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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Americanah
Adichie, Chimamanda Ngozi

Americanah


ausgezeichnet

Ifemelu stammt aus Nigeria und lebt seit über 10 Jahren in den USA. Nun hat sie sich durchgebissen, ist auch eine 'Americanah' geworden, eine in die USA ausgewanderte Afrikanerin. Obwohl sie sich als populäre Bloggerin und Stipendiatin der Universität Princeton den Traum vieler Nigerianer von der green-card erfüllen konnte, will Ifemelu nach Nigeria zurückkehren. Ihre Entscheidung zelebriert sie mit dem Besuch in einem afrikanischen Friseursalon, um sich die Haare neu flechten zu lassen. Die Gedanken der Kundin im Haarsalon schweifen zurück zu ihrem Start in den USA und den wichtigsten Menschen in ihrem Leben: ihrem Jugendfreund Obinze, ihrem Partner Blaine, ihrer Tante Uju und deren Sohn Dike. Ifemelus neue Frisur markiert wie ein radikal veränderter Haarschnitt die Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. - Ifemelus Situation als nichtamerikanische Schwarze in den USA entwickelt Chimamanda Ngozi Adichie aus deren Begegnungen mit engsten Vertrauten. Tante Uju nimmt Ifemelu bei sich in den USA auf, als die dem Chaos an der bestreikten Universität Lagos entfliehen will und anfangs nicht weiß, wie sie Miete und Studiengebühren aufbringen soll. Niemand zu Hause in Nigeria würde genau wissen wollen, unter welch unwürdigen Umständen Uju für die Anerkennung ihres nigerianischen Studienabschlusses schuftet und zugleich den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn verdient. Ihr afroamerikanischer Partner Blaine, Juraprofessor in Yale, fördert und ermutigt seine Partnerin im Ivy League-Milieu der amerikanischen Ostküste. -Die Schlüsselszene im Friseursalon spiegelt die komplizierte Hierarchie der Rassen und Volksgruppen in den USA. Die Kundin als erfolgreiche Akademikerin mit Papieren tritt der Friseurin, einer Neuangekommenen ohne Papiere, entgegen. Auch Ifemelu musste lernen, dass auf der Hühnerleiter der amerikanischen Gesellschaft angesehener ist, wer länger im Land lebt oder wer sich die für einen Job nötigen 'Papiere' beschaffen kann. Ifemelu wird zur erfolgreichen Bloggerin schwarzafrikanischer Befindlichkeit in den USA. Über das liberale Paralleluniversum des politisch korrekten Amerika gibt es Entlarvendes zu bloggen. Ifemelu muss sich z. B. von wohlwollenden, karitativ eingestellten Weißen Afrika erklären lassen und deren Idealisierung von Armut dulden. Im amerikanischen Englisch, das gebildete Einwanderer für schlampig halten, darf ein schwarzer Mensch nicht schwarz und ein Übergewichtiger nicht dick genannt werden. Doch "schwarz" wurde die Einwanderin aus Nigeria erst in dem Moment, als sie in die USA einreiste. Ifemelu wird nach der politischen Bedeutung ihrer Frisur gefragt, Uju darf als amerikanische Ärztin keine Zöpfchen tragen. Ihre Patienten gestehen einer schwarzen Frau, die ihr Krankenzimmer betritt, höchstens zu die Krankenschwester zu sein, aber nicht die Ärztin. Eine Nation spricht über Michelle Obamas 'Attachments', nicht über ihren Beruf. Krauses afrikanisches Haar steht bei Adichie als Metapher für das absurde Lavieren der US-Amerikaner zwischen Ethnie und Rasse. Afrikanische Haare dürfen nicht so wachsen, wie sie es von Natur aus tun, sie müssen in schmerzhaften, gesundheitsschädlichen Prozeduren geglättet werden. Wenn Ifemelu mit ihrem krausen Haar als Kundin abgelehnt wird, erlebt sie den Friseursalon als Ort der Diskriminierung. - Ifemelus Gefühl der Fremdheit nach langer Abwesenheit gegenüber Nigeria überrascht kaum. Sie kann die Codes ihrer Heimat noch nicht wieder entschlüsseln. Ihre Freundinnen kreisen wie Glamour Girls allein um das zentrale Thema, wie sie sich einen einflussreichen Mann angeln können. Auch ihre Jugendliebe Obinze ist wieder zurück in Nigeria ' ob die Beziehung zu ihm Ifemelu leichter wieder in Nigeria Fuß fassen lassen wird? - Ein sprachlich virtuoser Roman, der seine Leser mitten in interkulturelle Paarprobleme katapultiert und aus der Distanz einer Einwanderin klarsichtig wie amüsant US-amerikanische Widersprüche entlarvt.

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Bewertung vom 04.01.2017
Der Zufall kann mich mal
Gülich, Martin

Der Zufall kann mich mal


sehr gut

Den Film Moby Dick hat Tim in der Schule verpasst, der ihm seinen Spitznamen Ahab einbrachte. Ein Bein nach vorn, das andere Bein seitwärts im Bogen herumsetzen, genau wie Melvilles Kapitän bewegt Tim sich nach seinem Fahrradunfall. Grund für den Unfall war Tims Schnapsidee, sein Buch unter die Klingel zu klemmen und auf dem Rad schnell noch ein paar Seiten zu lesen. Im normalverrückten Alltag eines Vierzehnjährigen spielt Tims Behinderung nur eine Nebenrolle und doch wird in Tims umständlicher Art deutlich, wie stark sein Handicap ihn einschränkt. Radfahren, Hockeyspielen, spontan etwas mit der Clique unternehmen ' mit einem steifen Bein kann man das vergessen. Im Moment drehen sich Tims Gedanken um seinen Freund Remo. Freundschaft für die Beziehung der beiden wäre zu zurückhaltend ausgedrückt, sie sind wie Brüder. Seit Remos Eltern sich getrennt haben, gibt es mit Tims Freund Probleme in der Schule, schließlich schwänzt Remo die Schule ganz. Wer bereits Ärger gemacht hat, wird schnell zum Sündenbock, so dass sogar die Polizei gegen Remo ermittelt. Als Remo seinem Freund endlich anvertraut, dass sein Vater Alkoholiker ist, beschließen die beiden eine aberwitzige Hilfsaktion. Dass den Jungs ein glaubwürdiger Weg aus dem Alkoholproblem von Remos Vater einfallen würde, hatte ich ihnen ehrlich gesagt nicht zugetraut.

Vierzehn ist mit Abstand das blödeste Alter, das einem Jugendlichen passieren kann, meinte Luca zu Beginn. Tim wird in diesem schwierigen Jahr erwachsen - und seine Freundschaft zu Luca und Remo übersteht sogar die erste Schwärmerei für ein Mädchen. Als Junge, der gern liest und in seiner Stammbuchhandlung persönlich bekannt ist, scheint Tim in Gülichs Jugendroman die Idealbesetzung für die Rolle des sonderbaren Vogels zu sein. Charakteristisch für Tims spezielle Art ist die Zielsicherheit, mit der er sich beim Erzählen möglichst weit vom Thema weg bewegt. Junge, komm endlich in die Gänge, würde ich Tim am liebsten zurufen. Wie seine Hauptfigur kommt auch das Buch erst allmählich in Gang, berührt dann aber mit Martins Gülichs verhaltener Darstellung seines gehandicapten Anti-Helden.

Bewertung vom 04.01.2017
Um uns die Toten (eBook, ePUB)
Grill, Bartholomäus

Um uns die Toten (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

An den Tod seines Großvaters Bartholomäus erinnert sich Bartholomäus Grill so genau, weil die Ereignisse in der Familie immer wieder erzählt und dabei sicher auch ausgeschmückt wurden. Auf dem Bergbauernhof der Großeltern wurde damals der Verstorbene noch in der guten Stube aufgebahrt. Das Brauchtum im streng katholischen Alpenland gibt den Hinterbliebenen Rückhalt; der Tod kommt wie ein Vertrauter ins Haus. Doch das Sterben der schwerbehinderten Schwester des Autors offenbart, dass die Verwurzelung im Glauben ihres unerschütterlichen katholischen Kosmos Grills Eltern keinen Halt zu bieten hat. So wie die Familie verschämt über die psychische Erkrankung und den Selbstmord des Großonkels schwieg, wird nun die Existenz der behinderten Tochter verschwiegen. Der Vater verweigert eine Inschrift auf dem Familiengrabstein, die Mutter hat sich zu fügen. Grill beschreibt sich als ein Kind, das in einer bilderarmen Umgebung von der bildlichen Darstellung der Madonnen, Kruzifixe, Lüftlmalereien und der Abbildung eines personifizierten Todes geprägt wurde. Der 'Boandelkramer' war auf dem Bergbauernhof der Grills so gegenwärtig wie die Drohung der Großeltern gegenüber einem aufsässigen Kind, nach ihrem Tod zurückzukehren und es zu sich zu holen. Als Jugendlicher sieht sich Grill mit dem Selbstmord Gleichaltriger konfrontiert und springt nach waghalsigen Versuchen mit Drogen selbst dem Tod erst in letzter Minute von der Schippe. Seine Tätigkeit als Afrika-Korrespondent konfrontiert ihn mit Krieg, Völkermord, Hungersnöten und schließlich der Ausrottung einer ganzen Generation durch die Auswirkungen des HIV-Virus. Auf die Globalisierung und Anonymisierung des Todes angesichts des Massensterbens in Afrika ist Grill so wenig vorbereitet wie seine Familie auf die Todesfälle, die sie persönlich treffen.

Grill, der für ZEIT und STERN mehr als 20 Jahre aus Afrika berichtete, erfüllt mit seinem Buch über den Tod eine Verpflichtung gegenüber seinem jüngeren Bruder, der sein Leben aufgrund einer unheilbaren Krebserkrankung durch 'assistierten Freitod' selbst beendet. Die Reportage über das Sterben seines Bruders bringt Grill 2006 den Egon-Erwin-Kisch-Preis ein und konfrontiert ihn unmittelbar danach mit dem von einer Person nicht zu bewältigenden Bedürfnis seiner Leser nach Hilfe und Aussprache.

Grills Buch einen Platz im Koordinatensystem des Buchmarktes zu geben, fällt mir noch immer schwer. Es ist eine sehr persönliche Bilanz mit dem spürbaren Anliegen, dem Thema Sterbehilfe einen angemessenen Platz zu schaffen. Grill selbst nennt seinen Text eine Zwiesprache mit dem Tod. Er ist in einem Lebensalter angelangt, in dem 'die Einschläge näher kommen', der Tod seiner Altersgenossen ihn ständig mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Mit dem Sterben in Auschwitz und dem RAF-Terrorismus deutet Grill jedoch auch auf die speziell deutsche Sprachlosigkeit zwischen seiner in den 50ern geborenen Generation und der seiner Eltern. 'Um uns die Toten' ist die vom Thema Sterbehilfe getragene, dicht geschriebene Lebensbilanz eines Journalisten, die ich besonders jenen empfehle, die sich für eine Patientenverfügung noch viel zu jung fühlen.

Bewertung vom 04.01.2017
Flüchtige Seelen
Thien, Madeleine

Flüchtige Seelen


ausgezeichnet

Als Neurologen in der Hirnforschung befassen die Kanadierin Janie und ihr Kollege Hiroji sich mit degenerativen Prozessen im menschlichen Gehirn oder einfach ausgedrückt: mit Patienten, die ihre Erinnerungen verlieren. Als Hiroji überraschend verschwindet, muss auch Janie sich ihrer Vergangenheit stellen. In einem anderen Leben und mit einem anderen Vornamen war Janie ein Kind aus Kambodscha, dass zur Zeit der Herrschaft der Roten Khmer aus dem Meer gerettet und von einer kanadischen Pflegemutter aufgenommen wurde. Die mit Angst verknüpfte Scham darüber, selbst gerettet worden zu sein, während Eltern und Geschwister nicht überlebten, hat Janie nie verlassen. Schlimmer noch, das Schicksal ihres Bruders ist bisher ungeklärt und Vermisste leben endlos in uns weiter, musste Janie inzwischen erleben. Ohne Gewissheit über ihr Schicksal können die Toten aus unseren Erinnerungen nicht zur Ruhe gebettet werden. Janies Leben muss sich nun so stark festgefahren haben, dass sie zur Zeit nicht mit Mann und Sohn zusammenleben kann, sondern nur das Besuchsrecht für Kiri hat. Janie weiß von einem Bruder Hirojis, der in den 70ern für das Rote Kreuz nach Kambodscha ging und seitdem vermisst wird. Obwohl Janie und Hiroji offenbar unterschiedlichen Generationen angehören, verbindet sie das ungewisse Schicksal ihrer Brüder. Über Hiroji erfahren wir, dass er sich – wie andere Angehörige von Vermissten – nie mit einem möglichen Tod seines Bruders abfinden konnte und in den Gesichtszügen zufälliger Passanten seinen Bruder wiederzusehen glaubte.

Janie hat schon immer das diffuse Bedürfnis gespürt, in der Zeit zurückzureisen und dabei jemand anders zu werden. Es ist leicht vorstellbar, dass eine Überlebende des Khmer-Regimes mit seinen endlosen Verhören und Gehirnwäschen sich nicht mehr sicher fühlt, welche der zahlreichen Biografien gerade gültig ist. Damals war es klug, so zu tun, als sei man die einzige überlebende Person seiner Familie und sich eine neue Biografie mit neuen Familienangehörigen auszudenken. Die Roten Khmer hatten irgendwann die eigene Biografie okkupiert. Janies Gedanken schweifen zu den verlassenen Kindern, die sich damals von Fröschen ernährten oder auf der Seite der Khmer Waffen trugen, hinter denen sie das Zittern ihrer Hände zu verbergen suchten. Hirojis Verschwinden lässt es fraglich scheinen, ob Janie ihre Identität dauerhaft wie eine Haut ablegen kann. Wie durch Gewächse eines Dschungels kämpft Janie sich durch eigene Erinnerungen und die Hirojis.

--- Zitat
„In mir hatte sich seither etwas verändert. Mein Bruder war zu mir zurückgekehrt, so präzise, so deutlich, wie er am Ende zu sehen gewesen war. Ich wollte ihn bei mir behalten, und gleichzeitig, erklärte ich Hiroji, mochte ich nicht mit dieser Erinnerung leben. Es gab nichts an diesen letzten Momenten, was ich ändern konnte. Neben uns verarbeitete mein Computer Daten, unermüdlich. Wir redeten stundenlang …“ (S. 148)

Eine gelungene Geschichte wird unabhängig von ihrer Zeit und dem Schauplatz auf der ganzen Welt verstanden, egal ob in einer Jurte in der Steppe oder vom Bewohner eines Wolkenkratzers. Madeleine Thien schreibt solch eine zeitlos gültige Geschichte, in der sie – stellvertretend für alle Kriege – erzählt, wie ein Krieg eine Generation tötet und vertreibt und die Erinnerungen der folgenden Generation zerstört.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Bettlermädchen
Munro, Alice

Das Bettlermädchen


ausgezeichnet

Alice Munros miteinander verknüpfte Geschichten von Flo und Rose (1978) erscheinen als Hardcover neu in durchgesehener Übersetzung. -
Als Reaktion auf die Vergabe des Nobelpreises an Alice Munro waren einige enttäuschte Reaktionen zu vernehmen, warum eine Autorin ausgezeichnet würde, die 'nur' Kurzgeschichten und die auch noch über Alltägliches schreiben würde. Die Nachzeichnung des Lebens einer jungen Frau aus dem ländlichen Ontario in Einzelgeschichten ähnelt in ihrer Aneinanderreihung von Episoden Munros 'Wozu wollen sie das wissen'. Die kanadische Autorin erzählt auch in diesem Buch alltägliche Ereignisse aus dem Alltag von Mädchen und Frauen so exakt und stilistisch abgezirkelt, dass ihre Leser vermeintlich Vertrautes aus einem neuen Blickwinkel wahrnehmen. - Rose bekommt nach dem Tod ihrer Mutter eine Stiefmutter, Flo, und der kleine Halbbruder Brian wird geboren. Das Pflichtbewusstsein, mit dem Flo in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg ihre Aufgabe anpackt, könnte an eine Vernunftehe denken lassen. Damals war das nichts Ungewöhnliches. Flo nimmt den Kampf mit der widerspenstigen Rose auf; sie zeigt sich aber auch als geduldige Geschichtenerzählerin. Erwachsene waren in der geschilderten Zeit noch davon überzeugt, mit der Prügelstrafe nur das Beste für die Zukunft ihre Kinder zu tun. Munro beschreibt fein beobachtet den Kontrast zwischen dem mit Inbrunst strafenden Vater und Flo, die nur widerwillig und zum Schein schlägt. Sowie der Vater den Rücken gekehrt hat, tröstet Flo ihre Stieftochter und verwöhnt sie mit besonderen Leckerbissen. Diese Szene, in der Flo sich mit harmlosem Blick in ihrem Handeln weit von der herrschenden Meinung entfernt, finde ich charakteristisch für Munros listige Art des Erzählens. Roses Kindheit ist inzwischen Vergangenheit und ihr ist im Rückblick klar, dass Flo sich stets dem Vater unterordnete und ihre Ansichten durch passiven Widerstand ausdrückte. Flo wirkte nach außen nicht zu klug und war damit die ideale Frau für Roses Vater. - Auch Roses Lehrerin weicht Konflikten aus, indem sie ihre Schüler in der Pause sich selbst überlässt und vorgibt, nichts von Quälereien der Kinder untereinander mitzubekommen. Und doch bereitet diese so passiv wirkende ältere Frau in jedem Jahrgang einige Schüler für die Aufnahmeprüfung zur Oberschule vor. Auch Rose überquert in doppelter Bedeutung die Brücke vom Dorf in die Stadt und muss als Oberschülerin zum ersten Mal spüren, wie abgeschieden, ärmlich und ungebildet sie bisher gelebt hat. Einen Unterschied zwischen Stadt und Land hat sie bisher nicht gekannt. Rose ist ein Landei durch und durch, als sie als Stipendiatin mit viel Glück in den Haushalt ihrer Mentorin Dr. Henshawe einzieht. Ob Roses Begegnung mit dem Doktoranden Patrick ein Glücksfall für sie ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Durch seine Beziehung zu einem 'Bettlermädchen' rebelliert Patrick zugleich gegen die Normen seiner wohlhabenden Familie und gegen das Erwachsenwerden. Rose und Patrick verstricken sich in eine komplizierte gegenseitige Abhängigkeit, in der Überzeugung, der andere Partner könnte nicht allein existieren. Als beide längst ein gemeinsames Kind haben, ist das Beziehungsdrama noch längst nicht beendet. - Wer sich auf Munros anspielungsreichen Erzählton einlassen kann, bekommt von ihr sehr viel mehr als den Lebenslauf einer Aufsteigerin aus einfachen Verhältnissen erzählt. Viele Frauen haben zu Roses Zeit den ersten Schritt aus der Enge der Provinz vollzogen und viele Mütter wollen mit ihren Mitteln das Beste für ihre Kinder erreichen. In ihrer Beschreibung von Alltäglichem versteckt Alice Munro auch hier sprachliche Schätze und verschlüsselten Spott. Wie es sich in der Kriegs- und Nachkriegszeit in Flos Haut und der 'der Lehrerin' lebte und ob der Gang über die Brücke sich als Roses erster Schritt ins Unglück entpuppen würde, diese Frage hat mich bis zur letzten Seite nicht losgelassen. Ein zeitloser Text, der mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben hat.

Bewertung vom 04.01.2017
Wüstenblut
Ferraris, Zoë

Wüstenblut


gut

Zoë Ferraris Krimi könnte mit seinem klischeehaften Buchcover und dem irreführenden deutschen Titel falsche Erwartungen wecken, handelt das Buch doch von der Suche nach einem Serienmörder im Saudi-Arabien der Gegenwart. Von dem Fall, den Polizeiinspektor Ibrahim Zahrani und sein Team zu lösen haben, war ich trotz des sonderbaren ersten Eindrucks schnell gefesselt.

Südlich von Dschidda werden in der Wüste insgesamt 19 Frauenleichen gefunden. Die Getöteten sind junge Fremdarbeiterinnen aus Asien, wie sich herausstellt. Eines der Opfer ist bereits seit circa 10 Jahren tot, doch keine der Frauen wurde bisher als vermisst gemeldet. Der Täter hat offensichtlich mit der Anordnung der Leichen eine religiöse motivierte Botschaft in den Sand geschrieben; Assoziationen zu einem Koranvers drängen sich den Ermittlern auf. Obwohl es nur schwer ins Selbstbild der Saudis passt, dass Gewalt und Unmoral in ihrem Land nicht allein ein Import aus den USA sind, sondern wohlhabende Saudis Straftaten begehen, vermuten die Ermittler einen Serienmörder. Der aktuelle Fall muss erhebliches Aufsehen erregt haben; denn aus den USA wird eine FBI-Spezialistin für Serienmorde hinzugezogen.

In Zahranis Team arbeitet als Kriminaltechnikerin Katya Hijazi, die ihrer Ansicht nach die Ermittlungen schneller vorantreiben könnte, wenn sie auf dem Dienstweg endlich alle Informationen zu dem Fall erhalten würde. Die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen in Zahranis Ermittler-Gruppe bilden anschaulich die Situation in Saudi-Arabien ab. In der Öffentlichkeit und im Beruf ist der Kontakt zwischen Frauen und Männern, wie er in anderen Ländern selbstverständlich ist, undenkbar. Weibliche und männliche Leichen werden in getrennten Räumen obduziert. Für Katya muss ein abgetrennter Arbeitsplatz eingerichtet werden, um die Moral zu wahren. Ein normaler kollegialer Kontakt zu ihren Kollegen wird durch die automatisch unterstellte Unmoral unmöglich. Trotz aller Hindernisse ist Katya entschlossen, an der Polizeiakademie zu studieren und später selbst bei der Mordkommission zu arbeiten. Zahrani selbst bringt die Ermittlungen ins Stocken, weil zunächst geklärt werden muss, welche Rolle seine sorgsam verheimlichte Geliebte in dem Serienmord-Fall gespielt haben könnte. Weit über ihre dienstlichen Kompetenzen hinaus stürzt Katya sich forsch in die Ermittlungen, mit allen Hindernissen, die die Moralgesetze ihres Landes ihr dabei in den Weg legen. Katyas Konflikt, wie sie je Familie und Beruf miteinander vereinbaren wird, gibt dabei Einblick in die Lebensumstände moderner saudischer Frauen. Selbst wenn ihr zukünftiger Mann ihr vor der Ehe das Blaue vom Himmel versprechen würde, hätte er nach der Hochzeit das Gesetz auf seiner Seite, falls er ihr eine Berufstätigkeit schlicht verbieten wollte.

Ferraris Kriminalfall und seine Auflösung fand ich höchst interessant und im großen Ganzen spannend. Neben der auf mich sehr glaubwürdigen Figur der Katya sind die Nebenfiguren der Autorin jedoch eher flach geraten. Ibrahim ist besitzergreifend und eifersüchtig, Katyas Zukünftiger ist besitzergreifend und eifersüchtig, … Die FBI-Spezialistin für Serienmörder, Dr. Charlie Becker, wirkt in ihrer Reaktion auf die lokalen Sitten völlig unbedarft und daher für ihren Einsatz unqualifiziert. Missfallen hat mir die unterschwellige Herablassung, die die Figuren in ihren Urteilen übereinander zeigten. Durch diese sprachliche Lässigkeit verschwamm für mich die Grenze zu stark zwischen den offiziellen Moralgesetzen und dem, was Einzelpersonen konkret für ungehörig halten. Zum Eindruck der sprachlichen Lässigkeit trägt bei, dass Ferraris ihre Figuren sich mit Miss, Mister und Detective ansprechen lässt. Die arabischen Begriffe dafür würden an die Geduld ihrer Leser keine unzumutbaren Ansprüche stellen.

Insgesamt ein gelungener Krimi mit einem ungeschickt gewählten Äußeren.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Flutwelle
Niemi, Mikael

Die Flutwelle


ausgezeichnet

Es wird schwarz werden um die Betroffenen als würde eine Lampe gelöscht. Für sie wird es keine Bedeutung mehr haben, ob der Dammbruch auf technisches oder menschliches Versagen zurückzuführen ist. In Nordschweden ist ein Staudamm des Lule älv gebrochen (Stichwort: Stora harsprånget); weitere Dämme werden wie Dominosteine fallen. In seinem Katastrophenszenario formuliert Mikael Niemi gegen die Zeit an. Solange die Vorgänge akribisch in allen Einzelheiten beschrieben werden und solange noch Seiten im Buch zu lesen sind, wird doch hoffentlich die eine oder andere Person noch eine Überlebenschance haben, so hoffte ich. Als würde der nahende Tod die Sinne schärfen, beobachtet der Autor jede Regung, jede Geste seiner Figuren. Da ist Vincent, der Hubschrauberpilot aus der Nähe des Polarkreises, der sich kurz zuvor in einen gnadenlosen Rosenkrieg gegen seine Frau gesteigert hatte. Die erwachsene Tochter Lovisa des Paares erwartet ein Kind; sie kämpft gegen die nahenden Fluten um zwei Leben. Barney arbeitet für den Vattenfall-Konzern, den Betreiber des Wasserkraftwerks. Niemi folgt jedoch nicht den Gedanken eines Kraftwerksexperten, sondern einer Person, die im Moment des nahenden Todes völlig die Kontrolle verliert. Lena war im strömenden Regen mit einer Malgruppe am Fluss. Sie wandelt sich in der Ausnahmesituation zur Karikatur einer ausgebrannten Städterin auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung. Evelina wird vom Gedanken an ihre Tochter vorangetrieben, die an einem nicht näher beschriebenen Ort auf sie wartet. Adolf stammt aus einer Lappenfamilie, deren Lebensweise er schon lange hinter sich gelassen hat. Adolfs gepanzertes Luxus-Auto kann ihm im Moment der Katastrophe kaum Rückhalt bieten, so wie die Häuser, Autos und Handys der anderen nun nutzlos geworden sind. Selbst eine Ausgabe von Niemis eigenem Bestseller-Roman wird von den Wassermassen mitgerissen. Die Hütte von Hjalmar, dem Sturkopf, selbst mit Hammer und Nägeln gebaut, nimmt in der Handlung eine eigene Rolle ein. Wie schade, dass Hjalmar nicht mehr erleben kann, wie stabil sein Häuschen geworden ist.

Niemis detailverliebte Schilderungen wirken schmerzhaft exakt. Er seziert teils absurde Gedanken seiner Protagonisten an die Werkzeuge von Steinzeitmenschen oder daran, wer von einer Lebensversicherungssumme profitieren wird. Die Absurdität und Obszönität der Geschehnisse hält einem selbst den Spiegel vor. Würde ich aus einem im Wasser versinkenden Auto flüchten können – und wohin? Würde mein Leben deshalb zu Ende sein, weil ich nichts über die Benzinleitung eines Bootsmotors weiß? Es sind allgemeingültige Fragen, die Niemi aufwirft, ob das Miterleben eines fremden Todes schlimmer sein kann als der eigene Tod, oder welche Grenzen wir zu überschreiten bereit sind, um uns selbst zu retten.

Das Denken und Handeln grundverschiedener Menschen hat das Buch für mich zu einer spannenden Lektüre gemacht.

Bewertung vom 04.01.2017
Japantown / Jim Brodie Bd.1
Lancet, Barry

Japantown / Jim Brodie Bd.1


sehr gut

Jim Brodie lebt zwischen zwei Kulturen. Als Kind amerikanischer Eltern ist er in Japan aufgewachsen und hat nach dem Tod seines Vaters dessen weltweit vernetzte Ermittlungsagentur in Japan übernommen. Parallel dazu betreibt Brodie in San Francisco Handel mit japanischen Antiquitäten und ist alleinerziehender Vater einen kleinen Tochter. Als in San Franciscos Japantown eine japanische Touristenfamilie offensichtlich von Profis ermordet wird, zieht die Mordkommission Brodie als Experten für die japanische Kultur zu dem Fall hinzu. Brodie kennt Japan und pflegt dort seit seiner Kindheit ein effektiv funktionierendes Netz aus einander verpflichteten Freunden und Mitarbeitern. „Er hat ein breites Gesicht“, sagt man dazu in Japan. Als Kampfsportler ist Brodie darüber hinaus eine faszinierende Figur, deren Handeln durch das Ineinandergreifen von Kopf, Hand und Instinkt gesteuert wird. Ein am Tatort gefundenes japanisches Kanji (Schriftzeichen) konfrontiert Jim mit der Tatsache, dass der Mord an der japanischen Familie mit weiteren Taten zusammenhängt, auch mit dem Tod von Brodies Frau, den er bisher für einen Unfall gehalten hatte. Zu Jims Netz von Informanten in Japan zählt auch ein Kalligraphie-Experte, der aus dem Pinselstrich des Kanji Rückschlüsse auf die körperliche und psychische Verfassung des Schreibers ziehen kann. Brodies Reise zu Ermittlungen nach Japan lässt ihn erkennen, dass er sich mit einem äußerst mächtigen Gegner angelegt hat, der in Auftrag gegebene Morde mit großem Geschick wie Unfälle aussehen lässt.

Mit extrem kurzen Kapiteln und schnellen Schnitten ist Lancets zum großen Teil in Japan spielender Krimi sehr actionlastig. Dennoch übernimmt sich das Buch m. A. mit der Bezeichnung Thriller; es ist ein Krimi für Leser mit Interesse an Japan. Das Setting in zwei verschiedenen Kulturen und mit einer Hauptfigur, die Kopf und Hand geschickt miteinander zu kombinieren weiß, ist für einen Serienauftakt klug gewählt. In der ersten Hälfte vermittelt der Autor nicht nur erstes Wissen über die japanische Schrift, er erläutert für Leser aus dem Westen am Beispiel von zwei konkreten Naturkatastrophen auch sehr eingängig, welche Werte dem japanischen Verhalten in der Öffentlichkeit zugrunde liegen, das Menschen aus dem Westen zunächst befremdet. Sehr eindrucksvoll finde ich Lancets Darstellung des Netzes aus gegenseitigen Verpflichtungen, das man selbst problemlos bis in mafiöse Strukturen weiterdenken kann.

Lancet begibt sich mit seiner geplante Krimi-Reihe auf das Terrain von Barry Eisler und von Sujata Massey, die in ihren Krimis ebenfalls eine Kunsthistorikerin ermitteln lässt. Leider ufert Lancets Handlung in der zweiten Hälfte des Buches aus, ohne die Aufklärung des Mordfalls voranzubringen. Lancet nutzt die spezielle Sichtweise seiner Hauptfigur als Kampfsportler und Vater zu wenig. In der Darstellung des Jim Brodie behauptet er zu viel und zeigt zu wenig. Das Vater-Tochter-Verhältnis und die Dialoge der beiden wirken auf mich unglaubwürdig. Auch seine Beschreibungen von Stimmungen könnten atmosphärisch dichter sein, um Krimileser anzusprechen.

Barry Lancets Auftakt zu einer neuen Serie erfüllt die Erwartungen an einen Thriller kaum, seine Handlung hat mich nur in der ersten Hälfte des Buches gefesselt, in der der Autor konzentriert seine Kenntnisse der japanischen Kultur einbringt. Krimi-Lesern mit Interesse an Japan empfohlen, Leser mit Kenntnissen der japanischen Kultur werden eher enttäuscht sein.

Bewertung vom 04.01.2017
Tödliches Schweigen
Alsterdal, Tove

Tödliches Schweigen


ausgezeichnet

Katrine Hegstrand ist schockiert, als sie aus London zu Besuch nach Schweden kommt und feststellen muss, dass ihre Mutter unter fortschreitender Demenz leidet. Der nächste Schock wartet bereits. Obwohl Mutter und Tochter in einfachsten Verhältnissen gelebt haben, muss Ingrid im Grenzgebiet zu Finnland Haus und Grund besessen haben, für die es offenbar Gebote kaufkräftiger Interessenten gibt. In einem weiteren Handlungsstrang sorgen sich die Nachbarn eines älteren Mannes, weil sie ihn seit zwei Tagen nicht gesehen haben. Thure, ein pensionierter Polizist, soll beim ehemaligen Ski-Idol Lars-Erkki Swanberg nach dem Rechten sehen. Währenddessen begeht in St. Petersburg ein Mann, „der keinen Eindruck hinterlässt“, einen Mord und flüchtet gleich darauf. Auf der Suche nach der verschwiegenen Geschichte ihrer Familie begibt Katrine sich in Ingrids Heimatdorf. Sie findet verlassene Höfe und ein paar Bewohner, die die Geschichten von 1931 kennen, als Ingrids Großvater sein Dorf verließ. Man sprach nicht gern darüber, dass in den 30ern überzeugte Kommunisten aus Schweden in die Sowjetunion auswanderten. Katrine war bisher völlig ahnungslos, dass auch ihr Großvater zu diesen Männern gehört hatte. Ihre Großmutter Siri hat nie wieder von dem Mann gehört, von dem sie ein Kind erwartete. Katrine spürt der verschwiegenen Geschichte ihrer Familie mit der konzentrierten Entschlossenheit der Journalistin nach und reist dazu bis nach St. Petersburg. Dass es damals üblich war, einen aus dem Finnischen ins Schwedische oder Russische übersetzen Namen zu tragen, macht ihre Suche nicht einfacher. Als Katrine ihr Familiengeheimnis aufdecken kann, ist die Geschichte noch längst nicht zu Ende. Im Dorf kommt es zu einem weiteren Todesfall und die Person trifft ein, die einen hohen Beitrag für einen abgelegenen Hof im hohen Norden zu zahlen bereit war.

Tove Alsterdal führt ihre Leser mit einem besonderen Händchen für die Erzeugung von Stimmungen nach Tornedalen in Nordschweden. Ein geschickt gewählter Schauplatz, der von jeher religiöse und politische Extremisten, Flüchtlinge und Schmuggler anzog. Der Gedanke an das abgelegene Dorf macht melancholisch, das erst wieder ins Bewusstsein rückt, als dort eine Gewalttat bekannt wird und von hohen Geldsummen gemunkelt wird. Besonders eindringlich wirken Alsterdals ältere Dorfbewohner, z. B. Thure, der die Zeitzeugnisse zu der alten Geschichte erneut zusammenstellt, weil er meint, seine jüngeren Kollegen würden weniger sorgfältig recherchieren als er. Die Verknüpfung einer persönlichen Suche nach Spuren aus den 30ern, einem Kriminalfall und weiteren Verbindungen von Vergangenheit und Gegenwart mag ungewöhnlich wirken; ich fand sie fesselnd und stimmungsvoll erzählt. Ungeklärte Schicksale von Angehörigen sind universelle Themen, die nicht aus der Mode kommen, solange es Kriege und Diktaturen gibt.