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Buchbesprechung
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 16.06.2019
Ein perfider Plan / Hawthorne ermittelt Bd.1
Horowitz, Anthony

Ein perfider Plan / Hawthorne ermittelt Bd.1


sehr gut

REZENSION – Eine ungewöhnliche und intelligente Detektivgeschichte mit typisch britischem Humor und ironischen Spitzen gegen die Welt der Film- und Literaturschaffenden, dabei völlig unblutig, nach klassischem Muster erzählt, aber in unserer Zeit spielend, hat uns Englands Bestseller-Autor Anthony Horowitz (64) mit seinem neuen Roman „Ein perfider Plan – Hawthorne ermittelt“ beschert. Dazu muss man wissen, dass Horowitz als einer der produktivsten und erfolgreichsten Schriftsteller Großbritanniens vor Jahren von den Erben Conan Doyles offiziell beauftragt wurde, neue Geschichten um Sherlock Holmes zu schreiben (2011: „Das Geheimnis des weißen Bandes“; 2014: „Der Fall Moriarty“). Eine moderne Holmes-Watson-Variante ist nun dieser erste Band seiner neuen Reihe „Hawthorne ermittelt“.
Ungewöhnlich und deshalb für heutige Leser interessanter ist die Tatsache, dass Anthony Horowitz – der Jugend bekannt durch seine Alex-Rider-Abenteuer, den Erwachsenen durch neue James-Bond-Romane oder Drehbücher zu Agatha Christies Poirot-Verfilmungen und die beliebte TV-Serie „Inspector Barnaby“ – sich hier selbst als modernes Watson-Double und Erzähler in die Handlung einbringt, um gemeinsam mit seinem fiktiven Protagonisten, dem Privatermittler Daniel Hawthorne, Mordfälle aufzuklären. Horowitz gibt eingangs vor, diesen bei der Kriminalpolizei suspendierten und heute bei Filmproduktionen als Berater mitwirkenden Hawthorne bei Arbeiten am Filmset zu „Foyle's War“ kennengelernt zu haben – einer britischen TV-Serie nach Horowitz-Drehbüchern, die es tatsächlich gibt. So baut der Autor ständig Reales um seine Person, seine Arbeit und seine Werke in die fiktive Handlung ein, wodurch „Ein perfider Plan“ fast real und glaubhaft wirkt.
Worum geht es? Kaum, dass die wohlhabende und allein lebende Diana Cowper in einem Londoner Bestattungsunternehmen den genauen Ablauf ihrer eigenen Beerdigung festgelegt hat, wird sie zuhause erdrosselt aufgefunden. Während der zuständige Chief Inspector Meadows noch von einem Zufallsmord durch Einbrecher ausgeht, ermittelt Ex-Polizist Hawthorne im Auftrag eines hochrangigen Auftraggebers bei der Polizei den tatsächlichen Sachverhalt. Hawthorne wiederum beauftragt Bestseller-Autor Anthony Horowitz, ihn bei der Aufklärung des Falles zu begleiten und ein Buch darüber zu schreiben. Horowitz zögert, da sein Verlag gerade auf ein ganz anderes Buch von ihm wartet. Zudem ist ihm Hawthorne unsympathisch: „Er hatte die Geschmeidigkeit einer Raubkatze … und in seinen weichen braunen Augen lag eine Boshaftigkeit, die mich herauszufordern und zu bedrohen schien“. Doch dann verfällt er doch der Intelligenz dieses Detektivs, der für seine hohe Aufklärungsquote berühmt ist.
Ganz nach Art von Holmes und Watson machen sich nun der Schriftsteller und sein fiktiver Protagonist an die Aufklärung des Mordfalles. Doch im Verhältnis beider gibt es einen gewaltigen Unterschied zu Holmes und Watson. Während Watson seinen Meisterdetektiv bewundert, lehnt Horowitz seinen Helden ab. „Wenn ich mich hingesetzt hätte, um einen fiktiven Kriminalroman zu schreiben, hätte ich bestimmt keinen Protagonisten wie Hawthorne als Helden gewählt.“ Es bleibt bei einem unpersönlichen, für Horowitz fast erniedrigenden Arbeitsverhältnis, was den doch so berühmten Autor kränkt: „Ich hatte zugelassen, dass ich zum stummen Partner, einer Randfigur in meinem eigenen Buch wurde. … Das durfte nicht länger so bleiben! Viel zu lange war ich hinter ihm hergedackelt.“
„Ein perfider Plan“ ist ein wunderbares Buch für alle Freunde klassisch erzählter Detektivgeschichten, britisch-humorvoll geschrieben, ein im besten Sinne intelligenter Unterhaltungsroman. Auf eine baldige Fortsetzung dürfen wir uns sicher freuen, denn der zweite Fall erschien bereits 2018 in England mit dem Titel „The Sentence Is Death“.

Bewertung vom 10.06.2019
Dschungel
Karig, Friedemann

Dschungel


ausgezeichnet

Das Spannende an Debütromanen ist das Unerwartete, der Überraschungseffekt, weshalb man als Leser unbekannten Autoren immer eine Chance geben sollte. Eine solche literarische Überraschung ist zweifellos „Dschungel“, der erste Roman des Journalisten und Sachbuch-Autors Friedemann Karig (37). Es ist die in erfrischender Sprache lebensecht wirkende Geschichte einer echten Männerfreundschaft – die Geschichte zweier Kindheits- und Jugendfreunde, die völlig gegensätzlich im Charakter nur gemeinsam ein Ganzes bilden und deshalb ohne den anderen nicht auskommen können.
Felix ist der Extrovertierte, der kein Risiko scheut, während der namenlose Erzähler „immer so ein bisschen wie ein Hündchen an der Leine hinterhergeschleift wird und ihn einzufangen versucht“, wie es Karig in einem Interview formuliert. Felix ist nun seit Wochen ohne jegliches Lebenszeichen in Kambodscha verschwunden. Der Erzähler sieht sich als dessen „Zwillingsbruder“ als einziger befähigft, ihn zu finden. „Warum eigentlich du? Willst du auch mal ein Held sein?“, fragt ihn seine Freundin Lea.
In einer spannungsreichen, dabei zugleich philosophisch tiefgehenden Kombination aus Reise- und Coming-of-Age-Roman erfahren wir während seiner Suche in kambodschanischen Hostels und einer von alternden Hippies besetzten Insel immer wieder in Rückblenden vom Wachsen dieser intensiven Freundschaft, beginnend schon in Grundschultagen: „Wir waren schlau, wir waren gierig, wir waren neun.“ Die Freunde verbringen jede freie Stunde miteinander, machen als Pubertierende ihre ersten Erfahrungen mit Mädchen, Alkohol („Wir waren betrunken, wir waren die Zukunft, wir waren fünfzehn.“) und Drogen. „Wir waren im Wald, im Dschungel nahe dem alten Lager am Stauwehr. Wie immer, wenn uns wirklich niemand erwischen sollte.“ Nach einer Prügelei wegen eines Mädchens erkennt der Erzähler die ihm wichtigere Bindung an den Freund: „Erst als er um Gnade flehte, ließ ich ab von ihm. Vom besten Freund, den ich jemals haben würde. Niemals würde ich ihn im Stich lassen, schwor ich mir, niemals.“
Jetzt begleiten wir den Erzähler auf seiner verzweifelten Suche nach Felix. Autor Friedemann Karig lässt sie uns diese Suchaktion nicht nur aktiv miterleben, sondern er lässt uns in des Erzählers Gedanken- und Traumwelt eintauchen, das Unverständliche seines Handelns verstehen. Mit jedem Schritt tiefer in den kambodschanischen Dschungel, umso schneller verblasst die Erinnerung an alles bisher in Deutschland Erlebte. Dies wird auch in der Dramaturgie des Romans deutlich: Je näher wir dem Endpunkt der Suche kommen, umso seltener und kürzer werden die Rückblenden in die Jugendzeit der beiden Freunde. Man kann ein neues Leben nur beginnen, wenn man sich vom alten völlig löst, jede Erinnerung auslöscht. Erst tief im kambodschanischen Dschungel, in einem „Dorf ohne Erinnerung“, wird dem Erzähler klar, warum er seinem Freund folgen musste: „Ich liebte und ich hasste dieses Leben mit ihm. Die Angst, nicht zu genügen, auf der Bühne seines Bewusstseins keine Rolle zu spielen, oder eine schlechte, langweilige. Und die Hoffnung auf die seltenen Momente, in denen ich für ihn glänzte. Ich war ihm hierher gefolgt, um ein für alle Mal die Hauptrolle zu bekommen.“
Friedemann Karig hat einen beeindruckenden Roman geschrieben. Es ist eine ungewöhnliche und zugleich spannende, in den Rückblenden an die gemeinsamen Kinder- und Jugendjahre auch unterhaltsame Geschichte. Vor allem aber ist es Karigs Formulierungskunst, die diese psychologisch-philosophisch tiefgehende Geschichte dennoch locker und leicht erscheinen lässt und sein Debüt zu einem literarischen Genuss macht.

Bewertung vom 28.05.2019
Düsternbrook
Milberg, Axel

Düsternbrook


gut

REZENSION - Fehlen in der Autobiographie bekannter Schauspieler jene zur voyeuristischen Befriedigung ihrer Leser nötigen Höhepunkte, muss entweder der Verlag sein Marketing verstärken oder der Autor seinen Erinnerungen noch Fiktives hinzufügen. Beides scheint beim literarischen Debüt des vor allem als Kieler Tatort-Kommissar Borowski beliebten Axel Milberg (62) der Fall zu sein: In „Düsternbrook“ schildert der Schauspieler auf 290 Seiten seine Kinder- und Jugendjahre im gleichnamigen Kieler Villenviertel.
Düsternbrook ist die Welt des kleinen und heranwachsenden Axel. Ein Nobelviertel mit wohlsituiertem Elternhaus, humanistischem Gymnasium, Tennisclub, Segelverein, der Gemüsehändlerin und Bäcker Iwersen. Die Mutter ist Ärztin und Hausfrau, oft gestresst und zu den Kindern manchmal herb. Der Vater ist Rechtsanwalt und Notar, von eher harmlosem Charakter („Ich habe drei Kindern, eines von jeder Art.“). Der Großvater ist Gutsbesitzer und verkehrt im Kreise holsteinischen Adels. Milberg schildert das großbürgerliche, fast klischeehafte Millieu einer akademisch gebildeten Familie in den Sechzigern und Siebzigern.
"Sich erinnern heißt erfinden“, wird Milberg im Interview zitiert. „Wir denken: Genau so war es, aber wir … verwechseln es mit dem, was damals vielleicht tatsächlich passiert ist." Doch passiert ist gar nicht viel in Milbergs Kindheit und Jugend. Was gibt es schon Spannendes im Leben eines gut behüteten Schulkindes oder Jugendlichen, was das Verfassen eines Buches rechtfertigen könnte? So erfindet Milberg einiges hinzu, mischt Fakten mit Fiktion. „Düsternbrook“ ist also keine reine Autobiographie mit Aneinanderreihung von Fakten, von Anekdoten und Erlebnissen. Es ist allerdings auch kein richtiger Roman. „Düsternbrook“ ist eine – chronologisch nicht immer sauber eingehaltene, deshalb manchmal irritierende – Sammlung von Episoden, teils aus der Erinnerung geschrieben, teils auch nur ausgedacht.
Doch reicht dies noch nicht für ein Werk literarischen Anspruchs. Man darf Milberg zugute halten, dass er nie versucht, seine Person allzu stark in den Vordergrund zu drängen. Als Autor nimmt er sich zurück, ist eher ein Beobachter. Dieser Abstand macht es ihm möglich, bestimmte Szenen augenzwinkernd und ironisch zu schildern. Aber das reicht nicht, den Leser durchgängig zu fesseln, zumal manche Szene unnötig in die Länge gezogen ist.
Es gibt durchaus interessante Passagen im Buch: Wenn Milberg von den Gesprächen mit seinem homosexuellen Onkel Don Fernando aus Mexiko erzählt oder über den Vortrag des Schweizer Ufologen Erich von Däniken in seiner Gelehrtenschule berichtet, woraufhin sich der Gymnasiast prompt auf die Suche nach Außerirdischen macht. Oder wenn Milberg über sein Zusammentreffen mit „Goldfinger“ Gert Fröbe schreibt, der mit seinem Morgenstern-Programm in Kiel gastierte. Nur: Warum gibt Milberg Fröbes Bühnenauftritt in allen Einzelheiten wieder? Warum schildert Milberg das Zusammentreffen des einstigen Bühnenmalers Fröbe mit dem in dessen Jugend bekannten Schauspieler Erich Ponto? Sicher eine amüsante Anekdote, aber sie gehört doch eher in Fröbes Memoiren, nicht aber in Milbergs Buch. Wie Ponto einst Fröbe zum Theater, habe Fröbe den Kieler Philosophie-Studenten Milberg zur Schauspielerei ermutigt. Doch über Milbergs Schauspieler-Ambitionen ist im ganzen Buch außer einer Mitwirkung in einer Schüleraufführung und seiner gelegentlichen Flucht in Traumwelten nichts zu erfahren.
Warum Milberg zwischen seine Kindheitserlebnisse zusätzlich noch einige unzusammenhängende Kapitel über einen sich zum Triebtäter entwickelnden Mann mischt, der bald als Sohn der Gemüsehändlerin auszumachen ist, bleibt offen. Vielleicht, um der sonst im Buch fehlenden Spannung etwas nachzuhelfen? War dieser Fall nun Fakt oder nur Fiktion? Der Autor lässt uns mit dieser Frage ebenso allein, wie er auch andere Episoden offen lässt.

Bewertung vom 24.05.2019
Zara und Zoë - Rache in Marseille / Die Profilerin und die Patin Bd.1
Oetker, Alexander

Zara und Zoë - Rache in Marseille / Die Profilerin und die Patin Bd.1


weniger gut

REZENSION - Nicht nur beruflich als Polit-Korrespondent beim Fernsehen und vormaliger Leiter eines Korrespondentenbüros in Paris, sondern auch durch seine häufigen Privataufenthalte in Frankreich ist Krimi-Autor Alexander Oetker (37) gewiss ein Kenner des französischen Politik- und Gesellschaftsystems, über dessen Probleme wir in Deutschland gerade in den vergangenen Jahren aufgrund dortiger Terroranschläge und Gelbwesten-Krawalle viel erfahren haben. Nach seinen ersten, seichteren Krimis um den Feinschmecker und Commissaire Luc Verlain wechselte Oetker mit seinem im April als Droemer-Taschenbuch veröffentlichten Thriller „Zara & Zoë. Rache in Marseille“, dem ersten Band einer unter dem Titel „Die Profilerin und die Patin“ angekündigten Reihe, von der früher eher touristisch-freundlichen Seite nun unerwartet auf die politisch-brutale, wie sie uns die Abendnachrichten mit Meldungen über IS-Terror und die von Polizei und Politik scheinbar unbeherrschbaren Probleme in den Außenbezirken (Banlieues) der französischen Metropolen zeigen. Sogar Oetkers neue Protagonistin, die deutsche Europol-Kommissarin Zara von Hardenberg traut sich in ihrem ersten Fall nur mit einer Spezialeinheit in ein solches Stadtviertel, obwohl sie selbst einst dort aufgewachsen ist.
Zara von Hardenberg ist die beste Profilerin bei Europol. Allein schon dieser Superlativ ist die Grundschwäche des zumindest im Handlungsaufbau anfangs noch spannenden Thrillers. Zara ist ein Superhirn, kann sich alles merken, erkennt alles auf den ersten Blick und besitzt sogar die Fähigkeit, Dinge vorauszuahnen. Diese übermenschlichen Talente kann sie allerdings nicht voll ausschöpfen, weil sie sich grundsätzlich an feste Regeln, an Recht und Gesetz hält. Als ein junges Mädchen bestialisch ermordet in der Felsenlandschaft Marseilles gefunden wird, spürt Zara natürlich sofort, dass dieses Verbrechen in eine Katastrophe führen wird. Der Leser fragt sich, warum und wieso? Bei der Aufklärung kann ihr nur die eigene Zwillingsschwester Zoë helfen, eine Berufskillerin der korsischen Mafia, die als charakterlicher Gegenpart zu Zara überhaupt keine Grenzen kennt.
Oetkers Thriller ist der gescheiterte Versuch, die tagespolitisch aktuellen Probleme Frankreichs – den IS-Terror und die gesellschaftlichen Probleme in den von Clans rigoros beherrschten Vorstädte – in einem Roman zu verarbeiten. Doch schon darin liegt das Manko des Thrillers: Diese Probleme sind so in der Geschichte Frankreichs verwurzelt, so komplex und vielschichtig, dass sie sich nicht in einen eher zur Unterhaltung gedachten Roman packen lassen. Diese Probleme sind viel tiefgehender und dramatischer, als dass sie als bloße Kulisse eines am Ende recht oberflächlichen Thrillers herhalten können.
Doch Oetkers Thriller hat leider auch andere Mängel, die einem das Lesen verleiden. Seine Hauptfiguren Zara und Zoë sind derart klischeehaft, zweidimensional wie Comic-Figuren, dass beide recht schnell unwirklich und dadurch unglaubwürdig wirken. Dadurch verliert der Roman an Spannung und verflacht zum Ende zunehmend. Schließlich sind die Guten wieder mal die Bösen und, ach ja, ein Happy End gibt es auch!
Auch sind simple handwerkliche Fehler zu bemängeln: So ist beispielsweise Lamine mal der Bruder der ermordeten Aiche und wenige Seiten weiter ihr Cousin. Oder: Die beiden Zwillungsschwestern Zara und Zoë leben seit Jahren in gegensätzlichen Welten. Beide haben sich seit Jahren nie gesehen und hatten keinen Kontakt. Doch als Zara die Hilfe ihrer Schwester braucht, schickt sie ihr mit dem Handy einen Hilferuf. Woher mag sie wohl die Handynummer haben?
Nach der Lektüre dieses ersten Bandes um Zara und Zoë werde ich auf den zweiten Band von Oetkers neuer Thrillerreihe nicht warten und hoffe doch lieber auf einen weiteren Band seiner tatsächlich unterhaltsamen, wenn auch seichteren Krimireihe mit Feinschmecker Luc Verlain.

Bewertung vom 11.05.2019
Ich kann dich hören
Mevissen, Katharina

Ich kann dich hören


ausgezeichnet

Wer sich traut, auch Bücher unbekannter Autoren zu lesen, wird nicht selten mit literarischen Bestleistungen belohnt. Dies gilt auch für den kürzlich im Wagenbach-Verlag veröffentlichten Debütroman „Ich kann dich hören“ der erst 28-jährigen Katharina Mevissen. Schon vor drei Jahren wurde ihr Manuskript völlig zu Recht mit dem Bremer Autorenstipendium belohnt. Im Buch geht es um die vielen Menschen fehlende Fähigkeit, sich mit anderen auszusprechen, mit anderen zu verständigen, anderen zuzuhören. Es geht ums Sprechen und Hören, auch um Gebärdensprache und Musik als Mittel des Ausdrucks, um verbale und nonverbale Verständigung.
Erzähler des Romans ist der 24-jährige Musikstudent und Cellist Osman Engels, Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter. Wir hören von Einsamkeit und Stille in der Familie. Wir hören vom Vater, einem mehr mit seiner Violine als mit seiner Familie lebenden Berufsmusiker, der aufgrund seiner Tourneen für die beiden Söhne schon als Kind „nie da war“; von der Mutter, die vor Jahren Ehemann und Kinder verlassen hat; von Tante Elide, die auf ihr erträumtes Leben in Paris verzichten und die Rolle der Ersatzmutter und Hausfrau einnehmen musste. Erst als Vater Suat sich das Handgelenk bricht und damit zugleich seine Musiker-Welt zerbricht, erst als Tante Elide zurück in die Türkei will, um später doch endlich nach Paris zu ziehen, erst dann kommt alles bisher Unausgesprochene zur Sprache.
Der junge Cellist Osman ist ebenfalls nicht beziehungsfähig, läuft Problemen davon, statt sie zu klären. Auch er selbst lebt in seiner eigenen Welt, in der Welt der Musik, die Worte ersetzt. „Man kann es daran hören, wie laut die Musik in meiner Familie ist und wie atemlos das Schweigen.“ Osman versucht sogar, sich in seiner Musik zu verstecken, statt sich den Problemen zu stellen. „An solchen Tagen hasse ich es, dass man sich hinter Musik nicht verstecken kann. Dass sie einen durchsichtig macht und hören lässt, wie kaputt, krank, schlapp, blockiert man ist. Sie nimmt das alles in sich auf und entblößt es, zumindest für Menschen wie Kosaki.“ Kosaki, sein japanischer Lehrer an der Musikhochschule, hat dafür ein untrügliches Gehör: Osman solle den dritten Satz nicht wie wütendes Gewitter, sondern wie Nieselregen spielen.
Leicht und locker wie Nieselregen wirkt auch Katharina Mevissens Sprache in ihrem wirklich beeindruckenden Debütroman. Doch auch leichter Nieselregen macht auf Dauer bis auf die Haut nass. Und so ist Mevissens Text nur scheinbar locker. Er geht tief unter die Haut: Osman will nicht zuhören und nicht sprechen, wogegen die taubstumme Jo alles geben würde, um genau dies zu können. Von Jo erfährt Osman beim Abhören eines gefundenen Diktiergeräts. Erst nach Abhören des Geräts beginnt er endlich Fragen zu stellen und zwingt Vater und Tante, aus der Vergangenheit zu erzählen. Und endlich hört Osman zu.
„Ich kann dich hören“ ist ein thematisch, aber auch sprachlich eindringliches Debüt der damals beim Schreiben erst 24-jährigen Autorin. Es ist anzunehmen, dass sie als Mitbegründerin der gebärdensprachlichen Literaturinitiative „handverlesen“ auch autobiographische Erkenntnisse in ihr Erstlingswerk hat einfließen lassen. Katharina Mevissens Debüt ist ein Appell, die von Natur verliehene Fähigkeit des Sprechens und Hörens sinnvoll zu nutzen. „Nach allem, was passiert ist, kann ich Dir sagen, dass Zuhören etwas unglaublich Schönes ist“, lässt sie Osman gegen Ende sagen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.04.2019
Wo wir zu Hause sind
Leo, Maxim

Wo wir zu Hause sind


ausgezeichnet

REZENSION – Bücher über die Jahre des Nazi-Regimes, über Judenverfolgung, den Holocaust und die deutsche Schuld gibt es zuhauf. Doch Maxim Leo (49) hat es mit der Niederschrift seiner bis in letzte Feinheiten recherchierten Familiengeschichte „Wo wir zuhause sind“ [im Februar bei Kiepenheuer & Witsch erschienen] auf ungewöhnlich berührende Weise geschafft, den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ aus einer ganz anderen Warte zu beschreiben. Denn nicht nur die Täter hatten Jahrzehnte lang ihre Schwierigkeit damit. Auch viele Opfer, sofern sie die Schreckensherrschaft überlebten, hatten aus seelischen Eigenschutz diesen Lebensabschnitt im Herzen verschlossen und schwiegen. Im neuen Leben, das sie sich irgendwo in der Welt oder in Deutschland aufbauen mussten, wollte man keine Störung durch Erinnerungen. Dies ging Jahre lang gut, bis dann die Enkel begannen, sich für die ungewöhnliche Geschichte ihrer Eltern und Großeltern zu interessieren, bis die heutige Generation endlich begann, nachzufragen und nachzuforschen.
So erging es auch Maxim Leo, wie er eingangs erzählt, als er bei der Hochzeit seines Bruders plötzlich einer Vielzahl von Verwandten aus aller Welt gegenüber stand, von denen er viele kaum kannte, die nach der Feier auch wieder gingen. „Familie ist für mich, wenn vier Menschen um einen Tisch sitzen.“ Doch diese Hochzeit war für Leo der Auslöser, die Geschichte seiner Familie zu erforschen – einer jüdischen Familie, deren Angehörige, seit Generationen christlich getauft, längst dem akademisch gebildeten Großbürgertum angehörten, bis die Nazis zur Macht kamen. Leo recherchierte also „die unvergessliche Geschichte einer jüdischen Familie, die auf der Flucht vor den Nazis in alle Winde zerstreut wurde, und deren Kinder und Enkel zurückfinden nach Berlin, in die Heimat ihrer Vorfahren“.
Irmgard und Hans, zwei Berliner Jura-Studenten wanderten 1934 nach Palästina aus und gründeten im Kibbuz ihre Familie. Zunächst nach Frankreich hatte es die junge Schauspielerin Hilde verschlagen, in frühen Jahren mit KPD-Gründer Fritz Fränkel verheiratet. Später floh sie mit Sohn André nach London. In Frankreich traf Leo auf seine Tante Susi, deren Mutter Ilse während der Kriegsjahre im französischen Internierungslager ihren späteren Ehemann kennengelernt hatte und nach geglückter Flucht bis zum Kriegsende im Untergrund leben musste.
In jedem Kapitel des Buches, jeweils die oft ungewöhnliche Lebensgeschichte eines Familienmitglieds erzählend, spürt man die persönliche Neugier des Autors, der darin auch Antworten auf eigene Fragen sucht und findet. Dieselbe Neugier erwacht durch stundenlange Gespräche auch bei seinen ausländischen Angehörigen. Auch die Cousins und Cousinen beginnen sich für das Leben ihrer emigrierten Großeltern und deren Gründe zu interessieren, wozu es vorher keinen Anlass gegeben hatte. Unerwartet wird sich Maxim Leo einer bisher unbekannten familiären Zusammengehörigkeit bewusst. Er entdeckt Eigenarten an den anderen, die er bislang nur an sich allein kannte. Und seine Cousins und Cousinen im europäischen Ausland und in Übersee beginnen eine mentale Verbindung zu Deutschland zu spüren. „Ich frage mich, ob es so eine Art Familiengedächtnis gibt, etwas, das uns hält und den Weg weist, das uns tröstet und mahnt.“ Alle zieht es irgendwann und irgendwie zurück nach Berlin, in die Stadt ihrer Vorfahren, „wo wir zuhause sind“, die die ausländischen Enkel heute aber mit ganz anderen Augen sehen, entdecken und erfahren, als ihre deutschen Großeltern zum Zeitpunkt ihrer Emigration.
Maxim Leos Familiengeschichte ist nicht nur spannend, offen und ehrlich geschrieben, sondern zudem historisch interessant: Wir erleben die Exilanten Hannah Arendt, Walter Benjamin und Klaus Mann bei ihren gemeinsamen Hausabenden mit den Leos in Paris. Wir erfahren viel über den mühseligen Aufbau des Staates Israel. Auch der Humor kommt nicht zu kurz.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.04.2019
Tod in Monte Carlo
Ivanji, Ivan

Tod in Monte Carlo


ausgezeichnet

REZENSION - Es ist ein sehr leiser, ein fast stiller Roman des serbischen Schriftstellers Ivan Ivanji (90), der kürzlich unter dem Titel „Tod in Monte Carlo“ im österreichischen Picus-Verlag erschien. Wir begleiten 1939/1940 den serbischen Arzt Moritz Karpaty im neutralen Fürstentum Monaco in dessen Einsamkeit, in seinen Selbstgesprächen und auf seiner Suche nach dem Ort absoluter Stille, einer Camera silens, wie der humanistisch gebildete Jude aus dem damals noch jugoslawischen Banat es selbst nennt. Hitlers Krieg tobte bereits, aber Jugoslawien war neutral. „Ich bin ja Jugoslawe, habe einen gültigen jugoslawischen Reisepass, fühle mich nicht in erster Linie als Jude, das Judentum hat mich nie besonders interessiert“, schreibt Karpaty, der einst seinen Familiennamen Kohn hatte ändern lassen, in sein Tagebuch.
Als Mann reifen Alters hatte sich Moritz Karpaty von seinem reichen Freund, dem Zuckerfabrikanten Viktor Elek, zum kurzen Männer-Urlaub in Monte Carlo überreden lassen. Es war überhaupt der erste Urlaub, den sich Moritz Karpaty, sonst Tag und Nacht für seine Patienten im Einsatz, sich erlaubt hatte. Gleich beim ersten Casino-Besuch gewinnt er über eine Millionen Franc und beschließt, das Geld gleich an Ort und Stelle wieder auszugeben. Nachdem sein Freund Viktor wieder nach Hause abgereist ist, richtet sich Moritz im Hotel Hermitage in einer Suite häuslich ein. Doch was als sorgloser Urlaub beginnt, wird bald vom Kriegsgeschehen in Europa getrübt. Noch wähnen sich die betuchten Hotelgäste – teils sind es reiche, zurückhaltend auftretende Juden aus Deutschland, teils selbstbewusst lärmende Wehrmachts- und SS-Offiziere in Zivil, aber auch Wohlhabende aus anderen Ländern Europas – im Schutz der politischen Neutralität im Fürstentum sicher und leben ihr luxuriöses Leben scheinbar unbehelligt am Strand, auf der Promenade und im Casino. Es ist eine unwirkliche Welt in todbringender Zeit. Auch Moritz genießt sein luxuriöses Leben fern des Berufsalltags und fern der Familie. Er verliebt sich sogar in eine junge russische Tänzerin, hält sich aber im Wissen um sein Alter schamvoll zurück.
„Habe ich mich zu schämen, weil ich mich meiner augenblicklichen Bequemlichkeit so hingebe? Wird sich das rächen? Bin ich ein Sünder? Mea culpa, mea maximal culpa. Aber es ist so schön in Monte Carlo.“ Moritz ist zögerlich, unentschlossen: Soll er zu seiner Frau, seiner Familie ins neutrale Jugoslawien zurück? Oder soll er wie andere wohlhabende Juden das Fürstentum verlassen und nach Übersee auswandern, vielleicht zu seiner Tochter in die Vereinigten Staaten? Moritz Karpaty kann sich nicht entscheiden. In Monte Carlo ist er nicht Jude, sondern ein angesehener Arzt, der seine Suite in bar bezahlt. Moritz genießt die Annehmlichkeiten dieses neuen Lebens – bis der Moment der Entscheidung vorüber ist. Sogar im mondänen Hotel Hermitage wird dem Juden Moritz Karpaty anonym mit Mord gedroht. In seiner Verzweiflung ertränkt sich Moritz im Meer. Ist dort sein Ort absoluter Stille? Im August 1942 wurden alle im Fürstentum Monaco lebenden Juden verhaftet und an die Deutschen ausgeliefert.
Moritz hieß auch der Großvater von Ivan Invanji. Auch dieser Moritz reiste mit seiner Frau noch vor Kriegsausbruch nach Monte Carlo, kehrte aber frühzeitig in die Heimat zurück. Erst nach dem Einmarsch deutscher Truppen wählten beide den Freitod. Davon ausgehend, entwickelte der Autor einen berührenden, zu Herzen gehenden, dabei überaus poetischen Kurzroman um die Gefühle und Hoffnungen, um die Unsicherheiten und Ängste jüdischer Mitbürger in damaliger Zeit. Wie Moritz Karpaty versuchten sie sich unsichtbar zu machen, waren unentschlossen und warteten ab – die meisten zu lange.

Bewertung vom 07.04.2019
1793 / Winge und Cardell ermitteln Bd.1
Natt och Dag, Niklas

1793 / Winge und Cardell ermitteln Bd.1


ausgezeichnet

Ein in jeder Hinsicht „gewaltiges“ und eindrucksvolles Debüt ist dem schwedischen Journalisten Niklas Natt och Dag (40) mit seinem historischen Kriminalroman „1793“ gelungen, der jetzt im Piper-Verlag erschien und sowohl Freunde skandinavischer Krimis wie auch historischer Romane gleichermaßen begeistern wird. Völlig zu Recht wurde der schon 2017 in Schweden veröffentlichte, mittlerweile in 30 Sprachen übersetzte Bestseller mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet. „1793“ ist ein historischer Roman, in dem der spannende Kriminalfall eher Mittel zum Zweck ist, um die vor 225 Jahren in Stockholm herrschenden Lebensbedingungen sowie politischen Ver- und Entwicklungen am Beispiel weniger Figuren abbilden zu können. „1793“ ist zudem ein sprachliches Meisterwerk, für dessen Übertragung ins Deutsche der Übersetzerin Leena Flegler (43) zu danken ist. Mit der starken Bildgewalt seiner Worte gelingt es dem Autor, aus aktionsreichen Szenen ein überaus plastisches Sittengemälde entstehen zu lassen, dass in seiner Gewalt und Brutalität einem manches Mal den Atem nimmt.
Aber worum geht es? Aus einer Stadtkloake wird 1793 eine verstümmelte, bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leiche geborgen. Der Jurist Cecil Winge, als eine Art Sherlock Holmes vom Polizeichef schon mehrmals mit der Aufklärung „besonderer Verbrechen“ beauftragt, und sein „Watson“ Mickel Cardell, ein vom letzten Krieg gegen Russland traumatisierter Veteran mit Holzarm, machen sich an die Aufklärung dieses brutalen Mordes.
1793 ist die Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Traditionelle mittelalterliche Werte werden als Folge revolutionärer Entwicklungen in Frankreich durch Ideen der Aufklärung abgelöst. Doch noch ist der einzelne Untertan rechtlos, Strafen sind drakonisch, es herrscht Willkür. In dieser Zeit repräsentiert Protagonist Cecil Winge den aufkommenden Geist der Aufklärung. Er fordert Gerechtigkeit – auch für Täter. Doch nicht alles kann er nur mit dem Verstand lösen, wie das überraschende Ende des Romans zeigt. „1793“ ist in vier Abschnitte unterteilt, wobei die Teile zwei und drei, in denen wir mit Kristofer Blix und Anna Stina in ganz anderer Erzählweise zwei weitere Figuren über längeren Zeitraum begleiten, rückblickend schildern, wie es gesellschaftlich bedingt – man möchte sagen – zwangsläufig zu dem Mord kommen musste. Erst im vierten Teil führt der Autor die zunächst getrennt laufenden Handlungsstränge im überraschenden Finale zusammen.
Fühlt sich der Leser anfangs noch durch den zu lösenden Kriminalfall gefesselt, wird er doch allmählich von dem in Einzelheiten beschriebenen Sittengemälde jener Zeit gepackt, bis der Mordfall fast zweitrangig wirkt. Niklas Natt och Dag ist ein eindrucksvolles Kaleidoskop der damaligen Gesellschaft Schwedens gelungen. Er zieht seine Leser tief hinein in diese noch gewalttätige und rechtlose Zeit, in die elenden Lebensverhältnisse in Schwedens Hauptstadt, die mit dem heutigen, lebensfrohe Touristen lockenden „Venedig des Nordens“ überhaupt nichts gemein hat. Man darf auf den Folgeroman, an dem der Autor bereits arbeitet, mit Recht gespannt sein.

Bewertung vom 24.03.2019
Die Leben danach
Pierce, Thomas

Die Leben danach


sehr gut

REZENSION – Wer beim Titel „Die Leben danach“ eine theologisch-philosophische Antwort auf die Frage erwartet, was uns nach dem Tod wohl erwarten mag, liegt bei dem Roman des amerikanischen Schriftstellers Thomas Pierce (36) zwar nicht völlig daneben, doch braucht man schon eine gehörige Portion Humor. Sein Roman ist eher ein liebevolles „Mutmacher-Buch“. Pierce spielt mit verschiedenen Theorien, die ihn und seinen Protagonisten schließlich zur Einsicht bringen, lieber das jetzige Leben bewusst zu leben als erfolglos „die Leben danach“ erforschen zu wollen. Denn schneller als erwartet, könnten das Leben vorbei und dessen schöne Momente verpasst sein.
Dies muss auch der 33-jährige Kreditberater Jim Byrd erfahren, der – in sehr naher Zukunft – in einer Kleinstadt inmitten einer allgegenwärtigen Übermacht lebensfroher Aktiv-Senioren lebt. Byrd war nach einem Herzaussetzer für wenige Minuten klinisch tot. Nach seiner Wiederbelebung vermisste er die oft beschriebene Nahtod-Erfahrung grellweißen Lichts. Byrd hatte stattdessen in tiefstes Schwarz, ins Nichts gesehen. Dieser ihm fehlenden Antwort, was denn nun wirklich nach dem Tod folgt, geht Byrd nun konsequent nach, kaum dass ihm ein lebensrettendes HeartNet, ein computergesteuerter Defibrilator, implatiert wurde.
Jim Byrd, „ein vom Tod besessener Depp mit einem Hang zu Verschwörungstheorien, der bereit war, an so ziemlich alles zu glauben“, verfolgt unterschiedlichste Theorien, vertraut scheinbar medial befähigten Zeitgenossen und lässt sich sogar als Testperson auf ein Experiment mit der von der Physikerin Sally Zinker entwickelten „Wiedervereinigungsmaschine“ ein – alles nur, um seinen verstorbenen Vater wiederzutreffen. Byrds Forscherdrang wird durch eine Spukgeschichte angeregt: In einem alten Haus, für dessen Renovierung er um einen Bankkredit gebeten wurde, geistern anscheinend noch die früheren Eigentümer und ein „brennender Hund“.
Werden wir nach unserem Tod also zu ruhelosen Geistern? Oder leben wir als Hologramme weiter, wie der an einer Straßenecke singende Bob Dylan? Byrd ist von seiner Suche nach Antworten so eingenommen, dass er die ihn umgebende Wirklichkeit oft in Zweifel zieht und hinterfragt. Auch seine frühere Highschool-Liebe Annie, jetzt verwitwet und Mutter einer 12-jährigen Tochter, in die er sich erneut verliebt und mit ihr zusammenzieht, muss zeitweilig zurückstecken. Schließlich gelingt Byrd mittels der „Wiedervereinigungsmaschine“ nicht nur ein Blick in seine Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Aber wollen wir wirklich unsere Zukunft wissen, die uns nur vom jetzigen Leben ablenkt?
Auch Autor Thomas Pierce weiß natürlich nicht, was uns nach dem Tod erwarten wird. Aber er zeigt uns in seiner 400 Seiten starken Liebesgeschichte, dass es ziemlich sinnlos ist, wertvolle Lebenszeit zu vergeuden, um über den Tod nachzudenken. Stattdessen sollten wir uns unseres Lebens erfreuen und den alltäglichen Herausforderungen stellen.
„Die Leben danach“ ist ein liebevoller, allerdings auch märchenhafter Roman. Der eine oder andere Textabschnitt mag etwas zu langatmig sein. Dennoch: Der Roman ist trotz des eigentlich ernsten Themas durchweg unterhaltsam, stellenweise auch ironisch, vielleicht sogar sarkastisch geschrieben. Allerdings muss man sich auch auf den Spaß einlassen können. Das Buch ist gewiss keine Lektüre für ernsthafte Gemüter.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.03.2019
Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2
Lemaître, Pierre

Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2


ausgezeichnet

Spannend wie ein Krimi, sozialkritisch und amüsant wie ein guter Gesellschaftsroman, zugleich historisch interessant wie ein Sachbuch ist der kürzlich bei Klett-Cotta erschienene Roman „Die Farben des Feuers“ des französischen Bestseller-Autors Pierre Lemaitre (68). In gewisser Weise ist das Buch eine Fortsetzung seines 2013 veröffentlichten und mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Werks „Wir sehen uns dort oben“. Wieder geht es um die Bankiersfamilie Péricourt, diesmal aber nicht um Édouard, den Sohn des Bankengründers Marcel Péricourt, sondern um seine Schwester Madeleine.
War der erste Roman noch in den politisch und gesellschaftlich unruhigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt, spielt der neue Roman „Die Farben des Feuers“ nun in den Vorjahren des Zweiten Weltkriegs. 1927 stirbt der alte Patriarch Marcel Péricourt, so dass, nachdem Sohn Édouard schon vor Jahren verstorben ist, seine Tochter Madeleine Alleinerbin des Bankenimperums wird, ohne allerdings – typisch für das klassische Frauenbild jener Zeit – entsprechend ausgebildet, geschweige denn in die Geschäfte eingeweiht zu sein. In einem gesellschaftlichen Klima von Hass und Neid nutzen nun sowohl Gustave Joubert, langjähriger Prokurist der Bank und einst Vertrauter des Patriarchen, als auch Madeleines verschwenderischer Onkel Charles Péricourt, populistischer Abgeordneter ohne Ehrgefühl, sowie ihr zeitweiliger Liebhaber und junger Dichter André Delcourt Madeleines Hilflosigkeit schamlos zum jeweils eigenen Vorteil aus. Madeleine ist zusätzlich überfordert, nachdem ihr kleiner Sohn Paul aus unbekanntem Grund, scheinbar aus Trauer um den Tod des Großvaters, sich aus dem Fenster stürzt fortan an den Rollstuhl gefesselt und gänzlich von der Hilfe seiner Mutter abhängig ist.
Lemaitre lässt seinen Roman wie einen sozialkritischen Gesellschaftsroman französischer Romanciers des ausgehenden 19. Jahrhunderts beginnen. Wir lernen das familiäre und gesellschaftliche Leben in der großbürgerlichen Villa kennen mit deutlicher Trennung zwischen Herrschenden und Dienenden. Doch nachdem es den drei Neidern gelungen ist, Madeleine zu ruinieren und aus der Familienvilla zu vertreiben, die der inzwischen neureiche Gustave Joubert übernimmt, sind die Dreißigjährige und ihr Sohn fortan zu kleinbürgerlichem Leben verdammt. Auf sich allein gestellt, entwickelt sich Madeleine in ihrer Not zu einer unberechenbaren Kämpferin und beginnt mit ebenfalls vom Leben gebeutelten Helfern in einer für eine „höhere Tochter“ ungewöhnlichen Methodik ihren Rachefeldzug.
An diesem Punkt wandelt sich Lemaitres Gesellschaftsroman unmerklich in einen spannenden Krimi bis hin zum klugen Thriller. Kapitelweise wächst die Spannung, wird der Leser zunehmend gepackt und beobachtet Madeleine und ihre Helfer bei der intelligenten, geschickten und teilweise sogar brutalen Ausführung ihrer Rachepläne. Dies alles unternimmt Madeleine bis 1933 unter bewusster Ausnutzung der aktuell herrschenden politischen Umstände bis hin zum vermeintlichen Hochverrat an die Nazis.
Auch wenn sich Goncourt-Preisträger Pierre Lemaitre nicht genau an historisch reale Ereignisse und Personen hält, sondern diese bewusst literarisch verfremdet, schafft er es dennoch, die damals in der Dritten Republik Frankreichs mit wechselnden Regierungen vorherrschende Stimmung und Atmosphäre unter dem Eindruck des in Europa aufkommenden Faschismus wiederzugeben. Diesen Roman darf sich kein Leser spannender, zugleich anspruchsvoller Unterhaltung entgehen lassen. Diese Empfehlung gilt auch, sollte man den früheren Band „Wir sehen uns dort oben“ noch nicht kennen, denn die Handlung des aktuellen Romans ist in sich abgeschlossen und eigenständig. Wer aber schon vom ersten Buch begeistert war, für den führt wohl kein Weg am zweiten vorbei.

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