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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 21.03.2021
Krass
Mosebach, Martin

Krass


gut

Sic transit gloria mundi

Im neuen Roman von Martin Mosebach mit dem deskriptiven Titel «Krass» steht ein Machtmensch gleichen Namens auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Krass ist aber auch, adjektivisch wohlgemerkt, der aberwitzige Plot des umstrittenen Büchner-Preisträgers, in dem der Zufall fröhliche Urständ feiert. Wie oft bei diesem Autor ist es eine Geschichte vom Scheitern, hier als Psychogramm eines narzisstischen Machertypen mit einer dominanten physischen Präsenz, ein skrupelloser Waffenhändler. «Er arrangiert die Welt, so wie sie ihm gefällt», hat der Autor seinen Protagonisten charakterisiert.

In Neapel besucht 1988 eine siebenköpfige Reisegruppe eine Zauberschau und trifft später in einem Restaurant auf die als Assistentin beteiligte Lidewine. Ralph Krass, Spritus rector und großzügiger Finanzier der Gruppe, lässt sie von seinem Adlatus Dr. Jüngel an ihren Tisch bitten. Die junge Frau, Inkarnation des «Ewig Weiblichen», wie es im Roman anbiedernd heißt, ist Krass sofort sympathisch. Er weist den assistierenden Kunsthistoriker spontan an, sie als Begleiterin für diese Reise zu engagieren. Alles rein platonisch, Sex ist für die Dauer der Reise – auch für sie – tabu, er braucht sie nur für sein Ego, als dekorative Begleitung. Man besichtigt das berühmte Alexander-Mosaik, in dem sich auch das Motiv des Buchumschlags mit der in ihr Spiegelbild verliebten Bachstelze findet. Anschließend geht es nach Capri, um dort eine zum Verkauf stehende schlossartige Villa anzusehen. Lidewine wird ständig mit teuren Geschenken überhäuft, bis Jüngel zufällig mitbekommt, dass sie einen adonisartigen Hotel-Kellner nachts in ihrer Suite empfängt. Ein eindeutiger Vertragsbruch, sie wird entlassen, die Gruppe zerfällt schlagartig.

Dieser erste Teil des Romans mit dem Titel «Allegro imbarazzante» weist auf das Peinliche des großspurigen Gehabes von Krass hin. Es folgt mit «Andante pensieroso» ein melancholischer zweiter Teil, in dem der arbeitslos gewordene Jüngel vorübergehend Unterschlupf in der französischen Provinz sucht. Dort rekapituliert er die Neapel-Reise und nebenbei auch das Scheitern seiner Ehe. Mit «Marcia funebre» wird im letzten Teil zwanzig Jahre später eine Art finaler Trauermarsch angestimmt. Die Protagonisten treffen in unterschiedlicher Mission in Kairo wieder aufeinander, welch ein Zufall! Krass ist völlig mittellos, er liegt buchstäblich auf der Straße. Jüngel, inzwischen Professor für Urbanistik und nach einer zweiten Ehe wieder geschieden, ist als Forscher in der ägyptischen Metropole. Lidewine wiederum ist dort unterwegs, um eine Galerie zu gründen, in der Superreiche aus den Emiraten ihr überflüssiges Geld in moderne Kunst investieren können.

Martin Mosebach erzählt seine mephistophelische Geschichte in einem altväterlichen Duktus mit Sätzen wie diesem: «Dass sein Körper, so wie er nun einmal war, als Wohnstatt seines Willens höchste Beachtung verdiente, das stand für ihn außer Frage». Die auktoriale Erzählweise wechselt im Mittelteil zur personalen, mit Jüngel als Ich-Erzähler, abwechselnd im Brief oder Tagebuch. Es bleibt offen, ob Krass mit seinen Allmachts-Fantasien unternehmerisch ein Genie ist oder ein Hochstapler. Außer einer nur telefonisch in Erscheinung tretenden Sekretärin gibt es offensichtlich keine weiteren Mitarbeiter. Alle Geschäfte werden rund um den Erdball nur papierlos in Hotels und Restaurants abgewickelt. Der atmosphärisch dichte, bildstarke Roman verdeutlich in seinem spannenden Plot, der letztendlich aber nirgendwo hinführt, das Wesen und die Wirkungen der vergehenden Zeit. Das geschieht in einer eigenwilligen Form, die unübersehbar ironisch gefärbt ist und unterschwellig zuweilen sogar Humor erahnen lässt. Erstaunlich ist jedenfalls, dass dieser ambivalente Roman, in dem sich zwar vieles ereignet, aber nicht wirklich auch etwas passiert, es mit seiner Schadenfroh-Thematik ‹sic transit gloria mundi› auf Anhieb in die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat.

Bewertung vom 18.03.2021
Insomnia
Andric, Ivo

Insomnia


gut

Vom Bruder des Todes

Im Nachlass des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andrić fanden sich Notizbücher mit etwa 1500 Einträgen, von denen Michael Martens unter dem Titel «Insomnia» im vorliegenden Band mehr als zweihundert neu übersetzt herausgegeben hat. Der Nobelpreisträger von 1961 litt an Schlaflosigkeit, gehörte als Oneironaut jedoch zu jenen Menschen, die sich im Klaren sind, dass sie träumen und diese Klarträume sogar bewusst herbeiführen können. Was schon der Untertitel «Nachtgedanken» verdeutlicht und die Nachttischlampe auf dem Cover symbolisch unterstreicht. Der Klartraum-Forschung zufolge sind Introvertiertheit und Neugierde typische Persönlichkeits-Merkmale solcher Menschen, und in der Tat trifft denn wohl auch Beides auf den Autor zu.

Das Konvolut nachgelassener Notizen aus den Jahren 1915 bis 1974 war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, die einzelnen Texte sind bis auf wenige Ausnahmen undatiert und lassen sich nicht chronologisch lesen. Die vielstimmige Zusammenstellung in diesem Band ist in zwölf Abschnitte aufgeteilt, in denen Notate enthalten sind, die zum überwiegenden Teil aus Reflexionen des Autors bestehen. Sie beschäftigen sich vornehmlich in immer wieder neuen Variationen mit den Qualen der Schlaflosigkeit selbst. Es finden sich darin aber auch viele Erinnerungs-Fragmente, Selbstbetrachtungen, Anmerkungen und Beobachtungen zur Vergänglichkeit, zu Schaffenskrisen, zum Alltaggeschehen. Ferner gibt es Rückblicke in die Kindheit, Begegnungen mit Menschen, Naturbetrachtungen. All das wird noch ergänzt um Kurzgeschichten, Anekdoten und Aphorismen. So schreibt er zum Beispiel über die knarzenden Geräusche, die sein Parkett bei nächtlichen Temperatur-Schwankungen erzeugt, registriert das Abflauen des munteren Gezwitschers der Nachtigallen im Morgengrauen oder berichtet über einen Konzertabend mit Werken von Mozart, Liszt und Brahms. Der eher elegische Schluss bei Brahms baue sich ganz auf das Vorhergehende auf, ganz so, wie er es sich denn auch von seinem Leben erwarte. Und er distanziert sich vehement vom kleinbürgerlichen Leben, «das in nichts Größe, Schönheit oder echte Freude zeigt, weil in ihm alles vergiftet ist von Vorurteilen und befleckt von Berechnungen, die sich noch in die entlegensten Tiefen des menschlichen Lebens hineinziehen».

Der von seinen Dämonen heimgesuchte Autor bezieht sich in puncto Schlaflosigkeit zuweilen auf seine schreibenden Kollegen und Leidensgenossen Franz Kafka und Fernando Pessoa, die er zum Teil wörtlich zitiert. Bei all seinen Selbsterkundungen bleibt Ivo Andrić aber auffallend distanziert, er wird nie wirklich persönlich, man erfährt nichts Intimes von ihm, und auch sein Arbeitsleben wird nicht thematisiert. Seine übermächtigen Selbstzweifel hingegen verdeutlicht der bemerkenswerte Satz: «Wenn ich nicht verzweifelt bin, tauge ich nichts». Keinesfalls hat er seine Meditationen als narrative Selbstzeugnisse aufgefasst, im Gegenteil: «Ein Schriftsteller sollte schreiben und erzählen, aber nicht aus seinem Leben eine Erzählung machen. Die dies tun, versündigen sich an sich selbst und an der Leserschaft, vor allem aber an der Wahrheit».

«Der Schlaf ist ein Bruder des Todes» heißt es im Volksmund, und auch wenn man diesen Spruch in Zweifel zieht, zeugt zumindest dieses düstere Buch von deren existentieller Nähe. Denn der Leser lernt hier einen seelisch gequälten Mann kennen, der sich selbst nicht ganz geheuer ist, ein stoisch resignierender Ivo Andrić voller innerer Spannungen, der sich die Vanitas-Rhetorik vollinhaltlich zu Eigen gemacht hat. Es ist gerade diese zutiefst existentielle Dimension seiner Skizzen, die das uneitle, aufrichtige Selbstzeugnis eines chronisch schlechten Schläfers lesenwert macht. Dass ein solch skeptisches Werk allerdings schwer zu lesen ist und alles andere als Wohlfühl-Literatur darstellt, das liegt auf der Hand. Den nobelpreis-gekrönten Autor grandioser historischer Romane wird man hier kaum wiedererkennen!

Bewertung vom 15.03.2021
Effi Briest
Fontane, Theodor

Effi Briest


ausgezeichnet

Ein weites Feld

Von den Meisterwerken Theodor Fontanes ist sein 1896 erschienener Roman «Effi Briest» das bekannteste, es gibt Theater-Adaptionen und nicht weniger als sechs Verfilmungen dieses Klassikers. Inspiriert wurde der Autor durch einen authentischen Fall, den er deutlich abgeändert als Vorlage benutzt hat. Sein dem bürgerlichen Realismus verpflichteter Gesellschafts-Roman ist ein Meilenstein der deutschen Literatur. Er demaskiert mit seiner Ehebruch-Thematik den Ende des 19ten Jahrhunderts zur reinen Farce herabgesunkenen, gesellschaftlichen Ehrenkodex.

Die lebenslustige, 17jährige Effi heiratet den ehemaligen Verehrer ihrer Mutter, Baron Innstetten, ein 21 Jahre älterer, karriere-orientierter Beamter. Sie erhofft sich von der Ehe sozialen Aufstieg und Befreiung aus der für Effi eintönigen, brandenburgischen Provinz. In dem Ostsee-Städtchen, wo ihr Mann als Landrat arbeitet, erwartet sie aber ein ebenso monotones Leben wie daheim, und auch die Geburt von Annie ändert daran nichts. Ihr Mann ist oft auf Reisen, sie fühlt sich vernachlässigt und geht schließlich auf die Avancen des draufgängerischen Majors Crampas ein, den ihr Mann noch aus seiner Militärzeit kennt. Die heimliche Liaison der Beiden erweist sich mit der Zeit als moralisch sehr bedrückend. Sie sind schließlich sogar froh, als Innstetten, zum Ministerialrat befördert, nach Berlin berufen wird, denn mit dem Umzug enden dann zwangsläufig auch ihre heimlichen Treffen. Sechs Jahre später findet Innstetten zufällig die Liebesbriefe seines einstigen Nebenbuhlers. Er tötet ihn im Duell und lässt sich scheiden, die Tochter wird ihm zugesprochen. Und auch Effis Eltern verstoßen sie brüsk, sie darf nicht mehr ins Elternhaus zurück. In Berlin führt sie ein bescheidenes Leben und beginnt schließlich zu kränkeln. Auf Fürsprache ihres Arztes hin, der die seelischen Ursachen ihres zusehends schlechteren Gesundheits-Zustands erkennt, kehrt sie zu den Eltern zurück und stirbt schließlich als gerade mal Dreißigjährige.

Der für seinen anheimelnden Plauderton geschätzte Autor erzählt seine motivisch reiche Geschichte in epischer Breite. Dabei bezieht er neben der auktorialen Erzählerstimme auch die perspektivische seines Figuren-Ensembles mit ein, in Form der erlebten Rede oder monologisch in Briefform. Dominant aber ist bei ihm immer die Konversation, aus der heraus er einen Großteil des Geschehens entwickelt, womit dann auch gleich die zu Grunde liegenden, seelischen Befindlichkeiten verdeutlicht werden. Bei alldem wimmelt es nur so von Verweisen und Anspielungen, die er oft metaphorisch verwendet. Im üppigen Figuren-Ensemble sticht insbesondere Effis Vater hervor, der als Alter Ego des Autors gesehen werden kann. Der alte Briest ist das Urbild eines gradlinig denkenden, gutmütigen Mannes, dessen funkelnde Dispute mit seiner gestrengen Frau zu amüsanten Glücksmomenten für den aufnahmefähigen Leser werden. Aber auch alle anderen Figuren sind liebevoll gezeichnete Charaktere, selbst der ungeschickt agierende Innstetten tut einem leid am Ende, er ist das unglückselige Opfer zweifelhafter Konventionen geworden.

Vom Emanzipatorischen her sieht zum Beispiel Nora Gomringer in ihrem Essay Effi als Opfer eines Mordes. Das reiche Angebot an Lektüre-Schlüsseln beweist, dass dieses kanonische Werk auch heute noch die Gemüter erhitzt und zu allerlei Deutungen anregt. Und beim erneuen Lesen erschließen sich zudem viele Motive neu. Man ist angesichts der mäßigen Hervorbringungen zeitgenössischer Literatur erstaunt über die narrative Souveränität, mit der einst Fontane sein Metier beherrscht hat und auch heutige Leser bestens zu unterhalten vermag. Nicht zuletzt aber weist die leitmotivisch verwendete Redensart des alten Briest, die dann auch den letzten Satz des Romans bildet, auf diese Fülle an Motiven hin. Sie ergeben ja allesamt zu vielerlei Betrachtungen Anlass, die der alte Briest mit seinem «Ach, Luise, lass … das ist ein zu weites Feld» stets lebensklug zu beenden weiß.

Bewertung vom 11.03.2021
Karte und Gebiet
Houellebecq, Michel

Karte und Gebiet


gut

Mit ministerieller Leseempfehlung

Auch in seinem 2010 mit dem Prix Goncourt prämierten Roman «Karte und Gebiet» greift Michel Houellebecq auf für ihn typische Motive zurück, er kritisiert den wuchernden Kapitalismus ebenso wie die bindungsarme, selbstverliebte Konsum-Gesellschaft zu Beginn des 21ten Jahrhunderts. Deren Dekadenz wird hier aber etwas weniger bissig angeprangert, der Ton des Enfant Terrible der französischen Literatur ist milder geworden. Nach wie vor jedoch spaltet er das Feuilleton in zwei Lager, was auch bei diesem Roman deutlich wird. Einer der Protagonisten ist nämlich ein gewisser Michel Houellebecq, der natürlich auch im Roman ein umstrittener Schriftsteller ist. In dieser Figur nimmt er sich als auktorialer Erzähler ironisch selbst aufs Korn, ein kreativ erdachter narrativer Coup mit einer wahrlich nicht alltäglichen Wirkung auf den verblüfften Leser.

«Die Welt ist meiner überdrüssig, und ich bin es ihr gleichermaßen» lautet ein vorangestelltes Zitat von Karl, dem Herzog von Orleans. Ein solcher Überdruss kennzeichnet auch Jed Martin, Sohn eines erfolgreichen Architekten, dessen Frau sich das Leben nahm. Als Halbwaise im Internat erzogen, hat der eigenbrötlerische 25Jährige nach dem Kunst-Studium erste Erfolge als Fotograf. Er stellt seine am Computer künstlerisch nachbearbeiteten Fotografien von Michelin Straßenkarten den entsprechenden Satellitenbildern gegenüber. Mit dem überraschenden Ergebnis: «Die Karte ist interessanter als das Gebiet». Später wendet er sich der Malerei zu und findet schließlich auch einen Galeristen für seinen Bilder-Zyklus «Serie einfacher Berufe». Bei den Vorbereitungen für seine erste Ausstellung hat Jed die Idee, Michel Houellebecq für das Vorwort zum Katalog zu gewinnen. Und tatsächlich gelingt es ihm, den berühmten Schriftsteller zu überzeugen. Jed verspricht ihm, neben dem Honorar von zehntausend Euro ein Portrait von ihm zu malen und es ihm dann nach der Vernissage zu schenken. Prompt wird Jed zum gefeierten Star der französischen Malerei, er erzielt Höchstpreise, alle Bilder werden verkauft, schlagartig ist er ein reicher Mann - und hört endgültig auf mit dem Malen.

Während in dem dreiteiligen Roman, auch durch diverse Rückblenden, zunächst die Geschichte von Jed Martin erzählt wird, ist der dritte Teil ganz dem Schriftsteller Michel Houellebecq gewidmet, der Opfer eines bestialischen Mordes wird. In zwei Handlungssträngen wird so ein durchaus spannender Krimi mit dem Künstler-Roman verknüpft. Im Jahre 2035 erleben wir Jed dann am Ende als 60jährigen in seinem festungsartig abgesicherten, riesigen Landsitz. Dort hat er sich filmisch zunächst der lebenden Vegetation gewidmet, die er mit extremem Zeitraffer in kurze Sequenzen verdichtet. Später beschäftigt er sich künstlerisch mit dem allmählichen Zerfall von Gegenständen, die er auf gleiche Weise erfasst und dann mit den Pflanzenvideos zusammenmischt. «Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon» lautet sein resignatives Motto.

Seine zwei sozial verkümmerten Protagonisten schildert Houellebecq als harmlose Egozentriker. Mit einer Fülle von Motiven und durch allerlei zeitkritische Reflexionen angereichert, beschreibt er nüchtern und beiläufig so unterschiedliche Gegenstände wie den von der Geldschwemme befeuerten Kunstmarkt, die Technik von professionellen Fotoapparaten oder die Tücken einer akustisch virilen Heizung. Er beschäftigt sich aber auch mit Hunden, Insektensammlern, Silikonbrüsten, dem Schweizer Sterbetourismus und anderem mehr. Sprachlich souverän und anspielungsreich vereint der Autor diese disparaten Motive in einem wagemutig konstruierten Plot, stellt die Persiflage auf seine Person neben den Horror-Thriller, fügt Beziehungs-Geschichten und Vater-Sohn-Probleme ein. Am Ende ist Frankreich dann zum reinen Tourismusland geworden, eine postkapitalistische Dystopie. Genau deshalb hat Wirtschafts-Minister Montebourg diesen Roman zum Lesen empfohlen, - dem schließe ich mich rein literarisch gerne an!

Bewertung vom 08.03.2021
Predigt auf den Untergang Roms
Ferrari, Jérôme

Predigt auf den Untergang Roms


gut

Ein kühnes Unterfangen

Mit dem Roman «Predigt auf den Untergang Roms» hatte Jérôme Ferrari 2012 seinen Durchbruch als Schriftsteller, er gewann den Prix Goncourt, die wichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs. Wie in seinen anderen Werken geht es auch hier um das Scheitern, schon der Titel spielt ja auf die Warnung von Augustinus an, der von der Überheblichkeit der Römer und vom Untergang des römischen Reiches gepredigt hat. Der Autor nutzt sein Wissen als Philosophie-Lehrer und seine Milieu-Kenntnisse, um die hehren Gedanken des Kirchenvaters vom Werden und Vergehen auf eine Bar in einem korsischen Dorf anzuwenden, Religion und Philosophie also der für eine Bar spezifischen Männergier nach Alkohol und Frauen gegenüber zu stellen. Ein kühnes Unterfangen!

Philosophie-Student Matthieu, ein Leibnitz-Apologet, und sein aus Sardinien stammender Freund Libero, leidenschaftlicher Augustinus-Spezialist, übernehmen eine schlecht gehende Dorfkneipe im Landesinneren von Korsika, an der schon viele Pächter ökonomisch gescheitert sind. Mit kreativen Ideen in eine Bar verwandelt, haben sie dort sehr schnell großen Erfolg, zu dem vor allem vier junge, attraktive Frauen beitragen, die sie als Kellnerinnen eingestellt haben. Von weit her kommt nun Kundschaft angefahren, das Geschäft floriert. Und auch ein Gitarrist belebt mit seinem - leider unüberhörbar stümperhaften - Spiel gleichwohl die Tristesse der ehemaligen Kneipe. Besonders die kesse Annie lockt die Männer an, sie küsst jeden männlichen Gast zur Begrüßung und fasst ihm dabei wie selbstverständlich zwischen die Beine. Schon vor der Neueröffnung lautete der gutgemeinte Rat eines in der Branche erfahrenen Freundes: «Und vor allem dürft ihr die Kellnerinnen nicht ficken». Irgendwann aber hält sich Matthieu nicht mehr daran. Damit läutet er dann letztendlich den Niedergang ein, Annie nimmt Geld aus der Kasse, es gibt Eifersüchteleien, das bisher so gute Betriebsklima leidet. Während Leibnitz-Jünger Matthieu sich in der besten aller Welten wähnt, in der Milch und Honig fließen, ekelt sich der von Augustinus intellektuell geprägte Libero inzwischen geradezu vor dem zwielichtigen Milieu, in das er da hineingeraten ist, er will aussteigen.

Den einzelnen Kapiteln seines Buches hat der Autor jeweils hochtrabende, tief religiöse Zitate von Augustinus vorangestellt, das letzte Kapitel ist sogar ganz dem Kirchenvater gewidmet. Das in Alltagssprache der Jetztzeit geschilderte, eher derbe Geschehen steht in eklatantem Gegensatz dazu. Als originär weltliche Bühne dient dabei die Bar mit ihrem ständigen Kommen und Gehen, mit all den zweifelhaften Figuren, die derartige Orte so gerne bevölkern. Wohl um den Untergang des französischen Kolonialreichs als weiteren Beleg seiner Thesen mit einzubinden, hat Ferrari auch noch eine Passage über den Großvater von Matthieu eingefügt, der diese Zeit als Soldat und späterer Diplomat miterlebt hat. Und seine Schwester, die erzählerisch den Außenblick auf Matthieu repräsentiert, ist an archäologischen Grabungen in Hippo Regius beteiligt, dem einstigen Bischofssitz von Augustinus. Der schmale Band mündet mit seiner hoch verdichteten Erzählweise in dessen These ein, dass Werden und Vergehen auf dieser Welt unterliege einem ewigen Kreislauf, in dem sich alles wiederholt und nichts wirklich verschwindet, weil die geistige Welt ja ewig bestehen bleibe.

Nach der Lektüre stellen sich Zweifel ein, ob das Gegeneinanderstellen von philosophischer Hochkultur aus den «Sermones» des Augustinus und der schnöden Underground-Szenerie einer korsischen Bar ein gelungenes Verfahren ist, den Impetus des Autors zu verdeutlichen. Denn eine wirklich tragfähige Verbindung hat er nicht herstellen können, die Augustinus-Thematik wird der mitreißend bunten, korsischen Geschichte regelrecht aufgepfropft. Stilistisch störend sind zudem die prätentiös wirkenden Satzkonstruktionen, die das Lesen dieses ambivalenten Romans schwierig machen. Das Lesen aber - lohnt sich trotzdem!

Bewertung vom 05.03.2021
Treffen sich zwei
Hanika, Iris

Treffen sich zwei


schlecht

Love it or leave it

Mit dem deskriptiven Titel «Treffen sich zwei» hat Iris Hanika die Thematik ihres Romans bereits angedeutet, es geht um Zweisamkeit in konventioneller Form, in der heterosexuellen also. Ein ‹weites Feld› mithin, und ein reichlich beackertes zugleich, die Zahl die Liebesromane ist ja Legion. Umso kühner also der Versuch der Autorin, diesem abgedroschenen Thema, jenseits der Herz/Schmerz-Trivialität, neue Facetten abgewinnen zu wollen.

Die Zwei, die sich da treffen, sind bereits über vierzig, beide sind mit ihren diversen Partnerschaften jeweils grandios gescheitert. Senta arbeitet in einer nur nachmittags geöffneten Bilder-Galerie, die ein kunstbesessener Notar und Rechtsanwalt sich quasi als Hobby leistet. In einer Bar trifft sie auf Thomas, beide schauen sich wie vom Blitz getroffen in die Augen, sie fühlen sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. Kaum haben sie ein paar Sätze gewechselt, da verlassen sie auch schon gemeinsam die Bar und landen wie selbstverständlich in Sentas Bett, die Anziehungskräfte sind einfach übermächtig. Als Thomas sie morgens überhastet verlässt, weil er zur Arbeit muss, sagt er ihr, er würde sie anrufen. Senta merkt, dass sie von ihm nichts weiß, außer seinem Vornamen und dass er IT-Systemberater ist. Sie hat ihm nicht mal ihre Telefonnummer gegeben, so sehr waren sie in ihrem Sexrausch versunken. Nach zwölf ähnlich wilden Tagen kommt es zum Eklat, sie betrinkt sich in der Bar, weil er sich heute wegen einer geschäftlichen Verpflichtung nicht gemeldet hatte. Beim verzweifelten Grübeln wird ihr klar, dass Thomas ja überhaupt kein Mann zum Heiraten ist. Als er sie spätabends aber doch noch anruft, ist sie bereits stockbetrunken, und als er dann in die Bar kommt, um sie abzuholen, macht sie ihm vor allen Gästen eine Szene. Sie beschuldigt ihn, er würde sie ja sexuell nur ausnutzen, sie hingegen würde nicht mal zum Orgasmus kommen mit ihm. Alles vorbei also?

Beide haben ihre große Liebe gesucht und, überstrahlt von der gierig genossenen Lust, scheinbar auch gefunden, aber es ist ihnen nicht gelungen, dieses Glück dann auch zu bewahren. In ihrem Katzenjammer bricht die hysterische Senta auch noch einen Streit mit ihrer besten Freundin vom Zaun, die, anders als sie, ihren Mann fürs Leben gefunden hat, glücklich verheiratet ist und Kinder hat. Senta, die nah am Wasser gebaut hat, ist tagelang in Tränen aufgelöst vor Verzweiflung. Thomas ist entsetzt und auch sehr wütend, dass sie ihn in der Öffentlichkeit derart blamiert hat. Ein alles andere als überraschender Plot, der garniert ist mit allerlei peripheren Schilderungen aus dem Stadtteil Berlin-Kreuzberg, in dem die Handlung angesiedelt ist. In epischer Breite wird da zum Beispiel von der Geschichte des Landwehrkanals berichtet, an dem die Zwei gerne spazieren gehen. In einer Art Jobbeschreibung wird die Tätigkeit eines IT-Systemberaters erklärt und die spezielle Konzeption der Software, mit der Thomas so überaus erfolgreich arbeitet.

Stilistisch sind in diesem Roman vom Scheitern die verschiedensten Erzählformen vertreten, journalistisch nüchterne Beschreibungen, essayistische Abhandlungen, Internet-Recherche, Passagen in Form des Dramas mit szenischen Anmerkungen. Allzu häufig wird auch aus englischen Songtexten zitiert, die kaum jemandem etwas sagen, der sich nicht bestens in dieser Szene auskennt, Gleiches gilt für den mit seiner Penthesilea zitierten Kleist. So ganz ohne Pathos geht es also nicht ab in diesem Roman, obwohl all das unübersehbar ironisch unterlegt ist, ein Großstadt-Märchen mit dem (unheilvollen?) Credo «Wir schaffen das». Störend sind auch all die satztechnischen Mätzchen, mit denen zum Teil Seiten geschunden werden, die anbiedernd postmodern erscheinen, ohne erkennbar etwas zu bewirken. ‹Love it or leave it› ist hier das Motto für den Leser, der Roman, dessen Protagonisten kaum Empathie zu wecken vermögen, wirkt jedenfalls stark polarisierend. Sein Unterhaltungswert aber tendiert gegen Null.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.03.2021
Nach Hause schwimmen
Lappert, Rolf

Nach Hause schwimmen


gut

Alles andere als literarisch frigid

Mit seinem fünften Roman «Nach Hause schwimmen» ist der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert von der Jury des Frankfurter Buchpreises 2008 auf die Longlist gewählt worden, er wurde damit erstmals einem größeren Lesepublikum bekannt. Das Werk wurde im gleichen Jahr auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, es ist sein bisher größter Erfolg. Auch sieben Jahre später war er mit «Über den Winter» Finalist in Frankfurt, thematisch verwandt sind beide Romane mit ihren wegen psychischer Defekte am Leben scheiternden Protagonisten.

Das Unglück verfolgt Wilbur, seit er geboren wurde. Seine Mutter stirbt bei der Frühgeburt, der Vater verschwindet spurlos, das Kind kommt ins Waisenhaus. Bis seine irischen Großeltern ihn zu sich holen und die Großmutter den kleinwüchsigen Jungen umsorgt. Als sie bei einem Unfall stirbt, kommt er zu puristischen Pflegeeltern, die ihn so gängeln, dass er irgendwann Feuer legt und in der Besserungsanstalt landet. Bis ihn dort schließlich Alice befreit, die nette Schwester, die ihn schon im Säuglingsheim geliebt hat und ihn nun adoptiert und nach Amerika holt. Was Wilbur widerfährt wird in einem hoch komprimierten Plot erzählt, der sich als ein wahres Füllhorn an Erlebnissen, Schicksalsschlägen und überraschenden Wendungen erweist. Orte der Handlung sind Amerika, Irland und Schweden, Erzählzeit sind die Jahre seit der Geburt Wilburs 1980 bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Geradezu verschwenderisch wird da vom Ertrinken erzählt, vom Feuerlegen, von Suizidversuchen, von kriminellen Machenschaften in der Besserungsanstalt, vom Alkoholismus, sogar ein Goldschatz fehlt da nicht. Wilburs Inselbegabung lässt ihn mühelos zum besten Schüler werden, zum überaus talentierten Cellospieler zudem, aber auch zum begeisterten Buchleser, Bibliothekar, Cineasten und Verfasser eines dicken Buches über sein Schauspieler-Idol Bruce Willis, in dessen Actionthrillern voller Gewaltexzessen er sich begeistert mit dem Helden identifiziert.

Psychologisch klar nachvollziehbar wird in diesem Roman die Leidens-Geschichte eines körperlich gehandicapten Außenseiters geschildert. Dessen Wut gegen die Welt sowie seine partiell auftretende, emotionale Bindungs-Unfähigkeit stürzen ihn immer wieder in größte Probleme und lösen irrationale, verzweifelte Reaktionen aus. Ein stabiler Platz in der Gesellschaft scheint somit unerreichbar für den Hochbegabten, der sich fleißig und erstaunlich talentiert mit niederen Gelegenheits-Arbeiten weit unter seinem Niveau durchschlägt. Gleich zu Beginn treffen wir den zwanzigjährigen, lebensmüden Protagonisten in einer psychiatrischen Anstalt. Er erzählt aus der Ich-Perspektive, warum er der Welt so glücklos abhanden gekommen ist. «Glück ist dein Lieblings-Song aus dem Radio eines Autos, das an dir vorbeirast und in einen Abgrund stürzt», erklärt er resigniert. Parallel wird in einem zweiten Handlungsstrang, abwechselnd und zeitlich gegenläufig, auktorial von Wilburs Kindheit erzählt, bis die beiden Handlungs-Stränge am Ende zusammentreffen.

Dieser unterhaltsame Entwicklungs-Roman übertreibt es allerdings mit seinem extrem vielschichtigen Plot, in dem eine spannende Geschichte atemlos Schlag auf Schlag vorangetrieben wird, - weniger wäre da mehr gewesen. Als wahre Stärke erweist sich hingegen die bewundernswerte Fähigkeit des Autors, seine vielen Charaktere mit allen ihren schrulligen Eigenarten mit wenigen Worten anschaulich zu beschreiben, in ein paar Sätzen ihr ganzes Leben zu erzählen. Und dies auch bei Nebenfiguren, von jedem hat man ganz schnell erfasst, was für einen Menschen man vor sich hat. Aus den Figuren heraus werden stimmige Bilder erzeugt, entwickelt sich das turbulente Geschehen in diesem Pageturner. Erzählt wird stilistisch unprätentiös, angenehm lesbar und sprachlich durchaus kreativ, er sei «kulinarisch frigid», erklärt Wilbur beispielsweise mal. Wer nicht ‹literarisch frigid› ist, wird diesen komplexen Roman lieben.

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Bewertung vom 28.02.2021
Die morawische Nacht
Handke, Peter

Die morawische Nacht


gut

Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens

In «Die morawische Nacht» erzählt Peter Handke von der selbstkritischen Lebensbilanz eines namenlosen Ex-Schriftstellers, in der sich zwar etliche Parallelen zum Autor zeigen, die aber kaum autobiografisch gedeutet werden können. Der Buchtitel bereits weist mit der Morava als Nebenfluss der Donau auf den Balkan hin, und so ist denn der Ort der Rahmenhandlung tatsächlich ein Hausboot, auf das jener Schriftsteller zu später Stunde sieben Freunde einlädt, um ihnen, da er ja nicht mehr schreibt, nun eben mündlich von seiner gerade erst beendeten, langen Reise durch Europa zu berichten.

Überraschend befindet sich auch eine, im allegorischen Sinn schöne Frau an Bord, die bei der Bewirtung hilft, deren Beziehung zu dem als frauenfeindlich geltenden Gastgeber aber im Dunkeln bleibt. Im Laufe der Nacht erzählt nun der «ehemalige Schriftsteller» den einzeln, an getrennte Tische platzierten Freunden, alles Männer natürlich, von seiner Reise, auf der er auch einige der Zuhörer getroffen hat. Die lösen ihn dann ihrerseits zeitweise als Erzähler ab und berichten von dem gemeinsam Erlebten. Einer der Gäste unterbricht immer wieder mal als vorlauter Zwischenrufer den Erzählfluss und stellt Fragen zu unklar gebliebenen Details. Die mit einem klapprigen, uralten Bus der österreichischen Post begonnene Reise aus der serbischen Enklave, wo das Hausboot vor Anker liegt, führt zunächst nach Belgrad. Von dort geht es weiter auf die fiktive Adriainsel Cordura, mutmaßlich Krk, wo Handke einst seinen ersten Roman geschrieben hatte. Nächste Station ist eine gottverlassene Hochebene in Spanien, wo ein Kongress über Lärm und Geräusche stattfindet. In Wien gerät der Erzähler zufällig in ein nicht minder merkwürdiges ‹Festival der Mundorgelspieler› aus der ganzen Welt, danach besucht er das Grab seines Vaters im Harz und fährt nach Kärnten, seiner als «Stammgegend» bezeichneten Heimat.

Die Rahmenhandlung dieser nicht nur von der Textmasse her üppigen Erzählung dient als Vehikel für eine großangelegte, radikale Selbstprüfung des «ehemaligen Autors» in Form einer «imaginierten Reportage». Voller Ironie werden dabei in ebenso lebendigen wie präzisen Bildern, oft phantastisch anmutend, markante Figuren gezeichnet, geheimnisvolle Orte beschrieben, wundersame Begebnisse geschildert. Mit vielen Fragezeichen durchsetzt ist diese handketypisch kleinteilige Prosa in Satzschnipsel zerhackt, üppig mäandrierend und immer wieder durch Ergänzungen, Zweifel, Klarstellungen unterbrochen, meist in Klammern gesetzt. Dieses Buch ist somit auch eine fragmentarische Erzählung über das Erzählen selbst, versinnbildlicht durch die ständigen Korrekturen des bereits Gesagten als untrennbar zum Prozess des Schreibens gehörig. Und bei diesem Prozess kann eine Frau ja nur stören. Schriftsteller zu sein und Liebhaber in einer Person, das erscheint somit völlig unmöglich. Es ist zumindest kontraproduktiv und kann im schlimmsten Fall sogar in Mord und Totschlag enden. Folglich ist die Frau im Buch nur anfangs in einer Nebenrolle sichtbar, ansonsten eher kurz mal als Vision, wie auch ganz am Ende.

Es ist müßig, abzuschätzen, inwieweit diese Selbstbefragung eines Schriftstellers wirklich nur den ‹ehemaligen› oder doch auch den nobelpreis-gekrönten Autor selbst betrifft, und wenn letzteres zutrifft, inwieweit sie ernstgemeint ist. Hier wird, oft meditativ anmutend, anhand von Erinnerungen, Reflexionen und präzisen Alltags-Beobachtungen beschrieben, wie einer mit sich selbst nicht klarkommt. Einer, der sich selbst im Wege steht, der keinen an sich heranlassen will, für den das Alleinsein höchstes Glück bedeutet, ein Misanthrop par excellence. Der am Ende seiner Reise dann auch kein Hausboot mehr vorfindet, alles ist weg. Er ist nun wunschgemäß völlig mit sich allein, seine Geschichte aber haben offensichtlich die Freunde aufgeschrieben. Als (selbstironische?) Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens ein intensives Leseerlebnis!

Bewertung vom 23.02.2021
Taxi
Duve, Karen

Taxi


gut

Existenzielle Trostlosigkeit

«Taxi» von Karen Duve geht auf ihre Tagebücher aus mehr als 13 Jahren als Hamburger Taxifahrerin zurück. Sie hatte dieses Material zu einem als ihr Debüt geplanten 800-Seiten-Roman kompiliert, es fand sich jedoch kein Verleger dafür. Später hat sie ihre autobiografische Geschichte von den Erlebnissen der «Zwodoppelvier», wie sie im Jargon der Taxifunk-Zentrale mit der Kennnummer ihres Wagens immer nur genannt wurde, radikal gekürzt und mit großem Erfolg als ihren vierten Roman veröffentlicht, dessen Erzählzeit von 1984 bis 1990 reicht.

Die junge Alexandra, Ich-Erzählerin des Romans und Alter Ego der Autorin, meldet sich nach einer abgebrochenen Ausbildung kurz entschlossen auf eine Stellenanzeige als Taxifahrerin. Trotz mangelnder Ortskenntnisse besteht sie die Prüfung und kurvt fortan mit ihrem Taxi durch Hamburg, mit der gleichen Kennung 244, die einst auch der Wagen der Autorin hatte. Alex, wie sie von den Kollegen genannt wird, fährt von Beginn an nur Nachtschicht, weil da mehr zu verdienen ist. Sie versteht sich durchzubeißen in der sehr speziellen Welt der Taxler und gerät in einen munteren Kreis von ausschließlich männlichen Kollegen, die dem gängigen Klischee vom ‹Akademiker im Taxi› erstaunlich nahekommen. Da ist vor allem Dietrich, ein verkappter Kunstmaler, mit dem sie schon bald eine längere Affäre hat, ferner dessen bester Freund Rüdiger, ein Möchtegern-Philosoph, der als Frauenhasser ständig hitzige Diskussionen mit Alex führt. Ihr Privatleben wird als zielloses Dahinvegetieren mit ständigen Geldnöten geschildert, in dem außer ihren Männer-Geschichten nichts passiert. Wenn sie überhaupt mal ein Buch liest, dann eines über Affen, Dian Fossey fasziniert sie besonders. Zufällig trifft sie Marco wieder, einen kleinwüchsigen, ehemaligen Schulkameraden, der sich als guter Liebhaber erweist. Sie will sich aber keinesfalls in der Öffentlichkeit sehen lassen mit Marco, was zur Entfremdung zwischen ihnen führt. Schließlich hat sie noch eine heiße Affäre mit ihrem Nachbarn Majewski, einem windigen Journalisten und Frauenheld. «Sein Körper schob sich wie ein Sargdeckel über mich» heißt es lakonisch über das erste Mal.

Diese Männer-Geschichten bilden das spärliche Handlungs-Rückgrad des zweiteiligen Romans, der in 113 vignette-artigen Kapiteln Anekdote nach Anekdote aneinanderreiht. Die Fahrgäste bilden dabei ein Panoptikum verschiedenster Typen, die häufig auch aus dem Rotlichtmilieu stammen. Oft sind es Betrunkene, es gibt viel Ekliges wegzuwischen und Gestank zu ertragen, nicht nur von Rauchern. Alex erlebt den permanenten Kampf um den besten Standplatz und die lukrativste Tour, bekommt mal verschwenderisch viel und manchmal auch gar kein Trinkgeld. Sie muss gelegentlich sogar ihrem Geld hinterherlaufen, wenn der fiese Fahrgast nicht zahlen kann oder will. All diese Erfahrungen bewirken keine ‹Éducation sentimentale›, die Protagonistin wird nicht geläutert, «Taxi» ist auch kein Entwicklungsroman, sondern eine emotionslose Schilderung existenzieller Trostlosigkeit ohne erkennbaren Ausweg.

Mehr Authentizität als in diesem Roman ist fast nicht möglich, Karen Duve erzählt schonungslos und oft lakonisch mit dem Insider-Wissen aus mehr als einem Jahrzehnt. Sie schildert ganz unsentimental die für ihre Romane typische Antiheldin als antriebslos und entscheidungs-unfähig. Mit scharfem Blick für Details wird dabei unentwegt aus dem Alltag der Taxifahrerin berichtet, was durch ständige Wiederholungen allmählich doch ermüdend wirkt. Stilistisch dem Milieu angepasst, ist ihre Sprache eher karg, mit ironischem Unterton. Störend an diesem ambivalenten Roman ist ein, angesichts der Kongruenz Heldin/Autorin, peinlicher Narzissmus, der zum Beispiel beim Bruch mit Dietrich in dem Satz gipfelt: «Jemanden wie mich würde er nie wieder finden». Trotz eines geradezu albernen Shutdowns ist dieser Roman gleichwohl eine angenehme Lektüre, die zuweilen sogar mit ihrer Alltags-Philosophie zu überraschen vermag

Bewertung vom 21.02.2021
Die Stille
DeLillo, Don

Die Stille


weniger gut

Die Stille im Kopf des Lesers

Der neueste Roman des Postmodernisten Don DeLillo mit dem deskriptiven Titel «Die Stille» wird oft als Dystopie missverstanden. Diese einen einzigen Tag des Jahres 2022 schildernde Erzählung ist eine nüchterne Zustandsbeschreibung, keine negative Zukunftsvision. Plakativ könnte man das so umschreiben: Nehmt doch mal allen Leuten ihre Smartphones weg und schaut, was dann passiert! Der amerikanische Autor hat den Bogen aber noch viel weiter gespannt, er nimmt einfach den Strom weg. Ein Zusammenbruch aller digitalen Systeme ist die Folge. Alle Bildschirme bleiben schwarz, früher oder später sind auch alle Akkus leer, und sämtlichen Notstrom-Aggregaten geht der Treibstoff aus.

In New York haben sich fünf Menschen verabredet, abends gemeinsam das Finale der American Football-League im Fernsehen anzuschauen. In ihrem Appartement warten die emeritierte Physik-Professorin Diane, Max, ihr footballsüchtiger Mann und Martin, einer ihrer Ex-Studenten mit Savant-Syndrom, auf ein befreundetes Paar, das rechtzeitig mit dem Flugzeug aus Paris zurückkehren will. Die farbige Tessa, eine Journalistin und Schriftstellerin, und ihr Mann Jim führen im Flugzeug eine banale, belanglose Konversation, sie starren auf die Bildschirme vor ihnen. Sowohl im Appartement als auch im Flugzeug werden die Protagonisten von außen bespaßt, sie reden nicht über sich, über ihre Erlebnisse, sie kommentieren nur die Bilder, die sie vorgespielt bekommen. Bis im Landeanflug die Displays plötzlich schwarz werden, die Maschine ins Trudeln gerät und zur Notlandung ansetzt. Leicht lädiert flüchten die Beiden aus dem havarierten Flugzeug und werden in eine Klinik gebracht, wo Jims Kopfverletzung ambulant versorgt wird. Da der Verkehr völlig zusammengebrochen ist, müssen sie zu Fuß zur Wohnung ihrer Freunde gehen. Was sollten sie auch sonst tun?

Vor dem schwarzen Bildschirm kommentiert der enttäuschte Max pantomimisch in allen Details ein fiktives sportliches Geschehen auf der Mattscheibe, einschließlich aller eingeblendeten Werbeclips. Diese makabre Reportage spiegelt eindrucksvoll die beängstigende Situation, auf die sich alle keinen Reim machen können, über die es allenfalls Mutmaßungen gibt. Betrifft der totale Crash die ganze Welt? Zusammenhanglos zitiert der inselbegabte Martin immer wieder aus Einsteins Relativitäts-Theorie, auch das Atakama Radioteleskop in Chile wird erwähnt. Es fallen Begriffe wie Krypto-Währung, Cyberangriff, Biowaffen, digitales Wettrüsten, autonome Drohnen. Gibt es womöglich bereits Menschen, denen ein Telefon implantiert wurde? «Wir werden zombifiziert», sagt Max, «wir werden verspatzenhirnt». Einprägsam ist dem schmalen Bändchen ein Zitat Albert Einsteins vorangestellt: «Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen».

In einem kammerspielartigen Setting dreht sich das nur wenige Stunden umfassende Geschehen um nicht weniger als den Sinn der menschlichen Existenz. Jeder der fünf Protagonisten offenbart in einem theatralischen Schlussmonolog auf seine Weise seine emotionale Leere in einer saturierten Gesellschaft. Die scheint auf mediale Zerstreuungen derart angewiesen zu sein, dass sich ein totaler digitaler Crash schon fast als Nicht-Sein im philosophischen Sinne erweist. Wo nur Äußerliches wichtig erscheint, wo das Menschsein als Gesprächsstoff nicht mehr taugt, wo nur üppiger Wohlstand Befriedigung zu verschaffen vermag, da enttarnt so ein Blackout das virtuelle Paradies als Schimäre, er markiert eine Zäsur. Die allesamt konturlos bleibenden Figuren gleichen leeren Hüllen, sie reden zwar, aber sie kommunizieren nicht miteinander. Um sie herum herrscht die titelgebende Stille, die aber letztendlich auch im Kopf des Lesers keine Spuren zu hinterlassen vermag. Dazu trägt nicht wenig auch das hier ins Extreme komprimierte Erzählen bei, das sich leider allzu oft auf vage Andeutungen beschränkt.