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sleepwalker

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Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 25.06.2021
Die vierte Schwester / Jackson Brodie Bd.1 (eBook, ePUB)
Atkinson, Kate

Die vierte Schwester / Jackson Brodie Bd.1 (eBook, ePUB)


gut

„Die vierte Schwester“ von Kate Atkinson ist ein Buch, das mir in mehrerlei Hinsicht zu schaffen gemacht hat. Einerseits ist es ein ziemlich geradliniger Roman (allerdings gibt es mehrere Handlungsstränge, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben), andererseits ein Psychogramm gestörter und zerstörter Familien. Durch diese Vielschichtigkeit fand ich das Buch stellenweise sehr gut und locker, manchmal sogar amüsant zu lesen, andere Passagen fand ich wiederum sehr schwierig und zäh. Und für mich war das Buch nur teilweise ein Krimi, ich finde den Klappentext und das zugewiesene Genre etwas irreführend.
Aber worum geht es?
Familie Land hat vier Töchter und die Mutter ist erneut schwanger. Mutterliebe empfindet diese nur gegenüber der jüngsten Tochter Olivia, dem „Nachzügler“. In einer heißen Sommernacht verschwindet sie aus dem Garten spurlos. Die Familie zerbricht an diesem Verlust und nach dem Tod des Vaters finden die älteren Schwestern das Lieblingskuscheltier der Jüngsten beim Ausräumen von dessen Schreibtisch. Um 30 Jahre später Olivias Verschwinden aufzuklären, engagieren die Schwestern den Privatdetektiv Jackson Brodie.
Der arbeitet parallel aber noch an anderen Fällen: der ehemalige Anwalt Theo sucht nach zehn Jahren immer noch den Mörder seiner Tochter und Shirley sucht ihre verschwundene Nichte. Brodie selbst kämpft zudem noch mit seiner ex-Frau, die mit der gemeinsamen Tochter nach Neuseeland ziehen will, weil ihr neuer Lebensgefährte dort ein Jobangebot angenommen hat. Diese verschiedenen Handlungsstränge verknüpft die Autorin mehr oder weniger gekonnt durch eine einzige Tatsache: sie laufen bei ein und demselben Ermittler zusammen. Mir kam es manchmal eher so vor, als müsse sie verzweifelt einen gemeinsamen Nenner für die nicht zusammenpassenden Fälle konstruieren, was nicht passte, wurde passend gemacht.
Und diese Tatsache machte es mir schwer, das Buch als einen einheitlichen Roman und nicht als eine Zusammenstellung von Kurzgeschichten zu sehen. In den Kapiteln wechseln sich die Fälle ab, mal in der Vergangenheit, mal in der Gegenwart, was ich eher kompliziert fand, als einen cleveren schriftstellerischen Kunstgriff. Vor allem hat das Buch für mich weder eine einheitliche Linie oder einen roten Faden oder gar einen Spannungsbogen. Falls innerhalb eines Kapitels mal so etwas wie Spannung aufgebaut wird, dann endet diese abrupt am Ende des Kapitels – nicht mit einem Cliffhanger sondern sie verpufft irgendwie und wird nicht wieder aufgegriffen.
Sprachlich fand ich das Buch gut und leicht zu lesen, wenn auch die ausschweifende Art der Autorin mir manchmal auf die Nerven ging und ich mich fragte, ob und wie sie bei so vielen beschriebenen Nebensächlichkeiten jemals wieder zum Thema zurückfinden würde. Die Atmosphäre des Buchs ist hingegen sehr bedrückend und nicht leicht zu verdauen. Kaputte Familien, ungeliebte Kinder, denen geliebte Kinder im krassen Kontrast gegenüberstehen - keine der Familien brauchte ein Unglück, um zu zerbrechen, die waren alle vorher schon völlig kaputt. Das fand ich thematisch wirklich schwere Kost, aber nicht zwingend krimitauglich. Die vielen hervorragend beschriebenen Charaktere sind so vielschichtig, vielseitig, skurril und undurchsichtig.
Ich fand das Buch nicht schlecht aber auch nicht wirklich gut. Ich brauchte einige Zeit, mich mit dem Stil der Autorin anzufreunden und bei den Zeitsprüngen und den Handlungssträngen den Durchblick zu finden. Und auch den Titel fand ich nicht gut gewählt, denn die Geschichte rund um die „vierte Schwester“ macht ja nur einen Bruchteil der Handlung aus. Daher vergebe ich drei Sterne.

Bewertung vom 23.06.2021
Lady Churchill / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.2
Benedict, Marie

Lady Churchill / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.2


sehr gut

„ Aber mein Leben wird sich nicht allein darum drehen, die unsichtbare Stütze meines Mannes zu sein.“ - das nahm sich Clementine Hozier vor ihrer Hochzeit vor. Und wie ihr Leben an der Seite von Winston Churchill verlief, beschreibt Marie Benedict in ihrem Roman „Lady Churchill“. Über die historische Korrektheit der Geschichte kann ich nichts aussagen, Fakt ist aber, dass das Buch keine Biografie ist, sondern ein Roman. Das Bild, das die Autorin über die Ehefrau eines der größten Politiker des 20. Jahrhunderts zeichnet, ist sehr deutlich: Clementine Churchill war sehr ehrgeizig, die Karriere ihres Mannes ging ihr über alles. Dahinter hatte alles andere zurückzustehen, vor allem ihre Kinder.
Das Buch beginnt mit dem Tag ihrer Hochzeit 1908 und endet mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Paar bekommt fünf gemeinsame Kinder, eines stirbt im Kindesalter und Clementine erleidet mindestens eine Fehlgeburt. Die beiden meistern finanzielle Schwierigkeiten, die ihr Lebensstil mit sich bringt. Auch dabei zeigt sich, dass Clementine eine findige, kluge und äußerst lebenstüchtige Frau ist, eine „Macherin“. Sie scheint nicht die starke Frau gewesen zu sein, die hinter dem mächtigen Mann stand, sondern eine, die ihn auch gerne und oft in die (ihrer Meinung nach) richtige Richtung geschubst zu haben.
Sie war emanzipiert und selbstbewusst, wusste sich gegenüber ihrem Mann und in der Gesellschaft zu behaupten und sie war eine „große Anhängerin der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen“. Ihr Verhältnis zu den Kindern war, wie Marie Benedict es beschreibt, aber eher zeitgemäß britisch-kühl (die Kinder wurden von Kindermädchen erzogen, der Sohn kam dann ins Internat). Aber sie war sich ihrer mangelnden mütterlichen Gefühle und mütterlichen Fähigkeiten durchaus bewusst. „Ich lächele meine Tochter an. Wir werden sie Sarah nennen. Ich werde sie lieben und für sie sorgen, aber sie wird mich nicht aufhalten.“ – mehr muss man über ihr Verhältnis zu den Kindern gar nicht wissen, für sie waren Kinder eher etwas, mit dem man sich „herumschlagen musste“.
Winston Churchill spielt in dem Buch eine untergeordnete Rolle, manchmal scheint es mir, als hätte er diese auch in seiner Ehe gespielt. Aber er toleriert die Ambitionen seiner Frau nicht nur, er ermutigt sie und sie war eine seiner größten und geschätztesten Beraterinnen. Das Buch an sich fand ich nett zu lesen, allerdings fand ich manchmal die Zeitsprünge etwas groß und die Sätze ein bisschen verschachtelt. Die Hauptperson fand ich zwar interessant, aber durch ihr unterkühltes Verhältnis zu den Kindern und ihren enormen Ehrgeiz eher schwierig und nicht wirklich sympathisch. Auch, dass sie sich vor ihrer viermonatigen Reise nach Südostasien (zur Beruhigung ihrer Nerven) nur Gedanken darüber macht, „welche Auswirkungen meine Abwesenheit auf Winston haben wird, wie sehr er in sich zusammenfallen wird ohne meinen Einfluss und die von mir geschaffene Struktur“ fand ich befremdlich. Sie war für ihren Mann wohl mehr die Mutter, die er nie hatte, denn auch er wuchs ohne viel Mutterliebe auf. Dafür kontrollierte ihn seine dominante Mutter als Erwachsener noch, manchmal kam es mir beim Lesen so vor, als habe sich Churchill aus der Beziehung zu seiner dominanten und manipulativen Mutter in die Ehe mit einer dominanten und ebenso manipulativen Frau begeben. Clementine Churchill wollte immer nur das Beste für ihren Mann und hielt sich für unverzichtbar. Außerdem wollte sie, dass die Nachwelt ihren Beitrag für den Frieden ebenso anerkennt, wie den ihres Mannes: „Wenn unsere Nachfahren Winston und diesen schrecklichen Krieg beurteilen, dann werden sie sehen, dass es Winstons Hand war, die Geschichte schrieb. Aber werden sie sehen, dass auch meine Hand den Stift führte?“
Für mich war das Buch unterhaltsam und ein lesenswertes Werk über eine starke und progressive Frau. Wegen der manchmal holprigen Sprache und der großen Zeitsprünge, die große Lücken lassen, von mir vier Sterne.

Bewertung vom 18.06.2021
Der Mann im roten Rock
Barnes, Julian

Der Mann im roten Rock


gut

„Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an. Einer war ein Prinz, einer war ein Graf und der Dritte war ein einfacher Bürger mit einem italienischen Familiennamen. Der Graf beschrieb den Zweck der Reise später als »intellektuelle und dekorative Einkaufstour«“. Damit fängt Julian Barnes‘ neuestes Werk „Der Mann im roten Rock“ an. Kein Roman, keine Biografie, sondern ein Essay über die Belle Époque, das Fin de Siècle im Allgemeinen und den Arzt Dr. Samuel Jean Pozzi, der John Singer Sargent für dessen Gemälde „Dr. Pozzi at Home“ (so heißt das Bild vom Mann im roten Rock tatsächlich) 1881 Modell gestanden hat, im Besonderen. Für mich ein Buch, das ich zwischen einzigartig und eigenartig ansiedle.
Zugegebenermaßen kannte ich vor der Lektüre weder Julian Barnes noch Dr. Pozzi und die Belle Époque konnte ich nur grob einordnen. Aber jetzt, da ich das Buch zu Ende gelesen habe, weiß ich wesentlich mehr. Viel zu wenig über den Arzt, aber sehr viel über die Zeit, in der er lebte. Über ihn habe ich erfahren, dass er ein visionärer Gynäkologe war und ein Arzt für die Reichen und Schönen. Dass er ein Dandy, Lebemann und Kunstsammler war, widerlich gut aussah und dass er von 1848 bis 1918 lebte. Außerdem lernte ich etwas über seinen mehr oder weniger illustren Dunst- und Freundeskreis, in dem sich neben Grafen und Prinzen auch bekannte Persönlichkeiten wie Sarah Bernhardt Oscar Wilde bewegten. Über die Zeit der Belle Époque erzählt Julian Barnes locker und im Plauderton von großer Geschichte und kleinen, intimen Geschichten. Er schreibt über Duelle, zeitgenössische Literatur und Kunst und zeichnet damit ein deutliches Bild der Zeit und des dekadenten Lebens der damaligen High Society.
Sprachlich fand ich das Buch sehr gut formuliert, wenn auch manche Sätze sehr lang und verschachtelt sind. Aber der Inhalt ist durch die Fülle an Personen und die unglaubliche Masse an wichtigen und unwichtigen Informationen sehr überladen und hat mich manchmal fast erschlagen. Ich kam mir vor wie in einem Spinnennetz. Ausgehend von der Mitte (dem Gemälde vom Mann im roten Rock) flicht der Autor viele Fäden in alle möglichen Richtungen. Ich klebte wie eine Fliege in der Mitte, unfähig, das Buch wegzulegen, aber auch nicht wirklich begeistert davon.
Wer sich für ein Sittenbild der Belle Époque interessiert, der ist mit dem Buch hervorragend bedient. Wer sich aber eine Biografie des Arztes erhofft, wird wohl ebenso überrascht und eventuell enttäuscht sein, wie ich und sich durch die Menge an Information leicht überfahren fühlen. Die kleine Prise Politik, die der Autor einfließen lässt, fand ich allerdings sehr erleuchtend: er beleuchtet die Unterschiede zwischen England und Frankreich bezüglich der Frauenrechte, Korruption, Auffassung von Recht und Gesetz, lässt seine Protagonisten philosophisch angehaucht einen Blick auf Europa werfen, was aus heutiger Sicht, nach vollzogenem Brexit sogar fast poetisch anmutet.
Aber leider gibt es zu Dr. Pozzi, der eigentlich die Hauptperson des Buchs sein sollte, gar nicht so viele Fakten, denn er hat selbst nicht wirklich viel hinterlassen. Das meiste, was man über ihn erfährt, stammt aus den Tagebüchern seiner Tochter oder Briefen und so verkommt er eher zum Nebendarsteller in einem Buch über sich selbst. Hauptdarsteller ist die Zeit, in der er lebt und Julian Barnes zeichnet ein gelungenes Sittenbild, was aber nicht das ist, was ich erwartet habe und was Klappentext und Buchbeschreibung versprochen haben. Mir lag das Buch daher nicht wirklich und ich vergebe drei Sterne.

Bewertung vom 18.06.2021
Als wir uns die Welt versprachen
Casagrande, Romina

Als wir uns die Welt versprachen


gut

Da ich aus Schwaben stamme, ist das Schicksal der „Schwabenkinder“ für mich seit frühester Kindheit ein stets wiederkehrendes Thema, sei es in Film- oder Buchform oder durch Besuche in Freilichtmuseen, die das Thema aufgreifen. Daher habe ich mich auf das Buch „Als wir uns die Welt versprachen“ von Romina Casagrande gefreut. Allerdings konnte mich der Roman nicht wirklich begeistern. Die Passagen, in denen sich Edna an ihre Zeit in Schwaben erinnert, fand ich sehr gut und authentisch, die haben mich tief berührt. Der Rest der Geschichte war für mich bloßes, manchmal sogar störendes, Beiwerk, unrealistisch und klischeehaft, aber nett geschrieben.
Edna ist inzwischen fast 90 Jahre alt und teilt sich ihr Leben mit dem Papageien Emil. Obwohl sie in Tirol lebt, liest sie den deutschen „Stern“ und findet (welch ein Zufall) einen Artikel über einen Freund aus ihrer Zeit als Schwabenkind in Deutschland. Kurzerhand packt sie Emil in eine Kiste und die nötigsten Dinge für sich selbst ein und macht sich zu Fuß auf den Weg nach Ravensburg. Anhand einer uralten Karte möchte sie denselben Weg noch einmal gehen, den sie vor über 75 Jahren schon einmal gegangen ist – quer über die Alpen. Ihr Ziel ist es, ihren Freund Jacob in Ravensburg zu besuchen und ein fast 80 Jahre altes Versprechen einzulösen. Es ist für die hochbetagte Dame ein weiter Weg ins Unbekannte, ohne Plan und mit wenig Geld, dafür mit viel (unfreiwilligem) Witz und Optimismus.
Unterwegs trifft Edna ein buntes Potpourri an verschiedensten Menschen (unter anderem einen Motorradrocker, eine Schamanin und einen Homosexuellen), denen sie allen zuerst mit Misstrauen begegnet, sehr schnell aber merkt, dass ihr alle wohlgesonnen sind und jeder ihr helfen will. Und da war ich aus der Geschichte auch schon irgendwie raus, denn obwohl die Erinnerungen an die Schwabenkind-Zeit in Ednas Erinnerungsfetzen wirklich gut beschrieben sind, ist der „Jetzt“-Erzählstrang Geschichte für mich schlicht überzogen. Ausnahmslos alle, die Edna trifft, sind tief in ihrem Inneren gut und hilfreich. Obwohl sie ihren Umhang samt einem Großteil ihres Geldes irgendwo vergisst, geht sie weiter und schreibt das Verlorene einfach ab. Die Naivität und Planlosigkeit in Relation zu ihrem Alter und ihrer nicht wirklich vorhandenen körperlichen Fitness und Belastbarkeit brachten mich an den Stellen eher zum Kopfschütteln, denn zum Schmunzeln und manches habe ich quer gelesen, da sich vieles wiederholt und viele Passagen für mich zunehmend langweilig und langatmig wurden.
Der „Vergangenheits“-Handlungsstrang hingegen hat mich wirklich berührt und gefesselt. Ihr Leben und Leiden auf dem Hof und vor allem die enge Verbindung zu Jacob, der sie „Zimperliese“ nennt und ihr hilft, das harte Leben in der Fremde besser zu ertragen, hat mich wirklich bewegt. Wieso sie allerdings nie nach dem Freund gesucht hat, nachdem sie durch den Zweiten Weltkrieg getrennt wurden, ist mir ein Rätsel. Da musste der Zufall nachhelfen. Und leider erfährt man als Leser auch nicht, was die beiden in den vielen Jahren gemacht haben, das hätte mich wirklich interessiert, auf jeden Fall mehr als das, was die Autorin zwischendurch über Ednas helfende Hand Adele und deren Familie erzählt, denn das trägt nun wirklich gar nichts zur Geschichte bei.
Sprachlich ist das Buch eher einfach gehalten und flott zu lesen. Den Charakteren stehe ich eher ambivalent gegenüber. Edna finde ich beispielsweise zwar interessant und stark, aber ihre Naivität und Planlosigkeit gingen mir zunehmend auf die Nerven. Die Geschichte an sich fand ich viel zu konstruiert und alles zu sehr an den Haaren herbeigezogen, zu viel langatmige Nebenhandlung trifft auf zu wenig konkrete Haupt-Handlung. Insgesamt fand ich, dass das Buch dem Klappentext absolut nicht gerecht wird, daher vergebe ich für die gute Umsetzung des „Vergangenheits-Erzählstrangs“ drei Sterne. Wer zum Thema Schwabenkinder aber wirkliche Informationen sucht, ist mit dem Buch meiner Meinung nach nicht gut bedie

Bewertung vom 18.06.2021
Zeit der Wunder / Kinderklinik Weißensee Bd.1
Blum, Antonia

Zeit der Wunder / Kinderklinik Weißensee Bd.1


weniger gut

Da historische Krankenhausserien spätestens seit „Charité“ „in“ sind, reiht sich „Kinderklinik Weißensee“ von Antonia Blum nahtlos in die Serie ein. Auch ihre mehrteilige Reihe, von der „Zeit der Wunder“ der erste Teil ist, dreht sich um Schwesternschülerinnen in einer Kinderklinik um 1911. Gut, es ist die erste und modernste Kinderklinik Europas zu der Zeit. Und es ist eine Zeit, in der die Medizin große Fortschritte verzeichnen konnte. Aber dennoch bleibt die Autorin beim bewährten Schema: zwei eltern- und mittellose junge Schwestern beginnen eine Ausbildung zur Krankenschwester, treffen auf Standesdünkel, werden gemobbt, beweisen sich und es gibt eine (oder mehrere) Liebesgeschichten und Schicksalsschläge. Dazwischen ein bisschen Medizin und Medizingeschichte – fertig.
In diesem Buch sind es die Schwestern Marlene und Emma Lindow, die nach ihrer Entlassung aus dem Waisenhaus in der Kinderklinik Weißensee ihre Ausbildung beginnen. Die Schwestern sind sehr unterschiedlich, wo die eine in der Pflege der kleinen Patient:innen ihre Erfüllung findet, hat die andere den Ehrgeiz, selbst Kinderärztin werden zu wollen.
Alles in allem fand ich das Buch nett zu lesen, das war es dann aber auch schon. Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus der Sicht beider Schwestern, was den Roman lebendig und anschaulich macht. Die Sprache ist mehr oder weniger authentisch und das, was die Autorin über Medizin und Gesellschaft der damaligen Zeit meistens, wenn auch nicht immer, sauber dargestellt und ordentlich recherchiert. Leider kommt für mich die Medizin zugunsten des Privatlebens der Protagonisten viel zu kurz, da bleibt es bei wenigen Exkursen, die zwischen den vielen privaten Ereignissen rund um die Charaktere eher verloren wirken.
Insgesamt fand ich das Buch zu kitschig und klischeehaft, da hatte ich mir mehr Tiefe erhofft. Aber die Autorin bleibt beim bewährten Strickmuster, da gibt es noch nicht einmal bei den zahlreichen Schicksalsschlägen Überraschungen. Es ist nicht langweilig, nicht spannend, nicht gut und nicht wirklich schlecht. Es ist für mich ein reiner Unterhaltungsroman für Zeiten großer Langeweile, in denen nichts Besseres greifbar ist. Da hatte ich mehr erwartet, denn die Idee hinter dem Buch ist gut und das große vorhandene Potential wird von der Autorin nicht annähernd ausgeschöpft. Von mir daher 2 Sterne.

Bewertung vom 15.06.2021
Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau
Stephan, Björn

Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau


gut

Der 13-jährige Sascha Labude lebt im “alten Land“, er die gerade untergegangene DDR nennt. Er ist der Protagonist in Björn Stephans Debütroman „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“. 1989 ist der (fiktive) Ort Klein Krebslow mit seinem Neubaugebiet noch ein Prestige-Projekt (mit Fernwärme!). Was fünf Jahre später übrigbleibt, ist eine nicht fertiggestellte Plattenbausiedlung für Wendeverlierer und „Assis“, „die die nie das Treppenhaus wischen“. Wer kann, zieht weg, viele sind bereits gegangen und auch Saschas Familie träumt vom Umzug. Aber in der kurzen Zeit, bis es soweit ist, passiert im Leben des pubertierenden Jungen noch so einiges.
Mitten in seine Einöde zwischen dem apathischen Vater und der ehrgeizigen Mutter taucht Juri auf, eine eher wilde und unangepasste neue Mitschülerin. Sie bringt das Leben des Jungen völlig durcheinander, das sich bislang nur um Schule, seinen Freund Sonny und sein großes Hobby, das Sammeln fremder und ungewöhnlicher Wörter drehte. Denn Juri zeigt ihm, dass vieles und viele völlig anders sind, als er bislang dachte und er erfährt, wie es sich anfühlt, zum ersten Mal verliebt zu sein. Sascha schreibt die Geschichte ihrer gemeinsamen Zeit bis zum Ende (einer „Monsterkatastrophe“) auf und Juri findet über 20 Jahre später sein Manuskript, als sie nach dem Tod ihrer Mutter zum ersten Mal wieder in Klein Krebslow ist.
Das Buch lässt mich etwas ratlos zurück. Einerseits ist es ein gelungener Coming-of-Age-Roman, andererseits kann ich aber nicht wirklich viel damit anfangen, obwohl ich fast zur selben Zeit aufgewachsen bin, wie Sascha. Ich stamme allerdings aus dem tiefsten Schwaben, weshalb mir seine Welt bis zuletzt eher fremd blieb. Das macht das Buch allerdings nicht zu einem schlechten Werk. Es ist ein eher ruhiger Roman ohne wirkliche Höhepunkte, den Anfang fand ich sehr gelungen und packend, nur deshalb habe ich überhaupt weitergelesen. Aber danach schleicht sich die Handlung irgendwie still und leise durch die bedrückte Atmosphäre des Sommers 1994, einer Zeit zwischen Aufbruch, Verwirrung, Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit.
Die Charaktere fand ich gut und bildhaft ausgearbeitet, wirklich begeistern konnte mich allerdings keiner. Sascha bleibt bis zum Schluss eher blass und Juri fand ich durch ihr enormes Selbstbewusstsein und ihre Intelligenz eher anstrengend als sympathisch. Saschas Eltern bleiben bis auf wenige Auftritte sehr stark im Hintergrund und die größtenteils eher pseudo-philosophischen Denk-Ansätze von Herrn Reza konnten mich auch nicht vom Hocker reißen. Sprachlich bewegt sich der Autor elegant zwischen jugendlichem Slang und gewählter Ausdrucksweise, eine Gratwanderung, die den Tenor des Buchs widerspiegelt: jugendlicher Aufbruch in Form von Sascha, Sonny und Juri trifft auf die eher komplizierte Sprache des aus dem Iran emigrierten Herrn Reza und mittendrin stehen die Eltern, die einerseits der DDR nachtrauern, andererseits aber die Möglichkeiten der „sogenannten sozialen Marktwirtschaft“ sehen und nutzen wollen.
Für mich bleibt es ein Buch, das ich auch nach zweimaligem Lesen nicht so richtig einordnen kann. Es ist nicht schlecht, aber auch nicht gut und es wird mir vermutlich nur eines im Gedächtnis bleiben: „Letztlich sind wir dem Universum egal.“ Von mir daher 3 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.06.2021
Real Life
Taylor, Brandon

Real Life


sehr gut

Eine Geschichte über Alltagsrassismus, einen jungen Mann mit vielen ungelösten Konflikten in seinem Umfeld, aber auch in seinem Inneren und seinen Wunsch, dazuzugehören – so würde ich die Geschichte von Wallace zusammenfassen, der im Mittelpunkt von Brandon Taylors Buch „Real Life“ steht. Wallace wollte unbedingt den Ort verlassen, an dem er aufgewachsen ist. Und so landet er als erster und einziger Schwarzer Doktorand an einer Uni im Mittleren Westen der USA. Hier hofft er, Akzeptanz und einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Das klappt allerdings nicht wirklich gut, denn sein offener Umgang mit seiner Homosexualität ist in seiner Clique kein Problem, seine Hautfarbe scheinbar schon. Er ist ständig (mal sehr subtil, mal ganz offen) größeren und kleineren Sticheleien ausgesetzt, bis hin zu klaren Ausgrenzungen und Mobbing. Dabei steht er in der Gruppe immer alleine da, von ein paar seiner „Freunde“ wird er zwar getröstet, aber nur, wenn sonst niemand dabei ist, in der Gruppe steht niemand wirklich offen zu ihm.
Der Autor beschreibt in seinem Roman einen sehr kurzen Zeitraum im Leben von Wallace. Das Buch vereint psychologische, politische und gesellschaftliche Elemente zu einem sehr realistischen Ganzen, metaphorisch mehr oder weniger auch in der Versuchsreihe des Protagonisten aufgegriffen: Wallace macht Experimente in Petrischalen, die durch eine Kommilitonin sabotiert werden. Genauso werden seine Versuche, an der Uni und im Freundeskreis Fuß zu fassen, von anderen torpediert. Ebenso wie seine Nematoden, droht er zu verkümmern, obwohl er sowohl in seine Forschung, als auch in seinen Versuch, dazu zu gehören, sehr viel Arbeit und Mühe steckt. Und natürlich sucht Wallace nicht nur Freunde und Anerkennung, er sucht auch einen Partner, was sich ebenfalls als ziemlich kompliziert erweist.
Ich bin bei dem Buch etwas zwiegespalten, ebenso wie ich den Charakter von Wallace als sehr zwiegespalten, schwierig und nicht wirklich sympathisch erlebe. Einerseits ist er völlig devot und entschuldigt sich ständig und hat keinerlei Selbstwertgefühl („Meine Seele war schwarz, eine faulige Wunde“). Andererseits legt er sehr destruktive Wesenszüge an den Tag, stößt andere ebenso vor den Kopf, wie die ihn. Irgendwie scheint er in seinem eigenen Leben fremd zu sein, unbeholfen und eher unreif.
Die Geschwindigkeit, mit der der Autor die Geschichte erzählt, ist sehr hoch, denn er packt in die wenigen Tage sehr viel Inhalt, in den Zeilen, aber auch dazwischen. Wallaces Kindheit, das schwierige Verhältnis zu seinem kürzlich verstorbenen Vater, seine Probleme, in Gesellschaft und Leben einen Platz zu finden – das sind nur ein paar der Themen, die der Autor in klarer, einfacher aber enorm bildreicher und schonungsloser Sprache serviert. So viel Traurigkeit („Ich hasse es überall.“), Schuldgefühle, Versagensängste, Ausgrenzung und Einsamkeit in so schlichten Worten nahmen mich beim Lesen wirklich mit. Dazu die deutliche Beschreibung des (Alltags)Rassismusses, dem sich Wallace stellen muss – da musste ich oft schlucken, aber auch mein eigenes Handeln überdenken, denn manche Situationen, in denen er sich findet, entstehen aus Ereignissen der Kategorie „gut gemeint ist nicht gut gemacht“. So werden Wallace seine „Privilegien“ vorgehalten, ihm wird Frauenhass vorgeworfen und er solle doch froh sein, trotz seiner „Defizite“ so weit gekommen zu sein. Defizite sind sowohl sein Schwarz-Sein, aber auch seine Homosexualität und seine eher ärmliche Herkunft und die Tatsache, dass er hauptsächlich aufgrund eines Stipendiums studieren kann.
Alles in allem fand ich das Buch gut zu lesen, aufgrund der Dichte der Ereignisse und Emotionen, aber auch der angerissenen Themen, war es keine einfache, aber eine äußerst lohnenswerte Lektüre. Allerdings lässt mich der offene Schluss eher ratlos zurück. Da ich mir ein runderes Ende gewünscht hätte, vergebe ich vier Sterne.

Bewertung vom 05.06.2021
Der Himmel ist hier weiter als anderswo
Pauling, Valerie

Der Himmel ist hier weiter als anderswo


sehr gut

Herz-Schmerz-Tragik-Liebesgeschichten sind eigentlich nicht mein Lieblingsgenre, aber der Klappentext von Valerie Paulings Roman „Der Himmel ist hier weiter als anderswo“ hat mich trotzdem sehr stark angesprochen. Und ich muss sagen, dass das Buch mich zwar nicht 100 prozentig begeistert, aber dennoch sehr berührt und gut unterhalten hat.
Nach dem Tod ihres Mannes Jan steht Felicitas, genannt Fee, mit den vier gemeinsamen Kindern, im Alter zwischen knapp 16 und knapp sechs Jahren, alleine da. Zudem hat Jans Tod sie dahingehend traumatisiert, dass sie ihren Beruf als Geigerin und Musiklehrerin nicht mehr richtig ausüben kann: als er starb, stand sie auf der Bühne – Schuldgefühle lähmen sie und sie hat danach nie wieder Geige gespielt. Als ihr ihre Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt wird und sie auch noch ihren Job verliert, kauft sie kurzerhand einen alten Gasthof im Alten Land und sie ziehen um.
Was nun folgt, ist aus unzähligen anderen Büchern bekannt und ganz sicher hat die Autorin damit das Rad nicht neu erfunden. Aber sie beschreibt das neue Leben der Familie sehr anschaulich und berührend – natürlich ist der Gasthof maroder als erwartet, natürlich haben die Kinder ihre Probleme mit dem Leben auf dem Land und ebenso natürlich gibt es in Fees Leben Männer, die sich für sie interessieren. Ein paar Ideen zur Finanzierung des Lebensunterhalts, eine Prise schwierige Kinder, ein Hauch Pubertät (oder wie die Autorin schreibt: Adoleszenz) und fertig ist der Roman. Kitschig und völlig plakativ? Ja, sicher. Romantisch? Absolut. Schön zu lesen? Selbstverständlich.
Die Sprache, derer sich die Autorin bedient, ist für mich ebenso wechselhaft, wie Fees Leben. Mal einfach und schlicht, mal eher abgehoben und kompliziert. Und ebenso mäandert sich Fee durchs Leben, vor allem in Bezug auf die Kinder hin- und hergerissen zwischen Laissez-faire und Autorität, sie eckt überall an, ist überfordert, traurig und weiß nicht so wirklich, wohin mit sich selbst. So realistisch das sicher ist, so sehr ging sie mir beim Lesen manchmal auf die Nerven. Den Neu-Anfang, um den sich das Buch dreht, erarbeitet nicht sie sich, sie verlässt sich komplett darauf, dass andere ihr helfen und sobald es schwierig wird, streicht sie die Segel und ist bereit, davonzulaufen. Ihr „es ist das Beste für die Kinder“ ist ein reines Lippenbekenntnis und sie verkommt von der eigentlichen Hauptperson zu einer Randfigur im eigenen Leben. Ganz anders die Kinder, von denen jedes ein wirklicher Charakter ist, liebevoll dargestellt und ausgearbeitet. Sie sind die wahren Helden der Geschichte für mich.
So richtig ausgearbeitet ist für mich aber die ganze Geschichte nicht, zu viele Handlungsstränge werden angefangen, halbherzig weiterverfolgt (wenn überhaupt) und dann einfach ohne Auflösung beendet. Martha, die zehnjährige Tochter, spricht manchmal mehrere Tage nicht – wird von der Mutter hingenommen, ebenso das Lispeln des sechsjährigen Golo, hingegen hat sie große Probleme damit, dass ihr ältester Sohn Rasmus nur knapp versetzt wird und die Schule abbrechen möchte. Irgendwie scheint Fee so von ihrer Trauer vereinnahmt zu sein, dass ihr völlig entgeht, dass auch die Kinder einen Verlust erlitten haben.
Insgesamt ist der Roman trotz der Tragik eher leicht und seicht. Das Ende war für mich völlig vorhersehbar, der Weg dorthin erwartungsgemäß schwierig und alles in allem war das Buch für mich etwas zu überladen und viel zu plakativ. Die Guten in der Geschichte sind gutaussehend und haben kein Geld aber gute Ideen und einen tollen Charakter, sind fleißig und kreativ. Die Fieslinge sind gutaussehend, haben viel Geld und weder Charakter noch Anstand. So bleibt für mich alles ein wenig zu oberflächlich, was ich sehr schade fand, denn die Geschichte an sich hätte sehr viel Potential gehabt. Da er sicher aber nicht den Anspruch erhebt, große Literatur zu sein, bekommt der Roman von mir für den Unterhaltungswert dennoch vier Sterne.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.06.2021
Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
Nguyen-Kim, Mai Thi

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit


ausgezeichnet

„Noch nie zuvor gab es so viel Wissen – und so viele Meinungen.“ - dieser Satz aus dem Vorwort von Mai Thi Nguyen-Kims Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ ist vermutlich die beste Charakterisierung des momentanen Zustands. Nicht nur Corona hat mir (und sicher sehr vielen anderen) gezeigt, dass Wissen, Verstehen und Deuten wichtiger ist, denn je. Und das Handwerkszeug, um mit dem Wissen richtig umgehen zu können, gibt die Autorin ihren Lesern in ihrem Buch an die Hand.
Die Autorin ist promovierte Chemikerin und ausgezeichnete (u.a. Grimme Preis 2021) Wissenschaftsjournalistin. Bekannt ist sie unter anderem durch TV-Formate wie Quarks oder ihren eigenen YouTube-Kanal „maiLab“, bei beiden versucht sie, Wissenschaft und schwierige Themen einfach zu erklären. Das macht sie auch in ihrem Buch, in dem sie anhand verschiedener Themen Forschung und Methodik erklärt und zeigt, wie Studien funktionieren und worauf man bei der Interpretation von Studienergebnissen achten sollte. Und sie erläutert dabei außerdem unter anderem Begriffe wie Korrelation und Kausalität, Placebo und Nocebo und Bias (sowohl Publication Bias als auch Confirmation Bias). Mai zeigt für den Laien verständlich, wie Wissenschaft und wissenschaftliche Arbeit funktioniert (oder funktionieren sollte), was wissenschaftliches Denken überhaupt ist und wie man Studienergebnisse interpretiert. Eine gewisse Skepsis gehört auch für sie dazu, sie bringt ihrer Meinung nach sogar die Wissenschaft voran („zumal Skepsis doch die DNA von Wissenschaft und Forschung ist“). Vor allem momentan, wo Impfen, Impfstoffentwicklung/-zulassung
Vieles von dem, was sie in ihrem Buch zusammengestellt hat, kannte ich so oder ähnlich schon von ihrem YouTube-Kanal, einiges war mir aber auch neu. Außerdem fand ich es auch ganz schön, Internet-Inhalte praktisch transkribiert und aufbereitet, unterfüttert mit zusätzlichen Informationen und Illustrationen, schwarz-auf weiß in der Hand zu halten. Ein Buch ist halt doch noch mal etwas anderes als ein Video. Themen des Buchs sind neben Legalisierung von Drogen und dem Gender Pay Gap auch Videospiele und Gewalt, alternative Medizin (in diesem Zusammenhang erklärt die Autorin auch Placebo und Nocebo), Intelligenz (hier schlägt sie den Bogen zu Vererbung und Genetik) und Tierversuche. Und natürlich darf auch das Thema „Wie sicher sind Impfungen“ mit einem Exkurs zu Wirkungen und Nebenwirkungen nicht fehlen.
Die Sprache, derer sich die Verfasserin bedient, ist so frech-flapsig, wie man es von ihr gewohnt ist, so liest sich das Buch vermeintlich sehr leicht, an manchen Stellen fand ich diese Lockerheit tückisch, die musste ich nämlich mehrfach lesen, um den Inhalt komplett zu verstehen und zu verinnerlichen. Denn Fakt ist, dass das Buch zwar für den interessierten Laien geschrieben ist, aber das Buch ist nichts zum „nebenher lesen“. Wie auch im Leben empfiehlt es sich bei dem Buch mit dem Verstand bei der Sache zu sein, es kritisch zu lesen, zu hinterfragen und sich gewiss zu sein, dass es keine einfachen Antworten gibt. Wissenschaftlicher Diskurs ist eine immerwährende Diskussion und er wird immer nur zur kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit führen. Mai-Thi Nguyen Kim gibt ihren Lesern praktisch eine Lupe an die Hand, um für sich selbst herauszufinden, wo die Grenze zwischen einer gesunden Skepsis und Verschwörungsmythen verläuft. Denn tatsächlich gibt es in der Naturwissenschaft nie ein völlig richtiges Modell, sondern immer nur das beste Modell, das zum aktuellen Zeitpunkt verfügbar ist. Alles in allem ein wirklich gutes Buch und ein Plädoyer für die wissenschaftliche Aufklärung. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 27.05.2021
Die Kinder hören Pink Floyd
Gorkow, Alexander

Die Kinder hören Pink Floyd


weniger gut

Der Roman „Die Kinder hören Pink Floyd“ von Alexander Gorkow ist ein eher kurzes und autobiografisch aufgebautes Buch aus der Kindheit des Autors. Ich mag Pink Floyd nicht zuletzt, weil ein Bekannter von mir eine Pink-Floyd-Hommage inszeniert hat, daher bin ich auf das an das Album „Dark Side of the Moon“ erinnernde Cover direkt angesprungen. Und mit „Wish you were here“ in der Endlosschleife habe ich versucht, mich auf das Buch einzustimmen – vergeblich. Am Ende der nicht mal ganz 200 Seiten bleibt für mich von dem Buch nur ein großes Fragezeichen: Was will mir der Künstler damit sagen?
Alexander Gorkow ist Jahrgang 1966, seine Schwester war sechs Jahre älter. Als er etwa zehn Jahre alt war (das Buch handelt von der Zeit kurz vor dem Übertritt aufs Gymnasium), hatte sie einen großen Einfluss auf ihn, musikalisch, aber auch (pseudo) politisch und bezüglich seiner Persönlichkeitsentwicklung. Sie, die das ganze Buch über nur „die Schwester“ genannt wird, gehört der Boomer-Generation an, hat einen Contergan-bedingten Herzfehler, der sie immer wieder zu Klinikaufenthalten zwingt, und sie kennt sich aus. Eingekeilt zwischen Tagesschau, ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck und Heino, probt sie einen pseudointellektuellen Kampf gegen das Establishment. Sie weiß über Dinge Bescheid, von denen der kleine Alexander so gar keine Ahnung hat und die er in seiner kindlichen Naivität manchmal auch falsch versteht.
Die Schwester ist für mich die heimliche Protagonistin des Buchs. Sie weiß, was Sozialismus, Faschismus und Nazis sind, hat den Durchblick in der (spieß)bürgerlichen Gesellschaft der Düsseldorfer Vorstadt und natürlich kennt sie sich mit Zwischenmenschlichem und Musik aus, besonders natürlich mit Pink Floyd. Dagegen besteht Alexanders Leben aus Schule (Casala-Tischen und seinem Freund Hubi mit Trisomie 21, der lieber Demis Russos als Pink Floyd mag), seinem Qualitätsrad, der Therapie gegen sein Stottern, Tagträumen und dem, was seine Schwester ihm nahezubringen versucht: Musik und Kampf gegen das Establishment.
Manche Abschnitte erinnerten mich beim Lesen an aktuelle Verschwörungstheorien, wenn man das Wort „Establishment“ durch „Eliten“ ersetzt, dann bekommt die Aussage, dass die „Mothers of Invention“ Kinder im Einkochtopf weichkochen, um eine „Kinderbrühe“ herzustellen, einen ganz seltsamen Unterton. Das Establishment ist für den kleinen Alexander eine Ansammlung von Monstern, denn mit dem abstrakten Begriff an sich kann er nichts anfangen. Andere Passagen sind sehr skurril und erinnern eher an Loriot. „Willst du mit dem Papi sprühen“, eine Frage, bei der der Vater sich selbst in der dritten Person nennt, fühlte ich mich beispielsweise wie bei „Weihnachten bei den Hoppenstedts“.

Vielleicht bin ich mit Jahrgang 1977 zu jung für dieses Buch, aber ich kann nicht sagen, dass es mich in irgendeiner Weise begeistern konnte. Zwar mag ich die Musik von Pink Floyd, aber irgendwie kam die mir in dem Buch trotz allem zu kurz. Ich fand das Buch nicht wirklich witzig, die Sprache gewöhnungsbedürftig und manchmal las es sich für mich eher verbittert und zynisch als spaßig. Alles in allem fehlte mir auch der rote Faden. Nur die stete Wiederkehr des Films „Nacht der reitenden Leichen“ und die Tatsache, dass Alexander immer wieder auf sein Stottern angesprochen wird, sind sich konstant wiederholende Elemente. Abgesehen davon bleibt nur eine eher unzusammenhängende Aneinanderreihung von Episoden aus einer kurzen Zeit im Leben eines Zehnjährigen, ein Buch, das nicht wirklich vorankommt und mich eher ein Stillleben erinnert, als an einen Kurzfilm. Bei mir kam dabei nicht einmal ein nostalgisches Gefühl auf. Für mich ist das Buch ein ebenso zahnloser Tiger wie der Kampf der Schwester gegen das Establishment – nett und zahm, mehr aber auch nicht. Der Epilog, in dem der Autor von seinem Treffen mit Roger Waters erzählt, der Entthronung eines (ehemaligen) Helden, kann für mich das Buch auch nicht retten. Von mir zwei Sterne.

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