiten“ geben natürlich die subjektive Meinung der Autoren wieder, die aber stets nachvollziehbar ist. Viele der Titel kenne ich bereits und sie gehören auch zu meinen Favoriten. Dass es aber keine deutschsprachigen Autoren in ihre Liste geschafft haben, finde ich sehr bedauerlich und auch nicht ganz gerechtfertigt.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 04.02.2023
Wie Künstliche Intelligenz unser Leben prägt

Wie Künstliche Intelligenz unser Leben prägt


gut

Warum gibt es zur Zeit mal wieder einen Hype um die Künstliche Intelligenz (KI)? Eigentlich sind alle Künstlichen Intelligenzen (KI) doch nur Computeralgorithmen, die bestimmte Aufgaben in hoher Geschwindigkeit und Genauigkeit erledigen. Hinzu kommen aber noch zwei spezielle Eigenschaften, die sie von anderen Programmen abhebt und die sich in den letzten Jahren erheblich professionalisiert haben. KI erkennt und lernt Muster, Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge in Daten und besitzt die Fähigkeit, neue, „kreative“ Lösungen für Probleme zu finden. Das Schachprogramm Alpha-Zero spielt besser als jeder Mensch.

In 34 Fachbeiträgen gehen 60 (!) Autorinnen und Autoren zusammen mit dem Herausgeber Markus H. Dahm der Frage nach, was KI heute bereits kann und wie sie aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln unser privates, wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben prägt.

Um auch Leser abzuholen, die sich bisher nicht mit dem Thema beschäftigt haben, zeichnen sie zunächst die Entwicklung der KI der letzten 40 Jahre nach und erläutern, was die KI von menschlicher Intelligenz unterscheidet. Sie diskutieren die moralischen und ethischen Aspekte der KI (Bewerberauswahl mittels KI, Entscheidungsdilemma beim autonomen Fahren, Algorithmen im Gesundheitswesen u.a.), thematisieren die Fehler der Vergangenheit und geben Handlungsempfehlungen zur Akzeptanz von KI, z. B. durch Transparenz zur Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen.

Die Auswirkungen der KI auf das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen waren für mich besonders interessant, da der Zusammenhang bisher für mich nicht so offensichtlich war. Mit KI-Disziplinen wie Monitoring, Entscheidungsfindung, Vorhersagen, Mustererkennung zeigen die Autoren anhand vieler Beispiele aus der Praxis die Relevanz der KI.

Besonders hoch ist der Nutzen der KI für Unternehmen in der Kundenkommunikation, dem Marketing, E-Commerce und der Logistik. Aber auch für den Kunden und Arbeitnehmer? Den Einsatz von Sprach-KI z. B. mit „Chat- und Sprachbots“ im Kundendialog sehe ich bei weitem nicht so optimistisch wie die Autoren. Wer hat sich noch nicht über die Sprachsteuerung beim telefonischen Kundenservice geärgert? Ich habe auch Zweifel, ob sich die Veränderung der Jobprofile sowie der Wegfall von Tätigkeiten durch Einsatz von KI wirklich als Chance für die Spezialisierung der Arbeitnehmer herausstellt. Dass es Millionen von Arbeitsplätzen kosten wird, ist eher wahrscheinlich.

Mit vielen Fallstudien und Best Practises (z. B. Otto, BMW, Lufthansa) erläutern die Autoren, wie sich die KI auf die Branchen wie Luftfahrt, Gesundheitswesen, Bau- und Immobilienwirtschaft auswirkt.

Die Fachbeiträge sind überwiegend aufschlussreich, interessant und verständlich. Einige Artikel haben auf mich allerdings gewirkt, als wären sie von einem Automaten ins Deutsche übersetzt worden (z. B. „Golem im Handy“ von den tschechischen Autoren Janousek und Kartous), andere waren mir zu verschwurbelt und anstrengend formuliert (z. B. „KI fressen Seele auf“).

Dem Herausgeber gelingt es sehr gut, einen roten Faden durch die Beiträge aufrecht zu halten. Leider hat er aus meiner Sicht versäumt, die negativen Aspekte der KI kritisch und ausführlich zu betrachten. Insgesamt fehlte mir die Ausgewogenheit in Pro und Contra. Wenn man sich die Liste der Autoren anschaut, wird auch klar, warum: Neben Wissenschaftlern, die dazu neigen, die Thematik eher theoretisch aufzurollen, stammen die Aufsätze vor allem von Unternehmensberatern, Rechtsanwälten und Entwicklern von KI-Software, die natürlich ein Interesse daran haben, ihre Expertise in ein rosiges Licht zu stellen.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 01.02.2023
Die 88 Tempel von Shikoku
Dunskus, Oliver

Die 88 Tempel von Shikoku


ausgezeichnet

Die 88 Tempel von Shikoku sind nach dem Saigoku (33 Tempel im Kernland Honshus) der zweitwichtigste Pilgerweg in Japan. Shikoku ist aufgrund seines gebirgigen Geländes deutlich weniger entwickelt als die anderen Hauptinseln und insbesondere im Inneren werden aufgrund des Bevölkerungsrückgangs immer mehr Dörfer und Straßen aufgegeben. Der Pilgerweg führt hauptsächlich an der Küste entlang und hat sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt, auch wenn die Touristenzahlen nicht annähernd an den Saigoku oder die Jakobswege in Frankreich/Spanien heranreichen. Shikoku ist eine Welt für sich und die Menschen dort haben sich eine aufgeschlossene Freundlichkeit Fremden gegenüber bewahrt. Übrigens auch gegenüber Fremden aus dem Ausland, was bei den kleinen und größeren Problemen, die während einer 1200 km langen Pilgerreise immer auftauchen werden, sehr hilfreich sein kann. Wegen der Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft der Shikokianer ist die Wanderung auch für Menschen, die kein Japanisch sprechen, kein grundsätzliches Problem und das, obwohl in Japan Wenige Englisch sprechen. Der kurze japanische Sprachführer im Anhang ist leider wegen fehlender Aussprachehilfe nur von begrenztem Nutzen.

Das Buch von Oliver Dunskus versteht sich als Ergänzung zum englischsprachigen Handatlas „Shikoku 88 Route Guide“ von Naoyuki Matsushita. Der Handatlas enthält sehr detailliertes Kartenmaterial, auf das der deutsche Reiseführer weitgehend verzichtet. Nur in Fällen, in denen Matsushitas Wegführung aufgrund des Maßstabs unklar ist oder das Risiko besteht, sich zu verlaufen, hat Oliver Dunskus eigene Karten ergänzt. Außerdem gibt er Empfehlungen aus eigener Erfahrung zu Unterkunft und Verpflegung, die im Handatlas fehlt.

Die Einleitung zeigt einen starken Praxisbezug, mit durchdachten Packlisten, einer ausgezeichneten Empfehlung zur optimalen Reisezeit, Kostenschätzungen und Tipps zu Transport, Fortbewegung und korrektem Verhalten. Aus buddhistischer Sicht ist es unerheblich, ob man den Pilgerweg zu Fuß geht oder mit dem Auto oder Bus fährt, daher gibt es auch praktische Hinweise zum öffentlichen Nahverkehr. Die aktuellen Busverbindungen findet man übrigens wieder in Matsushitas Handatlas. Die Verpflegung in Japan ist üblicherweise kein Problem, aber es gibt ein paar Besonderheiten, die Oliver Dunskus anschaulich beschreibt. Ein sehr interessantes Kapitel behandelt die traditionelle Pilgerkleidung, die man insbesondere bei den „Start-Tempeln“ erwerben kann. Hier erklärt Dunskus auch ein wenig den spirituellen Hintergrund, der ansonsten nicht im Fokus steht. Die Biografie von Kobo-Daishi, dem vermutlichen Begründer des Pilgerwegs und einer der buddhistischen „Urväter“ Japans, ist dagegen eine Art roter Faden, der sich in vielen Tempelsteckbriefen wiederfindet.

Die einzelnen Tempel sind nummerisch aufgelistet, wobei die Zwischenstrecken ebenfalls kurz beschrieben werden. Alle Tempelnamen sind auch auf Japanisch vermerkt, was bei Nachfragen vor Ort hilfreich ist. Ebenfalls angegeben sind die Kilometermarken und die Länge der nächsten Etappe, wobei größere Steigungen (manchmal mit detaillierten Höhenprofilen) oder schwierige Wege erwähnt werden. Letzteres ist eher selten der Fall, da 85 % der Strecke asphaltiert ist, allerdings meist auf weniger befahrenen Nebenstraßen. Sehenswürdigkeiten, empfehlenswerte Restaurants oder Supermärkte, Unterkünfte etc., die am Weg liegen, werden gesondert aufgelistet und nicht zuletzt gibt Oliver Dunskus auch seine persönliche Wertung zur Attraktivität und Lage des Tempels ab. Eine stets aktualisierte Liste mit persönlich empfohlenen Unterkünften kann man beim Autor per E-Mail erfragen.

Historische Informationen zu den Tempeln oder ihren Gebäuden gibt es eher spartanisch, denn das Buch versteht sich ausdrücklich nicht als Kunst- oder Kulturführer. Aufgrund seiner hohen Praxisorientierung ist Oliver Dunskus‘ taschentauglicher Band als deutschsprachige Ergänzung zu Matsushitas Kartenmaterial ideal zur Vorbereitung und zur schnellen Übersicht vor Ort.

(Dieses Buch wurde mir vom Autor kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 31.01.2023
This Is Going to Hurt
Whishaw,Ben/Mod,Ambika/Jennings,Alex/+

This Is Going to Hurt


ausgezeichnet

Adam Kay ist Gynäkologe an einer NHS-Klinik. Als stellvertretender Oberarzt ist er gerade so weit unten in der Hackordnung, dass er nichts zu sagen hat, dafür aber die volle Verantwortung trägt. Als eine Patientin aufgrund einer unter Stress erfolgten Fehldiagnose eine Frühgeburt erleidet, wird er angezeigt, gerät in die Mühlen der Bürokratie und wird gleichzeitig Opfer der Hierarchie. Auch zu Hause läuft nicht alles rund: Er lebt zwar seit über zwei Jahren mit seinem liebevollen Freund zusammen, hat sich gegenüber seiner Familie aber noch nicht geoutet, aus Angst vor der Reaktion seiner Mutter, die ihn ständig zu verkuppeln sucht. Unlösbare Probleme, wohin er auch schaut.

Das klingt nach richtig schwerer Kost und das ist es im Prinzip auch - wenn nicht Adam Kay das Drehbuch geschrieben hätte. Der echte Adam Kay hat vor 10 Jahren seinen Beruf als Gynäkologe an den Nagel gehängt, ist heute ein bekannter Autor und Comedian und seine pointensicheren Dialoge, die vor Witz und Geist nur so sprühen, sind atemberaubend rasant, genauso wie sein Gespür für Timing und originelle Einfälle. Sie prasseln manchmal auf den Zuschauer wie ein Hagelsturm, mit einer Gagdichte und Präzision, dass man sich am Ende einer Episode wie nach einem Vollwaschgang fühlt. Die absurden Situationen, die den NHS (wir erinnern uns: Das ist das hochgelobte britische Gesundheitssystem, dem wir den Brexit verdanken) zu einem organisatorischen Tollhaus machen, ziehen sich als Running Gag durch alle Episoden. Wo die Chefärzte im Sportwagen vorfahren und Adam im schrottreifen Mini nach einer Dreifachschicht am Lenker einschläft. Die Serie findet immer die richtige Balance zwischen Tragik und Komik, es wird nie trivial oder auch nur respektlos. Die arbeitende Belegschaft ist körperlich und seelisch am Limit, ständig übermüdet, ständig überfordert und dazu von den Vorgesetzten gemobbt, dass es trotz der unterhaltsamen Schlagfertigkeit oft schwer erträglich ist. Wäre da nicht Adams hingebungsvoller Partner Harry, würde sich Adam wohl irgendwann an den nächsten Baum hängen. Ich kann hier nicht mehr verraten, aber die Situation wird zunehmend dramatisch.

Ben Whishaw spielt den physisch und psychisch ausgelaugten Adam so einfühlsam, dass man ihn gerne in den Arm nehmen und damit trösten möchte, dass es schlimmer kommen könnte. Nur leider kommt es schlimmer. Es ist ein ständiges Wechselbad der Gefühle: Adam ist zerrissen zwischen dem Anspruch an seine Beziehung, der Vorstellung der Patienten von einem übermenschlichen, ständig verfügbaren und fehlerlosen Arzt auf der einen und der systematischen Fehlallokation von Mitteln im NHS-System (der Woke-Sprech-Kurs für alle Mitarbeiter*innen ist natürlich viel wichtiger als den defekten Computer zu ersetzen), den rückgradlosen Vorgesetzten und seinem langsam leerlaufenden Lebensakku auf der anderen Seite.

Das ist richtig gutes Fernsehen, wie es deutsche Sender schon lange nicht mehr produzieren. Dramatisch, rasant und politisch unkorrekt, wo die Political Correctness ins Absurde abdriftet (und dadurch genau das wird, was sie selber bekämpfen will: rassistisch, diskriminierend, verschleiernd und gesellschaftlich spaltend). Außerdem romantisch, witzig, originell, und im Drehbuch genial umgesetzt. Die Schauspieler sind wunderbar besetzt, bis in die letzte Nebenrolle hinein. Der Autor hat leider angekündigt, dass er keine zweite Staffel schreiben will, weil ihn die Arbeit Jahre seines Lebens gekostet hat und er nichts Halbgares auf die Zuschauer loslassen möchte. Das ist schade, aber zum Glück hat die Serie ein eigenständiges Ende.

Wenn es sechs Sterne zu vergeben gäbe, „This is going to hurt“ würde sie von mir bekommen. Das ist Premium-Fernsehen, das die Zeiten überdauern wird.

(Diese DVD wurde mir von Polyband kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 30.01.2023
Verlassenes Japan
Meow, Jordy

Verlassenes Japan


ausgezeichnet

Wer das Hochglanzjapan aus den Medien kennt, die spiegelnden Wolkenkratzer, die neonglitzernden Innenstädte und die peinlich sauberen Schnellzüge, der kann sich kaum vorstellen, dass es auch die andere Seite gibt: Die Shutter-dori in den Randbezirken, wo die Geschäfte reihenweise schließen, die halb verlassenen Dörfer im Bergland, deren Bevölkerung rapide überaltert, oder die einsamen Industrieruinen, die sich die Natur langsam zurückholt. Auch das ist Japan und ich erinnere mich sehr gut an die seltsame Atmosphäre an diesen Orten. Melancholisch, verloren, dramatisch, schicksalsergeben und manchmal auch ein wenig gruselig. Auch in Japan gibt es eine verschworene Gemeinschaft, die um diese Lost Places einen Kult entwickelt hat. „Haikyo“ oder „verlassener Hügel“ heißen sie auf Japanisch und ihre Adressen werden gehütet wie ein kostbares Geheimnis; nur die Fotos werden ins Netz gestellt und es gilt die Regel, nichts als ein paar Fußspuren zu hinterlassen. Da die meisten Japaner solche Orte meiden, bleiben sie über Jahre und Jahrzehnte völlig unangetastet und bekommen eine Patina, die zum Beispiel in Deutschland undenkbar wäre.

Jordy Meow ist ein französischer Fotograf, der in Japan lebt und arbeitet und Haikyo sind seine Leidenschaft. Er fängt in seinen außergewöhnlichen Bildern die Stimmung aufgegebener und verfallener Häuser ein, mit einem sicheren Gespür für Details und einem untrüglichen Auge für Lichtführung und Farbe. Manche Räume wirken fast surreal, wie aus einer Filmkulisse geliehen. Die kurzen Texte, mit denen Jordy Meow die Kapitel begleitet, lassen ahnen, dass sich die Besucher immer am Rande der Legalität bewegen und vor allem die ungeschriebenen japanischen Verhaltensregeln brechen. Wie sonst könnten seit 30 Jahren leerstehende Privathäuser noch komplett eingerichtet, bis zum Inhalt der Kühlschränke erhalten sein? Die Bilder haben zweifellos etwas geheimnisvoll Voyeuristisches, wenn z. B. ein altes Gebiss zum gruseligen Accessoire wird oder in einer verlassenen Klinik die OP-Lampen wie vieläugige Aliens von der Decke starren. Manchmal nimmt Jordy Meow die vor Ort gefundenen Objekte zum Anlass, mehr über die ehemaligen Bewohner zu recherchieren, was sich beim sogenannten „Königshaus“ zu einer echten Detektivgeschichte entwickelt. So wird die Vergangenheit nicht nur in den Relikten lebendig, sondern die nachträglich ermittelte Information entreißt manchmal Orte und Personen der Vergessenheit. Lebende Menschen sind dagegen auf keinem einzigen Foto zu sehen.

Das Buch ist in Abschnitte mit unterschiedlichen Themen gegliedert: Städte (und Dörfer), Schulen, Kranken- (und Irren)häuser, Freizeitparks und Industrie. Es fehlen im Prinzip nur noch verlassene Tempel und Schreine, aufgegebene Bahngelände, Brücken und Straßen als Haikyo-Kategorien, aber das ist vielleicht eine gute Idee für Jordy Meows nächstes Buch.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 29.01.2023
Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723)

Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723)


ausgezeichnet

Johann Bernhard Fischer von Erlach hat Wien und der KuK-Monarchie seinen bleibenden Stempel aufgesetzt. Für den Wiener Hofadel entwarf er prunkvolle Paläste, von denen das Winterpalais des Prinzen Eugen, die Palais Clam-Gallas, Trautson, und Batthyany-Schönborn, sowie die Böhmische Hofkanzlei zumindest äußerlich weitgehend authentisch erhalten sind, und er schuf die Hofstallungen und Hofbibliothek. Zu den von ihm entworfenen religiösen Bauwerken gehört die architektonisch ungewöhnliche Kollegienkirche in Salzburg und natürlich die Karlskirche in Wien. Neben diesen Leuchtturmprojekten gibt es noch zahlreiche weitere profane und religiöse Bauten, die ihm mehr oder weniger sicher zugeschrieben werden können. Leider sind selbst für die hochherrschaftlichen Palais nur in wenigen Fällen Bauunterlagen oder Rechnungen erhalten geblieben, die Fischer von Erlachs Beiträge quellentechnisch sauber belegen, aber es gibt genügend indirekte Hinweise aus der Korrespondenz, die durch stilistische Vergleiche und eigenhändige Skizzen Fischers untermauert werden.
Es mag diese etwas lückenhafte Quellenlage sein, die die Bauforschung über Fischer von Erlach gehemmt hat, aber mit der vorliegenden Monografie wird der aktuelle Forschungsstand aus vielen Blickwinkeln aufgearbeitet und zum Teil ergänzt. Exzellent illustriert und von den Experten ihres Faches geschrieben, werden sowohl die Einflüsse aus der italienischen, französischen und englischen Architektur vom Ende des 17. Jahrhunderts entschlüsselt, als auch die Wirkung von Fischer von Erlachs neuartigen architektonischen Lösungen auf seine Nachfolger. Er entwickelt die in der Renaissance begonnene Rückbesinnung auf die Antike technisch und künstlerisch zum Klassizismus fort und öffnet die Innenräume für eine raffinierte Lichtregie, wobei ihm seine Ausbildung als Bildhauer zur Hilfe kommt. Seine Innenräume sind skulptural gegliedert, strukturiert durch Stuckornamente und Materialien, weniger jedoch durch Malerei, die er, wenn überhaupt, nur in Maßen einsetzt, wodurch sie besonders wirkungsvoll bleibt. Sein Leben lang war er auch aktiv als Bildhauer tätig, trotz seiner offiziellen Position als Oberinspektor aller Hof- und Lustgebäude.

Der Band ist nicht nur biografisch interessant (auch hier gibt es immer noch erhebliche Wissenslücken), sondern hat seinen besonderen Fokus auf der Bau- und Architekturgeschichte. Mit Hilfe zahlreicher Illustrationen werden historische Ansichten, Skizzen und rezente Zustände von Fischer von Erlachs Bauten verglichen und später auch in einen internationalen Kontext gesetzt. Die Ausführungen erlauben es, seine unverwechselbare „Handschrift“ lesen zu lernen, die zwar keine direkten Nachahmer fand, im Detail aber in ganz Europa Spuren hinterließ.

Johann Bernhard Fischer von Erlach steht sowohl im Ruf eines singulären Genies als auch eines weit überschätzten Dilettanten, was beides nicht der Wahrheit entspricht. Diese Monografie sucht für den Architekten und Baumeister einen angemessenen Platz in der Architekturgeschichte, fasst den aktuellen Forschungsstand kritisch zusammen und weist auf offene Forschungsfragen und quellentechnische Interpretationsschwierigkeiten hin. Die Beiträge nutzen zwar gelegentlich die architektonische Fachsprache, sind aber auch für ein Laienpublikum ohne weiteres verständlich.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)