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sleepwalker

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Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2021
Enna Andersen und der trauernde Enkel
Johannsen, Anna

Enna Andersen und der trauernde Enkel


ausgezeichnet

Hauptkommissarin Enna Andersen habe ich bereits in „Enna Andersen und die Tote im Mai“ kennenlernen dürfen. Jetzt hat Anna Johannsen nachgelegt. „Enna Andersen und der trauernde Enkel“ heißt der dritte Teil der Serie und auch der hat mich schwer begeistert.
Die Abteilung für Cold Cases erwartet dieses Mal ein drei Jahre alter Fall, der ihnen durch Ben, einen Freund der Kollegin Pia Sims, angetragen wird. Bens Großvater, ein wohlhabender Bauunternehmer, war angeblich eines natürlichen Todes gestorben, aber der junge Mann hat Zweifel an dieser Todesursache. Denn sein Großvater war immer gesund gewesen – und er hatte vermutlich Feinde. Nach einigem Hin und Her beschließt das Team um Enna Andersen zu ermitteln und stößt schnell auf Ungereimtheiten und nach und nach kommen auch den Ermittlern Zweifel am „Herzversagen“, an dem der alte Herr gestorben sein soll. Und mit der Zeit gibt es auch eine Reihe von Menschen, die von seinem Tod profitiert haben könnten, allen voran seine eigenen Kinder.
Und schon sieht sich die Leserschaft mitten in einem rasant geschriebenen Krimi rund um das sympathische Ermittler-Team. Die Geschichte ist gekonnt konzipiert, plausibel konstruiert und hervorragend erzählt – und das alles praktisch ohne einen Tropfen vergossenes Blut oder effektvolle Gewaltszenen. Dass da keine Langeweile aufkommt, ist dem erzählerischen Talent der Autorin geschuldet, der es gelingt, eine durchweg packende Atmosphäre zu schaffen. Sie verflicht die Ermittlungen und das Privatleben der Ermittler geschickt miteinander, legt falsche Fährten in alle möglichen Richtungen und liefert damit einen flüssig und in lockerem Stil geschriebenen Krimi, den man gar nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Ich konnte mich von dem Buch jedenfalls nur schwer losreißen, ich hatte auch lange keine Ahnung, wo die Geschichte hinführen würde. Die Balance zwischen Ermittlungen und Nebenhandlungen finde ich ausgewogen. Die fast schon schüchternen Liebesgeschichten sind leises Beiwerk und ein gelungener Kontrast zu den hässlichen Ereignissen rund um den Fall. Gefreut habe ich mich über das Wiedersehen Ennas Sohn Elias (sie ist nach dem Unfalltod ihres Mannes Simon alleinerziehend) und mit dem Anwalt Aaron Bernard, den ich schon aus dem Vorgänger-Band kannte. Er arbeitet immer noch an dem Wiederaufnahmeverfahren des Mannes, der vor über 20 Jahren wegen des Mordes an Ennas Eltern verurteilt wurde.
Das Ende des Buchs hat mich allerdings ziemlich überrascht, nicht zuletzt, weil es für mich ein bisschen überstürzt kam. Natürlich ist es schlüssig, aber irgendwie fehlte mir da etwas und ich musste die letzten paar Seiten noch einmal zurückblättern und nachlesen, ob ich irgendetwas verpasst habe. Vor allem der Epilog ist fast schon stichwortartig knapp, als hätte die Autorin noch schnell alle möglichen offenen Fragen abhaken wollen.
Aber alles in allem fand ich das Buch wirklich gut. Die Haupt-Charaktere sind wie gewohnt gut beschrieben und aus den vorherigen Teilen stimmig weiterentwickelt. Natürlich kann man das Buch auch problemlos ohne Vorkenntnisse lesen und verstehen, da die Teile in sich abgeschlossen sind. Allerdings empfehle ich natürlich jedem, auch die Vorgängerbände zu lesen, da diese ebenfalls tolle und spannende Krimis sind. Die Atmosphäre in Enna Andersens Team finde ich immer sehr harmonisch und wenn es doch einmal Unstimmigkeiten gibt, dann werden sie sachlich und konstruktiv besprochen. Auch der neue Kollege im Team, den die Autorin in diesem Band einführt, passt gut dazu, obwohl ich ihn manchmal etwas übertrieben zuvorkommend fand.
Auf jeden Fall freue ich mich jetzt schon auf den nächsten Teil und vergebe für diesen fünf Sterne.

Bewertung vom 14.07.2021
In all seinen Farben
Lester, George

In all seinen Farben


sehr gut

Robin Cooper, der offen homosexuelle fast 18jährige Protagonist in George Lesters Jugendroman „In all seinen Farben“, steht kurz vor dem Schulabschluss. Sein größter Traum ist es, an der LAPA, der renommierten britischen Schauspielschule London Academy of Performing Arts (sie existiert übrigens nicht mehr) zu studieren. Als dieser Traum in Form einer Absage platzt, muss sich der junge Mann neu orientieren und findet in der Londoner Drag-Szene eine neue Möglichkeit. Und damit ist die bunte Geschichte über Homosexualität, Erwachsenwerden, Selbstfindung und Träume auch leider im Klappentext schon fast komplett fertig erzählt. Noch dazu zeigt der englische Titel „Boy Queen“ sehr deutlich, wo die Reise für Robin hingehen wird. Noch ein Hauch Liebesgeschichte und eine Gewalterfahrung (die aber länger zurückliegt und von der nur rückblickend erzählt wird) – fertig ist der bunte LGBTQ+-Roman und ein lesenswertes und unterhaltsames Buch mit ein paar (aus meiner Erwachsenen-Sicht) Schwachpunkten.
Das Buch wird aus Robins Sicht in der „Ich“-Perspektive erzählt und die Leserschaft erlebt alles auch nur aus seiner zum Teil sehr subjektiv-eingeschränkten Sicht auf die Dinge. So kommt er einerseits als sehr zielstrebiger und fordernder junger Mann rüber, andererseits wirkt er aber auch oft verletzlich und unsicher. Die Absage der Schauspielschule wirft ihn zuerst völlig aus der Bahn, außerdem hat er Liebeskummer, da sein Freund Connor ungeoutet ist und in der Öffentlichkeit nicht zu ihm steht. Allerdings hat er auch sehr großes Glück im Leben und scheint sich dessen nicht immer wirklich bewusst zu sein. Das ist mein großer Kritikpunkt an der Geschichte, wobei es natürlich perfekt zum „Coming-of-Age“-Genre passt: Robin legt viel pubertäres Verhalten an den Tag, in seinem Egoismus und seiner Egozentrik stößt er seine Freunde vor den Kopf, denn als er Drag für sich entdeckt, interessiert er sich für nichts anderes mehr.
Das belastet auch das sonst sehr gute Verhältnis zu seiner Mutter enorm. Seine Mutter steht voll hinter ihm, unterstützt ihn in allem und arbeitet hart, um den Lebensunterhalt finanzieren zu können („»Was glaubst du wohl, warum ich nicht hier bin, Robin?«, schreit sie. »Ich bin nicht hier, weil ich mir den Ar* aufreiße, um dir ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich mache das komplett allein. Ich bezahle deinen Tanzunterricht, ich bezahle deine Gesangsstunden, ich sorge dafür, dass dir alle Möglichkeiten offenstehen, und du merkst das nicht mal!«“) Oft scheint er es nicht wirklich zu schätzen, schwänzt Tanzunterricht und Schule und setzt alles bislang Erreichte aufs Spiel. Trotz aller Zielstrebigkeit ist er halt ein echter Teenager und manchmal wollte ich ihn einfach nur schütteln und anbrüllen, er möge ein bisschen mehr Respekt und Dankbarkeit zeigen. Aber dann habe ich mir die Zielgruppe ins Gedächtnis gerufen, dann passte es wieder. Auch der Schreibstil ist der Zielgruppe angemessen, locker aus der Hüfte, leicht zu lesen, wenn auch mit einem ernsten Unterton in den Zwischenzeilen. Die Haupt-Charaktere sind gut ausgearbeitet, die Nebencharaktere (darunter auch Robins Freund Connor) bleiben allerdings eher schemenhaft und blass, da wäre noch etwas Luft nach oben gewesen.
Und bei den vielen Klischees, die der Autor bedient (angefangen vom Dramadramadrama des Protagonisten bis hin zum ungeouteten Freund, der sich in homophoben Kreisen bewegt) muss man sich als Leser:in über eines klar sein: nicht jeder hat es so gut wie Robin. Sein Outing verlief wohl sehr entspannt, seine Mutter steht voll hinter ihm, egal, was er macht – das erleben auch im Jahr 2021 nicht alle. Schade, ist aber so. Da zeichnet das Buch für mich ein etwas zu konstruiert-rosarotes Bild.
Aber sonst fand ich es wirklich gut, es gab mir Einblicke in die Drag-Welt (der Autor tritt selbst als Drag Queen auf, kennt die Szene also genau), die ich so nicht kannte und es war auch sonst sehr flott zu lesen. Von mir daher vier Sterne.

Bewertung vom 09.07.2021
Wut
Martenstein, Harald

Wut


sehr gut

„Ich bin in der Wohnung meiner Mutter, morgen kommen Möbelpacker. Sie ist jetzt im Heim und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht.“ Mit diesen Worten beginnt Harald Martensteins Roman „Wut“, ein Buch über eine gewaltvolle Mutter-Kind-Beziehung. Der Autor sagt selbst: „Und dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet.” Diese Aussage lässt vermuten, dass autobiographische Elemente verarbeitet sind.⠀
Martensteins Ich-Erzähler Frank leidet von frühster Kindheit an unter den unvorhersehbaren Wutausbrüchen der Mutter (die er nur „Maria“ nennt), die nicht selten in wahren Prügel-Orgien gipfelten. („Ich habe gemerkt, wie sie immer hin- und hergerissen war zwischen Liebe und Hass. Sie war kein Mensch, der Gefühle unterdrücken kann, das konnte sie überhaupt nicht, und so wechselte das eben manchmal innerhalb weniger Minuten, Küsse, Schläge, dann wieder Küsse.“) Das Leben der Mutter war nicht einfach. Das weiß auch Frank, der für ihr Verhalten Erklärungen findet, es aber nicht entschuldigen kann. („Es gibt Dinge, die ich ihr nicht verzeihen kann, obwohl ich sie verstehe.“) Sie kannte als Kind selbst kaum Liebe, vor allem nicht von der eigenen Mutter, die sie mit 18 Jahren zur Welt brachte. Nach dem Krieg fand sie Unterschlupf in einem Bordell und landete dann auf einer Klosterschule. Durch ihre Intelligenz standen ihr trotz ihrer rebellischen Art alle Wege offen – letztendlich verließ sie die Schule kurz vor dem Abitur ohne Abschluss. Sie heiratete und bekam nach zahllosen Abtreibungen, die ihr Schwiegervater, ein Tierarzt, illegalerweise durchführt, ein Kind.
„Als sie sehr jung Mutter wurde, war ich wohl so etwas Ähnliches wie jetzt die Krankheit, etwas, das sie daran hinderte, frei zu sein.“ - Die Mutter hatte zwar noch Ziele und Träume, verwirklichte aber nichts. Im Endeffekt macht ihren Sohn für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich. Und er sie für seines, denn auch er ist ein getriebener und weitgehend bindungsunfähiger Mensch. Frank bricht den Kontakt zur Mutter ab und lange Zeit verbindet ihn mit der Frau, die ihn geboren hat, nur eines: eine tiefe innere Wut, die auch ihn nicht loslässt. „Maria sagte immer, dass ich alles ihr verdanke, dass ich nur ihre Kreatur bin, mein Talent, mein Geld, der Erfolg, alles ihr Erbe, ihre harte Schule, und in gewisser Weise hat sie damit recht. Ich verdanke ihr alles, was ich bin, im Guten und Schlechten.“
Soweit konnte ich dem Buch folgen. Ich fand die Erzählung bedrückend, aber realistisch und nachvollziehbar. Doch dann scheint Frank Zweifel an seinen bruchstückhaften Erinnerungen zu bekommen und die Geschichte rutschte für mich ins Philosophisch-Hypothetische ab. „Niemals weiß ich, ob mir meine Erinnerung nicht einen Streich spielt. War es denn wirklich so?“ Zwar habe er nichts aus seiner Vergangenheit verdrängt, er erinnere sich schlicht nicht an Dinge, die nicht wichtig sind, um im Leben zurecht zu kommen. Nicht nur schlimme Erinnerungen sind weg, sein „Gehirn speichert auch angenehme Erinnerungen nicht.“ Und nach und nach wurde das Buch für zunehmend wirr und undurchsichtig.
Sprachlich fand ich das Buch ansprechend und wegen der vielen oft völlig unvorhersehbaren Handlungen, teilweise sogar spannend. Es ist ein bemerkenswertes, schwer zu verdauendes Werk. Enttäuschend fand ich aber den Schluss. Nach viel psychologischem Tiefgang, einem Mäandern zwischen Mitleid, Verständnis, Wut und Hoffnung, fand ich ihn verworren und verwirrend. Was bleibt, ist die Frage, wie wir zu dem werden, was wir sind, mit dem Fazit: „„Und irgendwann muss man sowieso damit aufhören, den Eltern die Schuld an dem fehlerhaften Menschen zu geben, der man ist.“ Für ein tiefgründiges Buch aus dem ich viel mitnehmen konnte von mir vier Ster

Bewertung vom 07.07.2021
Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1
Beckett, Simon

Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1


ausgezeichnet

Zwei Jahre hat Simon Beckett seine Leserschaft nach „Die ewig Toten“ warten lassen. Jetzt hat er endlich nachgelegt. „Die Verlorenen“ heißt sein neuestes Werk und er stellt auch mit Jonah Colley einen neuen Protagonisten vor.
Jonah Colley ist Scharfschütze und arbeitet bei der Londoner Polizei. Als ihn sein ehemaliger bester Freund telefonisch um Hilfe bittet, zögert er kurz, dann siegt aber seine Loyalität und er fährt zum Slaughter Kay, einer eher heruntergekommenen Gegend Londons. Als er vier in Plastikfolie eingewickelte und mit Brandkalk bedeckte Leichen findet, beginnt für ihn ein Alptraum – und für den Leser eine wilde und spannende Achterbahnfahrt durch Ermittlungen und private Probleme. Und das Buch kommt wirklich einer Achterbahn gleich: so viele Verdächtigungen, so viele Wendungen und so viel Hin und Her und Auf und Ab. Ein atemberaubend schneller Thriller eben.
Bei Beckett passt halt einfach alles: Setting, Wortwahl und auch die Geschichte ist überwiegend stimmig. Sprachlich ist das Buch eher schlicht, dafür sehr flüssig zu lesen. Schon der Anfang fesselte mich enorm. Die bedrückende nächtliche Stimmung, der Name „Slaughter Quay“, als Schlachterkai und dann noch die Menschen in Plastikfolien-Kokons, von denen einer noch am Leben ist – ich konnte das Buch schlicht nicht mehr aus der Hand legen. Der Spannungsbogen ist konstant hoch, nur wenige Nebenhandlungen erlauben dem Lese-Publikum kurze (aber dringend benötigte) Atempausen. Denn Simon Beckett spart in üblicher Manier nicht mit grausamen Beschreibungen und spickt alles mit ein bisschen Privatleben und einem in der Vergangenheit liegenden Schicksalsschlag, der seinen Protagonisten nachhaltig geprägt hat.
Mit Jonah Colley hat der Autor einen interessanten und sehr vielschichtigen, impulsiven und nicht immer sympathischen Charakter eingeführt, der die Geschichte absolut beherrscht. Neben ihm gibt es zwar eine Menge anderer Figuren, aber niemand ist so dominant wie er. Er ist in der Hauptsache ein getriebener Mensch. Jonahs Aktionen sind nicht immer logisch, meistens eher impulsiv und unüberlegt, oft aber menschlich nachvollziehbar. Getrieben wird er von der Frage, was mit seinem vor zehn Jahren verschwundenen Sohn Theo passiert ist, dessen Verlust nicht nur seine Ehe vollends zerstört, sondern auch sein Leben nachhaltig verändert hat. Seine Schuldgefühle lähmen ihn immer noch, sein Leben dreht sich fast nur um seinen Beruf und die immer wiederkehrende Frage nach dem Schicksal des Vierjährigen. So verläuft ein Teil der Geschichte in zwei Zeit-Ebenen, dem Hier und Jetzt und der Zeit vor zehn Jahren.
Gut, der Schluss ist eventuell ein bisschen sehr konstruiert und auch zwischendrin ist nicht alles ganz logisch und es sind ein oder zwei Fehler in der Übersetzung, aber alles in allem fand ich das Buch einen echten Pageturner und mit seinen rund 300 Seiten fast ein bisschen kurz. Von mir daher für einen durchgehend spannenden, fesselnden und schlicht hervorragenden Thriller klare fünf Sterne. Wer David Hunter mag, wird Jonah Colley vermutlich ebenfalls mögen.

Bewertung vom 05.07.2021
Das Gewicht von Schnee
Guay-Poliquin, Christian

Das Gewicht von Schnee


ausgezeichnet

„Das Gewicht von Schnee“ von Christian Guay-Poliquin ist für mich ein ganz besonderes Buch. Die düster-dystopische Stimmung und das Setting des Romans im tiefsten Winter in der kanadischen Einöde mit enormen Schneemassen, waren ein enormer Kontrast zum strahlenden Sommerwetter, in dem ich ihn gelesen habe.
Aber von vorn: Ein junger Mann kommt bei einem Autounfall fast ums Leben. Da dieser Unfall in der Nähe seines Heimatdorfes passiert, kennt man ihn und versucht, ihm zu helfen. Allerdings werden alle durch den strengen Winter mit viel Schneefall und einen schon lange vor dem Winter eingetretenen Stromausfall auf eine harte Probe gestellt. Lebensmittel, Medikamente, Benzin – alles ist knapp und droht auszugehen. Nach der Versorgung durch die Tierärztin, beschließen die Dorfbewohner, die Pflege des Verletzten könnte ein anderer „Gestrandeter“ übernehmen, ein Fremder namens Matthias. Die beiden bekommen Lebensmittel aus dem Dorf, ab und zu kommen Menschen vorbei, aber im Großen und Ganzen sind sie sich selbst überlassen. Probleme, die das Eingesperrtsein auf kleinstem Raum mit sich bringt, sind vorprogrammiert. „Lagerkoller“ macht sich breit. Und das nicht nur in der Enge der kleinen Hütte, auch im Dorf schlägt die Stimmung nach und nach um.
Die Geschichte ist eher ruhig aber sehr tiefgründig, erzählt vom namenlosen Verletzten aus der Ich-Perspektive. Das Buch war für mich voller auf den Punkt genau passend gewählter Bilder, die weit über die Parallelen zur (öfter zitierten) griechischen Mythologie hinausgingen. Eigentlich ist eine Schneeflocke ja etwas, das fast nichts wiegt, flauschig ist, schön und romantisch. Aber die Masse an Schnee, über die der Autor schreibt, ist im wahrsten Sinne des Wortes erdrückend. Analog zum zunehmenden Druck der Schneemassen auf die Dächer, steigt der Druck auf den Gemütern der Leute. Die Stimmung unter den Menschen ist psychologisch hochinteressant und sicher sehr realistisch. Sie schlägt nach und nach von Gemeinschaftssinn und Nächstenliebe in Egoismus, Neid und sogar Hass um. Mehr und mehr wird sich jeder selbst der Nächste. Passend zum lateinischen Satz „Homo homini lupus est“ berichtet der Erzähler: „Es gibt nur noch wenige kleine Gruppen, die auf der Suche nach Benzin und Nahrung umherziehen. Rudel magerer, misstrauischer Kojoten.“.
Die Sprache ist ebenso reduziert wie alles andere im Buch, sie scheint so monochrom wie die dunkle Landschaft, die unter dem weißen Schnee eingesperrt ist. Es gibt keine Anführungszeichen bei direkter Rede, in den Sätzen ist kein Wort zu viel. Insgesamt steht in diesem Buch mindestens so viel zwischen den Zeilen wie darin. Auch kommen im Buch nur wenige Charaktere vor, diese sind aber hervorragend und bildhaft gezeichnet. Allerdings sind die Personen außer dem Erzähler und Matthias mehr Mittel zum Zweck, sie tragen nur als Lebensmittel-Lieferanten, und Verbindung zum Rest der Welt zur Geschichte bei. So können die beiden den Zerfall der Gesellschaft am Rande miterleben, während ihre Zwangsgemeinschaft enger zusammenwächst.
Gegliedert ist der Roman nicht in fortlaufend nummerierte Kapitel. Die Überschrift ist eine Zentimeter-Zahl, die aktuelle Höhe des Schnees, beginnend bei 38 und nach und nach ansteigend bis weit über 200, womit schon die Überschrift eine gewissen Spannung und Unbehagen erzeugt. Die Mischung aus Resignation („Egal wie sinnvoll eine einzelne Geste zu sein scheint, die Summe unserer Handlungen, das große Ganze, ist vollkommen sinnlos.“) und einer gewissen Aufbruchsstimmung, weil es anderswo besser sein könnte, prägt das Buch voller brisanter Gegensätze und mit vielen Emotionen.
Erinnerungen an Stromausfälle hat sicher jeder, die Isolation, die viele durch Corona erlebt haben, ist auch stets präsent. Bislang kam der Strom hier immer wieder, aber was, wenn nicht? Für mich ein wirkliches literarisches Highlight und ein echter Lese-Genuss, der ein unbehagliches Gefühl unterschwelliger Angst hinterlässt. Fünf Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.06.2021
Tiefer Fjord
Lillegraven, Ruth

Tiefer Fjord


ausgezeichnet

„Tiefer Fjord“ heißt Ruth Lillegravens bereits 2018 erschienener Thriller, der im Original „Alt er mitt“, also „Alles gehört mir“ heißt. Mit diesem Buch hat die Autorin, die bis dato eher mit Gedichtbänden von sich reden gemacht hat, einen Krimi der Spitzenklasse vorgelegt. Der Untertitel der dänischen Fassung lautet „kennst du eigentlich deine Liebsten” und der fasst das Buch für mich sehr gekonnt zusammen. Denn tatsächlich haben die meisten Charaktere große dunkle Geheimnisse, von denen niemand etwas ahnt.
Clara und Haavard sind ein gut situiertes Ehepaar, das mit seinen beiden Söhnen in einer Villa in einem der besseren Osloer Viertel lebt. Während Haavard als Kinderarzt in einem Krankenhaus arbeitet, ist Clara im Justizministerium tätig. Obwohl sie eigentlich Verwaltungsangestellte ist, hat sie politische Ambitionen. Eine ihrer Herzensangelegenheiten ist ein neues Gesetz gegen Kindesmisshandlung, an dessen Entwurf sie arbeitet. Wie wichtig das Gesetz ist, wird auch Haavard klar, als ein Mann mit Migrationshintergrund seinen vierjährigen Sohn ins Krankenhaus bringt. Der kleine Faisal sei vom Baum gefallen, so die Aussage des Vaters, doch die Verletzungen sprechen eine andere Sprache und deuten auf Misshandlung hin. Der Junge überlebt die Verletzungen nicht, der Vater wird kurz darauf erschossen auf dem Klinikgelände gefunden. Haavard recherchiert in Krankenakten nach weiteren jungen Misshandlungsopfern, die immer wieder wegen Verletzungen behandelt werden und wird fündig. Er legt eine Liste der „Stammgäste“ und der mutmaßlichen Täter an und wenig später wird eine weitere Leiche gefunden, die ebenfalls als Mutter eines misshandelten Kindes auf Haavards Liste stand. Irgendjemand scheint die Kinder rächen zu wollen und Selbstjustiz auszuüben. Und mit Haavard, seiner Frau Clara und seiner Kollegin Sabiya findet sich der Leser unverhofft und plötzlich in einem rasanten Strudel der Ereignisse wieder.
Der Thriller greift viele gesellschaftliche Themen aufgreift: Kindesmisshandlung, Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund, Rassismus, eheliche (Un)Treue und Gefühlskälte sind nur einige der Pfeiler, auf der die Autorin ihre Geschichte aufbaut. Die Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet und bildhaft beschrieben. Ich schwankte als Leser bei fast allen immer wieder zwischen Sympathie und Antipathie, denn tatsächlich haben fast alle Personen hinter einer netten und harmlosen Fassade dunkle und sehr hässliche Geheimnisse.
Die Geschichte an sich ist gut konstruiert und flott geschrieben. Schön finde ich, dass die Autorin auf Umgangssprache und Schimpfworte verzichtet, noch dazu hat der Übersetzer wirklich gute Arbeit geleistet. Die Aufteilung in fünf Teile, die ihrerseits in Unterkapitel gegliedert sind, finde ich sehr gut, zumal jedes Unterkapitel mit dem Namen der Person überschrieben ist, aus deren Perspektive die Passage erzählt wird. Und nicht nur, dass die Geschichte aus der Sicht verschiedener Personen erzählt wird, sie spielt auch in zwei Zeitebenen, 1988 und 2015 – ein wirklicher Kunstgriff der Autorin, der der Leserschaft durch die Wechsel der Handlungsstränge einerseits nötige Hintergrundinformationen liefert, andererseits eben dadurch auch enorme Spannung (und etwas Verwirrung) aufbaut. Ich konnte das Buch jedenfalls kaum aus der Hand legen, so gespannt war ich darauf, zu erfahren, wie es weitergeht.
Die Geschichte hat einen verhältnismäßig konstanten Spannungsbogen, vor allem ab etwa der Hälfte nimmt die Handlung mächtig Fahrt auf. Obwohl nach einigen falschen Fährten sehr schnell klar ist, wer hinter den Morden steckt, hat mich der Schluss völlig überrascht und mit dem Cliffhanger legt die Autorin die Latte für den nächsten Band sehr hoch. Für mich eine klare Lese-Empfehlung für alle, die gerne richtig gut geschriebene Thriller mit gesellschaftskritischem Bezug lesen. Fünf Sterne.

Bewertung vom 25.06.2021
Die vierte Schwester / Jackson Brodie Bd.1 (eBook, ePUB)
Atkinson, Kate

Die vierte Schwester / Jackson Brodie Bd.1 (eBook, ePUB)


gut

„Die vierte Schwester“ von Kate Atkinson ist ein Buch, das mir in mehrerlei Hinsicht zu schaffen gemacht hat. Einerseits ist es ein ziemlich geradliniger Roman (allerdings gibt es mehrere Handlungsstränge, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben), andererseits ein Psychogramm gestörter und zerstörter Familien. Durch diese Vielschichtigkeit fand ich das Buch stellenweise sehr gut und locker, manchmal sogar amüsant zu lesen, andere Passagen fand ich wiederum sehr schwierig und zäh. Und für mich war das Buch nur teilweise ein Krimi, ich finde den Klappentext und das zugewiesene Genre etwas irreführend.
Aber worum geht es?
Familie Land hat vier Töchter und die Mutter ist erneut schwanger. Mutterliebe empfindet diese nur gegenüber der jüngsten Tochter Olivia, dem „Nachzügler“. In einer heißen Sommernacht verschwindet sie aus dem Garten spurlos. Die Familie zerbricht an diesem Verlust und nach dem Tod des Vaters finden die älteren Schwestern das Lieblingskuscheltier der Jüngsten beim Ausräumen von dessen Schreibtisch. Um 30 Jahre später Olivias Verschwinden aufzuklären, engagieren die Schwestern den Privatdetektiv Jackson Brodie.
Der arbeitet parallel aber noch an anderen Fällen: der ehemalige Anwalt Theo sucht nach zehn Jahren immer noch den Mörder seiner Tochter und Shirley sucht ihre verschwundene Nichte. Brodie selbst kämpft zudem noch mit seiner ex-Frau, die mit der gemeinsamen Tochter nach Neuseeland ziehen will, weil ihr neuer Lebensgefährte dort ein Jobangebot angenommen hat. Diese verschiedenen Handlungsstränge verknüpft die Autorin mehr oder weniger gekonnt durch eine einzige Tatsache: sie laufen bei ein und demselben Ermittler zusammen. Mir kam es manchmal eher so vor, als müsse sie verzweifelt einen gemeinsamen Nenner für die nicht zusammenpassenden Fälle konstruieren, was nicht passte, wurde passend gemacht.
Und diese Tatsache machte es mir schwer, das Buch als einen einheitlichen Roman und nicht als eine Zusammenstellung von Kurzgeschichten zu sehen. In den Kapiteln wechseln sich die Fälle ab, mal in der Vergangenheit, mal in der Gegenwart, was ich eher kompliziert fand, als einen cleveren schriftstellerischen Kunstgriff. Vor allem hat das Buch für mich weder eine einheitliche Linie oder einen roten Faden oder gar einen Spannungsbogen. Falls innerhalb eines Kapitels mal so etwas wie Spannung aufgebaut wird, dann endet diese abrupt am Ende des Kapitels – nicht mit einem Cliffhanger sondern sie verpufft irgendwie und wird nicht wieder aufgegriffen.
Sprachlich fand ich das Buch gut und leicht zu lesen, wenn auch die ausschweifende Art der Autorin mir manchmal auf die Nerven ging und ich mich fragte, ob und wie sie bei so vielen beschriebenen Nebensächlichkeiten jemals wieder zum Thema zurückfinden würde. Die Atmosphäre des Buchs ist hingegen sehr bedrückend und nicht leicht zu verdauen. Kaputte Familien, ungeliebte Kinder, denen geliebte Kinder im krassen Kontrast gegenüberstehen - keine der Familien brauchte ein Unglück, um zu zerbrechen, die waren alle vorher schon völlig kaputt. Das fand ich thematisch wirklich schwere Kost, aber nicht zwingend krimitauglich. Die vielen hervorragend beschriebenen Charaktere sind so vielschichtig, vielseitig, skurril und undurchsichtig.
Ich fand das Buch nicht schlecht aber auch nicht wirklich gut. Ich brauchte einige Zeit, mich mit dem Stil der Autorin anzufreunden und bei den Zeitsprüngen und den Handlungssträngen den Durchblick zu finden. Und auch den Titel fand ich nicht gut gewählt, denn die Geschichte rund um die „vierte Schwester“ macht ja nur einen Bruchteil der Handlung aus. Daher vergebe ich drei Sterne.

Bewertung vom 23.06.2021
Lady Churchill / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.2
Benedict, Marie

Lady Churchill / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.2


sehr gut

„ Aber mein Leben wird sich nicht allein darum drehen, die unsichtbare Stütze meines Mannes zu sein.“ - das nahm sich Clementine Hozier vor ihrer Hochzeit vor. Und wie ihr Leben an der Seite von Winston Churchill verlief, beschreibt Marie Benedict in ihrem Roman „Lady Churchill“. Über die historische Korrektheit der Geschichte kann ich nichts aussagen, Fakt ist aber, dass das Buch keine Biografie ist, sondern ein Roman. Das Bild, das die Autorin über die Ehefrau eines der größten Politiker des 20. Jahrhunderts zeichnet, ist sehr deutlich: Clementine Churchill war sehr ehrgeizig, die Karriere ihres Mannes ging ihr über alles. Dahinter hatte alles andere zurückzustehen, vor allem ihre Kinder.
Das Buch beginnt mit dem Tag ihrer Hochzeit 1908 und endet mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Paar bekommt fünf gemeinsame Kinder, eines stirbt im Kindesalter und Clementine erleidet mindestens eine Fehlgeburt. Die beiden meistern finanzielle Schwierigkeiten, die ihr Lebensstil mit sich bringt. Auch dabei zeigt sich, dass Clementine eine findige, kluge und äußerst lebenstüchtige Frau ist, eine „Macherin“. Sie scheint nicht die starke Frau gewesen zu sein, die hinter dem mächtigen Mann stand, sondern eine, die ihn auch gerne und oft in die (ihrer Meinung nach) richtige Richtung geschubst zu haben.
Sie war emanzipiert und selbstbewusst, wusste sich gegenüber ihrem Mann und in der Gesellschaft zu behaupten und sie war eine „große Anhängerin der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen“. Ihr Verhältnis zu den Kindern war, wie Marie Benedict es beschreibt, aber eher zeitgemäß britisch-kühl (die Kinder wurden von Kindermädchen erzogen, der Sohn kam dann ins Internat). Aber sie war sich ihrer mangelnden mütterlichen Gefühle und mütterlichen Fähigkeiten durchaus bewusst. „Ich lächele meine Tochter an. Wir werden sie Sarah nennen. Ich werde sie lieben und für sie sorgen, aber sie wird mich nicht aufhalten.“ – mehr muss man über ihr Verhältnis zu den Kindern gar nicht wissen, für sie waren Kinder eher etwas, mit dem man sich „herumschlagen musste“.
Winston Churchill spielt in dem Buch eine untergeordnete Rolle, manchmal scheint es mir, als hätte er diese auch in seiner Ehe gespielt. Aber er toleriert die Ambitionen seiner Frau nicht nur, er ermutigt sie und sie war eine seiner größten und geschätztesten Beraterinnen. Das Buch an sich fand ich nett zu lesen, allerdings fand ich manchmal die Zeitsprünge etwas groß und die Sätze ein bisschen verschachtelt. Die Hauptperson fand ich zwar interessant, aber durch ihr unterkühltes Verhältnis zu den Kindern und ihren enormen Ehrgeiz eher schwierig und nicht wirklich sympathisch. Auch, dass sie sich vor ihrer viermonatigen Reise nach Südostasien (zur Beruhigung ihrer Nerven) nur Gedanken darüber macht, „welche Auswirkungen meine Abwesenheit auf Winston haben wird, wie sehr er in sich zusammenfallen wird ohne meinen Einfluss und die von mir geschaffene Struktur“ fand ich befremdlich. Sie war für ihren Mann wohl mehr die Mutter, die er nie hatte, denn auch er wuchs ohne viel Mutterliebe auf. Dafür kontrollierte ihn seine dominante Mutter als Erwachsener noch, manchmal kam es mir beim Lesen so vor, als habe sich Churchill aus der Beziehung zu seiner dominanten und manipulativen Mutter in die Ehe mit einer dominanten und ebenso manipulativen Frau begeben. Clementine Churchill wollte immer nur das Beste für ihren Mann und hielt sich für unverzichtbar. Außerdem wollte sie, dass die Nachwelt ihren Beitrag für den Frieden ebenso anerkennt, wie den ihres Mannes: „Wenn unsere Nachfahren Winston und diesen schrecklichen Krieg beurteilen, dann werden sie sehen, dass es Winstons Hand war, die Geschichte schrieb. Aber werden sie sehen, dass auch meine Hand den Stift führte?“
Für mich war das Buch unterhaltsam und ein lesenswertes Werk über eine starke und progressive Frau. Wegen der manchmal holprigen Sprache und der großen Zeitsprünge, die große Lücken lassen, von mir vier Sterne.

Bewertung vom 18.06.2021
Der Mann im roten Rock
Barnes, Julian

Der Mann im roten Rock


gut

„Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an. Einer war ein Prinz, einer war ein Graf und der Dritte war ein einfacher Bürger mit einem italienischen Familiennamen. Der Graf beschrieb den Zweck der Reise später als »intellektuelle und dekorative Einkaufstour«“. Damit fängt Julian Barnes‘ neuestes Werk „Der Mann im roten Rock“ an. Kein Roman, keine Biografie, sondern ein Essay über die Belle Époque, das Fin de Siècle im Allgemeinen und den Arzt Dr. Samuel Jean Pozzi, der John Singer Sargent für dessen Gemälde „Dr. Pozzi at Home“ (so heißt das Bild vom Mann im roten Rock tatsächlich) 1881 Modell gestanden hat, im Besonderen. Für mich ein Buch, das ich zwischen einzigartig und eigenartig ansiedle.
Zugegebenermaßen kannte ich vor der Lektüre weder Julian Barnes noch Dr. Pozzi und die Belle Époque konnte ich nur grob einordnen. Aber jetzt, da ich das Buch zu Ende gelesen habe, weiß ich wesentlich mehr. Viel zu wenig über den Arzt, aber sehr viel über die Zeit, in der er lebte. Über ihn habe ich erfahren, dass er ein visionärer Gynäkologe war und ein Arzt für die Reichen und Schönen. Dass er ein Dandy, Lebemann und Kunstsammler war, widerlich gut aussah und dass er von 1848 bis 1918 lebte. Außerdem lernte ich etwas über seinen mehr oder weniger illustren Dunst- und Freundeskreis, in dem sich neben Grafen und Prinzen auch bekannte Persönlichkeiten wie Sarah Bernhardt Oscar Wilde bewegten. Über die Zeit der Belle Époque erzählt Julian Barnes locker und im Plauderton von großer Geschichte und kleinen, intimen Geschichten. Er schreibt über Duelle, zeitgenössische Literatur und Kunst und zeichnet damit ein deutliches Bild der Zeit und des dekadenten Lebens der damaligen High Society.
Sprachlich fand ich das Buch sehr gut formuliert, wenn auch manche Sätze sehr lang und verschachtelt sind. Aber der Inhalt ist durch die Fülle an Personen und die unglaubliche Masse an wichtigen und unwichtigen Informationen sehr überladen und hat mich manchmal fast erschlagen. Ich kam mir vor wie in einem Spinnennetz. Ausgehend von der Mitte (dem Gemälde vom Mann im roten Rock) flicht der Autor viele Fäden in alle möglichen Richtungen. Ich klebte wie eine Fliege in der Mitte, unfähig, das Buch wegzulegen, aber auch nicht wirklich begeistert davon.
Wer sich für ein Sittenbild der Belle Époque interessiert, der ist mit dem Buch hervorragend bedient. Wer sich aber eine Biografie des Arztes erhofft, wird wohl ebenso überrascht und eventuell enttäuscht sein, wie ich und sich durch die Menge an Information leicht überfahren fühlen. Die kleine Prise Politik, die der Autor einfließen lässt, fand ich allerdings sehr erleuchtend: er beleuchtet die Unterschiede zwischen England und Frankreich bezüglich der Frauenrechte, Korruption, Auffassung von Recht und Gesetz, lässt seine Protagonisten philosophisch angehaucht einen Blick auf Europa werfen, was aus heutiger Sicht, nach vollzogenem Brexit sogar fast poetisch anmutet.
Aber leider gibt es zu Dr. Pozzi, der eigentlich die Hauptperson des Buchs sein sollte, gar nicht so viele Fakten, denn er hat selbst nicht wirklich viel hinterlassen. Das meiste, was man über ihn erfährt, stammt aus den Tagebüchern seiner Tochter oder Briefen und so verkommt er eher zum Nebendarsteller in einem Buch über sich selbst. Hauptdarsteller ist die Zeit, in der er lebt und Julian Barnes zeichnet ein gelungenes Sittenbild, was aber nicht das ist, was ich erwartet habe und was Klappentext und Buchbeschreibung versprochen haben. Mir lag das Buch daher nicht wirklich und ich vergebe drei Sterne.

Bewertung vom 18.06.2021
Als wir uns die Welt versprachen
Casagrande, Romina

Als wir uns die Welt versprachen


gut

Da ich aus Schwaben stamme, ist das Schicksal der „Schwabenkinder“ für mich seit frühester Kindheit ein stets wiederkehrendes Thema, sei es in Film- oder Buchform oder durch Besuche in Freilichtmuseen, die das Thema aufgreifen. Daher habe ich mich auf das Buch „Als wir uns die Welt versprachen“ von Romina Casagrande gefreut. Allerdings konnte mich der Roman nicht wirklich begeistern. Die Passagen, in denen sich Edna an ihre Zeit in Schwaben erinnert, fand ich sehr gut und authentisch, die haben mich tief berührt. Der Rest der Geschichte war für mich bloßes, manchmal sogar störendes, Beiwerk, unrealistisch und klischeehaft, aber nett geschrieben.
Edna ist inzwischen fast 90 Jahre alt und teilt sich ihr Leben mit dem Papageien Emil. Obwohl sie in Tirol lebt, liest sie den deutschen „Stern“ und findet (welch ein Zufall) einen Artikel über einen Freund aus ihrer Zeit als Schwabenkind in Deutschland. Kurzerhand packt sie Emil in eine Kiste und die nötigsten Dinge für sich selbst ein und macht sich zu Fuß auf den Weg nach Ravensburg. Anhand einer uralten Karte möchte sie denselben Weg noch einmal gehen, den sie vor über 75 Jahren schon einmal gegangen ist – quer über die Alpen. Ihr Ziel ist es, ihren Freund Jacob in Ravensburg zu besuchen und ein fast 80 Jahre altes Versprechen einzulösen. Es ist für die hochbetagte Dame ein weiter Weg ins Unbekannte, ohne Plan und mit wenig Geld, dafür mit viel (unfreiwilligem) Witz und Optimismus.
Unterwegs trifft Edna ein buntes Potpourri an verschiedensten Menschen (unter anderem einen Motorradrocker, eine Schamanin und einen Homosexuellen), denen sie allen zuerst mit Misstrauen begegnet, sehr schnell aber merkt, dass ihr alle wohlgesonnen sind und jeder ihr helfen will. Und da war ich aus der Geschichte auch schon irgendwie raus, denn obwohl die Erinnerungen an die Schwabenkind-Zeit in Ednas Erinnerungsfetzen wirklich gut beschrieben sind, ist der „Jetzt“-Erzählstrang Geschichte für mich schlicht überzogen. Ausnahmslos alle, die Edna trifft, sind tief in ihrem Inneren gut und hilfreich. Obwohl sie ihren Umhang samt einem Großteil ihres Geldes irgendwo vergisst, geht sie weiter und schreibt das Verlorene einfach ab. Die Naivität und Planlosigkeit in Relation zu ihrem Alter und ihrer nicht wirklich vorhandenen körperlichen Fitness und Belastbarkeit brachten mich an den Stellen eher zum Kopfschütteln, denn zum Schmunzeln und manches habe ich quer gelesen, da sich vieles wiederholt und viele Passagen für mich zunehmend langweilig und langatmig wurden.
Der „Vergangenheits“-Handlungsstrang hingegen hat mich wirklich berührt und gefesselt. Ihr Leben und Leiden auf dem Hof und vor allem die enge Verbindung zu Jacob, der sie „Zimperliese“ nennt und ihr hilft, das harte Leben in der Fremde besser zu ertragen, hat mich wirklich bewegt. Wieso sie allerdings nie nach dem Freund gesucht hat, nachdem sie durch den Zweiten Weltkrieg getrennt wurden, ist mir ein Rätsel. Da musste der Zufall nachhelfen. Und leider erfährt man als Leser auch nicht, was die beiden in den vielen Jahren gemacht haben, das hätte mich wirklich interessiert, auf jeden Fall mehr als das, was die Autorin zwischendurch über Ednas helfende Hand Adele und deren Familie erzählt, denn das trägt nun wirklich gar nichts zur Geschichte bei.
Sprachlich ist das Buch eher einfach gehalten und flott zu lesen. Den Charakteren stehe ich eher ambivalent gegenüber. Edna finde ich beispielsweise zwar interessant und stark, aber ihre Naivität und Planlosigkeit gingen mir zunehmend auf die Nerven. Die Geschichte an sich fand ich viel zu konstruiert und alles zu sehr an den Haaren herbeigezogen, zu viel langatmige Nebenhandlung trifft auf zu wenig konkrete Haupt-Handlung. Insgesamt fand ich, dass das Buch dem Klappentext absolut nicht gerecht wird, daher vergebe ich für die gute Umsetzung des „Vergangenheits-Erzählstrangs“ drei Sterne. Wer zum Thema Schwabenkinder aber wirkliche Informationen sucht, ist mit dem Buch meiner Meinung nach nicht gut bedie