Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bücherfreundin

Bewertungen

Insgesamt 298 Bewertungen
Bewertung vom 23.10.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


ausgezeichnet

Intelligenter und tiefgründiger Roman
Der Hanser Verlag hat "Connemara", den aktuellen Roman des französischen Autors Nicolas Mathieu, veröffentlicht. Es ist nach "Wie später ihre Kinder" und "Rose Royal" der dritte Roman des Autors, der ins Deutsche übersetzt wurde. "Rose Royal" hat mich bereits begeistert, und ich war daher sehr neugierig auf "Connemara". Ich wurde nicht enttäuscht.
 
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die knapp 40jährige Hélène und der gleichaltrige Christophe, die in dem kleinen Ort Cornécourt in Ostfrankreich aufgewachsen sind. Beide befinden sich in einer Lebenskrise.
 
Hélène stammt aus einfachen Verhältnissen und will schon früh der Enge ihres Elternhauses entfliehen. Sie ist ehrgeizig, ihr genügen in der Schule nur Bestnoten. Nach dem Studium macht sie Karriere als Unternehmensberaterin, heiratet den gutsituierten Philippe und bekommt die Töchter Mouche und Clara. Die hohe Belastung durch Beruf, Kinder und Haushalt fordert ihren Tribut. Nach einem Burnout Hélènes zieht die Familie von Paris nach Nancy, wo sie in einem Architektenhaus wohnt und Hélène Karriere bei einer Beraterfirma macht. Doch sie ist unzufrieden mit ihrem Leben, und auf der Suche nach Abwechslung sieht sie vollkommen unverhofft Christophe, ihren Jugendschwarm, wieder.
 
Christophe, der aus privilegierten Verhältnissen stammt, hat seine Heimat nie verlassen. Nach dem Ende seiner Karriere als umschwärmter Eishockeyspieler sichert er seinen Lebensunterhalt als Verkäufer von Hundefutter. Seine Ehe mit Charlie, mit der er einen Sohn, Gabriel, hat, ist gescheitert. Er lebt mit seinem demenzkranken Vater zusammen und kümmert sich zeitweise um Gabriel. Regelmäßig trifft er sich mit seinen beiden Freunden und denkt an ein Comeback auf dem Eis.
 
Der Roman über Hélène und Christophe hat mich von der ersten Seite an gefesselt und in seinen Bann gezogen. 
Wie schon bei "Rose Royal", so hat mich auch in "Connemara" der großartige und intelligente Erzählstil des Autors begeistert. Nicolas Mathieu seziert gekonnt die Charaktere und nimmt die moderne Arbeitswelt kritisch unter die Lupe. Auch die politische Situation Frankreichs im Jahr 2017 vor den Präsidentschaftswahlen lässt er in die Handlung einfließen.
Der Roman wechselt ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit und fächert nach und nach die Lebensgeschichten der Protagonisten auf. Wir erleben Hélène als ehrgeizige Jugendliche, die durch ihr Streben nach Bildung ihre Ziele erreicht, und Christophe, der bereits als Jugendlicher gewissen Ruhm erlangt, dessen Leben danach aber stagniert.
 
Das Buch hat mir sehr viel Lesefreude bereitet, und ich habe sehr gern die Lebenswege der beiden Protagonisten bis zu dem für mich stimmigen Ende verfolgt.  
Leseempfehlung von mir für diesen intelligenten Roman mit Tiefgang - 5 Sterne!

Bewertung vom 18.10.2022
The Dark
Haughton, Emma

The Dark


sehr gut

12 Monate in eisiger Kälte
Der Knaur Verlag hat "The Dark" veröffentlicht, den ersten Thriller der englischen Autorin Emma Haughton. Ich mag anspruchsvolle Krimis, die vor eisiger Kulisse spielen und ohne blutiges Gemetzel auskommen, und war daher vom Klappentext sofort sehr angetan.

Im Mittelpunkt des Romans steht die junge Ärztin Kate North. Durch eine persönliche Tragödie hat sie ein Trauma erlitten und ist schmerzmittelsüchtig geworden. Sie sehnt sich nach einem Neuanfang und tritt eine auf 12 Monate befristete Tätigkeit als Ärztin auf einer UN-Forschungsstation in der Antarktis an. Die Station UNA war 3 Jahre zuvor errichtet worden, um Wissenschaftler aus der ganzen Welt zusammenzubringen und den Klimawandel sowie die entscheidende Rolle der Antarktis für die globalen Wettersysteme genauer zu erforschen. Die angeschlagene Kate wird die Nachfolgerin des Arztes Jean-Luc Bernas, der zwei Monate zuvor draußen im Eis ums Leben gekommen ist. 

Die Geschichte beginnt langsam und ruhig. Kate lernt nach und nach ihre 12 Kollegen kennen und muss feststellen, dass nicht alle über ihre Anwesenheit erfreut sind. Es kommt zu einem Todesfall, und Kate gelangt zu der Überzeugung, dass es sich um einen Mord handelt und der Mörder sich unter ihnen befindet.

Der Thriller ist in schönem und flüssigem Erzählstil in der Ich-Form geschrieben. Kate lässt uns an ihren Gedanken, Erinnerungen und Ängsten teilhaben. Wir sind ihr ganz nah und fühlen förmlich ihre Angst vor der Dunkelheit, erleben aber auch ihren inneren Kampf gegen die Arzneimittelsucht. Rückblickend erfahren wir auch die Ursache, die zu ihrem traumatischen Erlebnis geführt hat.

Die Autorin erzeugt durch ihre schöne Erzählweise eine Spannung, die sich immer weiter steigert. Sie beschreibt ganz großartig das Zusammenleben der Crew, ihre Auseinandersetzungen und Ängste. Sie schildert eindrucksvoll und faszinierend die Auswirkungen der Isolation auf die Protagonisten. Auch die Beschreibung der atemberaubenden Natur der Antarktis und der klaustrophobischen Enge innerhalb der Forschungsstation fand ich sehr gelungen. Die unterschiedlichen Charaktere sind gut gezeichnet und authentisch.
Die Liste mit den Namen und Tätigkeiten der 13 Mitarbeiter am Anfang des Buches war für mich sehr hilfreich.

Das letzte Viertel des Buches habe ich als zu überfrachtet empfunden. Es geschieht einfach viel zu viel auf diesen 100 Seiten, es finden sich Logikfehler, und die Geschichte verliert leider an Glaubwürdigkeit. 

Das Buch hat mir - mit Abstrichen - sehr gut gefallen. Es war spannend, hatte mehrere Wendungen und hat mich bis zum Ende gefesselt.

Bewertung vom 14.10.2022
Café Leben
Leevers, Jo

Café Leben


ausgezeichnet

Berührende Lebensgeschichten
Der Droemer Verlag hat "Café Leben", den Debütroman der englischen Autorin Jo Leevers, veröffentlicht. Das wunderschön gezeichnete Cover erregte meine Aufmerksamkeit, und der Klappentext versprach eine interessante Lektüre. Ich bin nicht enttäuscht worden.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 32jährige Henrietta Lockwood. Sie ist alleinstehend und lebt sehr zurückgezogen, ihr einziger und bester Freund ist ihr Hund Dave. Eigentlich ist Henrietta Bibliothekarin, aber bisher hat sie ihren Platz in der Berufswelt noch nicht gefunden. In einer Zeitschrift entdeckt sie eine interessante Stellenanzeige und bewirbt sich für das Projekt Lebensbuch bei der Beratungsambulanz eines Londoner Krankenhauses. Zu ihrer Freude erhält sie den Job, und fortan ist es ihre Aufgabe, im Café des Krankenhauses Gespräche mit todgeweihten Patienten zu führen und ihnen dabei behilflich zu sein, ihre Lebensgeschichte schriftlich festzuhalten.

Die erste Patientin, mit der Henrietta sich unterhält, ist die krebskranke Annie Doyle. Annie ist 66 Jahre alt und beginnt, aus ihrem Leben zu erzählen. Ihre Ehe mit Terry, den sie mit 19 Jahren kurz nach dem Tod ihrer Schwester heiratete, blieb kinderlos. Erst vor zwei Jahren hat sie ihren Mann durch einen tragischen Unfall verloren. Ihre 18 jährige Schwester Kathleen ist 1974 "mutmaßlich ertrunken", wie Annie es ausdrückt. Henrietta hakt nach, möchte mehr erfahren, aber Annie braucht noch Zeit, um sich zu öffnen, Zeit, die ihr vielleicht fehlt .....

Die Autorin schildert in schönem Sprachstil und auf einfühlsame Weise die Begegnungen der beiden Frauen, die unter schweren Traumata leiden und sich mit zunehmender Vertrautheit und Zuneigung ihre Lebensgeschichten erzählen. Im Wechsel begleiten wir Henrietta und Annie, erleben ihren Alltag, ihre Gedankenwelt und ihre Erinnerungen, aber auch die Auseinandersetzung mit ihrer Kindheit.
Jo Leevers rollt die Ereignisse der Vergangenheit und die Erinnerungen von Henrietta und Annie ganz behutsam und langsam auf. Nach und nach erfahren wir, welches schmerzliche Erlebnis aus Henrietta diese sehr spezielle und verschlossene Frau machte. Auch Annies Leben blättert sich langsam auf, von der engen Verbundenheit mit ihrer Schwester Kath bis hin zu derem Verschwinden und ihrer langjährigen Ehe mit Terry. 

Das ruhig und sensibel erzählte Buch hat mich von Beginn an sehr berührt und in seinen Bann gezogen, ich tauchte ein in die Lebensgeschichten der beiden ungleichen Frauen bis hin zu dem für mich überraschenden, aber stimmigen Ende. 
Die Protagonistinnen waren mir sehr sympathisch, ich konnte mich sehr gut in die Charaktere einfühlen und habe die Geschichte trotz des ernsten Themas an keiner Stelle als rührselig oder gar kitschig empfunden. 
Nicht unerwähnt lassen möchte ich das schöne und berührende Nachwort sowie das Gespräch mit Jo Leevers am Ende des Buches. 

Der Roman wird mich noch lange beschäftigen - klare Leseempfehlung von mir und 5 Sterne!

Bewertung vom 10.10.2022
An den Ufern von Stellata
Raimondi, Daniela

An den Ufern von Stellata


ausgezeichnet

Wunderschön und tiefgründig - absolute Leseempfehlung!
Der Ullstein Verlag hat "An den Ufern von Stellata", den Debütroman der italienischen Autorin Daniela Raimondi, der es 2020 auf Anhieb auf die italienische Bestsellerliste geschafft hatte, veröffentlicht. Das Buch fiel mir wegen seines wunderschön gezeichneten Covers sofort auf, und der Klappentext machte mich neugierig.

Der anspruchsvolle Roman erzählt die Geschichte der Familie Casadio, die in Stellata lebt, einem kleinen Ort in der Lombardei. Wir schreiben das Jahr 1800, als ein Wagenzug des fahrenden Volkes, der sich auf der Durchreise befindet, wegen starker Regenfälle gezwungen ist, über den Winter in Stellata zu bleiben. Auf dem alljährlichen Dorffest begegnen sich Giacomo Casadio und die wunderschöne Zingara Viollca mit den bunten Federn im pechschwarzen Haar und der auffallenden Kleidung. Der schwermütige Giacomo ist ein Träumer und Eigenbrötler, der hofft, mit seinen Erfindungen zu Ruhm zu gelangen. Viollca liest Giacomo aus der Hand und sieht in ihm den Mann, auf den sie immer gewartet hat. Die beiden verlieben sich ineinander und heiraten gegen den Willen von Viollcas Familie. Bald kommt ihr gemeinsamer Sohn Dollaro zur Welt.

Viollca besitzt die Gabe, mit Hilfe von Tarotkarten in die Zukunft zu sehen und vererbt ihre vorhersehende Fähigkeit an einige ihrer Nachkommen, die wie sie dunkle Augen und schwarzes Haar haben. Giacomos träumerisches Wesen setzt sich hingegen eher fort in den Nachkommen, die wie er blaue Augen haben.

Die auf 509 Seiten in wunderschönem und flüssigem Sprachstil erzählte Geschichte umfasst sieben Generationen innerhalb eines Zeitraums von etwa 200 Jahren. Wir lernen unzählige Nachkommen von Giacomo und Viollca kennen und begleiten sie auf ihren Lebenswegen, erleben ihre Höhen und Tiefen, Liebe und Glück, aber auch ihre Tragödien und ihr Leid. Daniela Raimondi hat die unterschiedlichen Figuren und ihre Emotionen, Gedanken und Träume ganz wunderbar beschrieben.

Der Autorin ist es hervorragend gelungen, das Leben der Familienmitglieder mit den jeweiligen geschichtlichen und politischen Gegebenheiten, wie Kriege und Aufstände, zu verknüpfen. Auch die mystischen Aspekte des Romans sind behutsam mit der Handlung verwoben. Die sympathischen und authentischen Charaktere sind mir richtig ans Herz gewachsen, und ich habe es immer bedauert, wenn es einen Generationswechsel mit neuen Hauptfiguren gab.

Vor dem Hintergrund der zahlreichen Personen fand ich den Familienstammbaum auf der letzten Seite äußerst hilfreich, um die Familienstruktur jederzeit nachvollziehen zu können.

Das Buch hat mir sehr viel Lesefreude bereitet, es hat mich begeistert und von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.
Von mir 5 hochverdiente Sterne und eine absolute Leseempfehlung für diesen ansoruchsvollen Familienroman, der zu meinen diesjährigen Lesehighlights gehört!

Bewertung vom 05.10.2022
Als das Böse kam
Menger, Ivar Leon

Als das Böse kam


weniger gut

Leider kein Thriller, eher ein Jugendbuch
Der dtv Verlag hat "Als das Böse kam", den Debütroman von Ivar Leon Menger, veröffentlicht.
Dieses Buch ist eines der wenigen Bücher, die ich mir aufgrund des hinreißend gestalteten Covers näher angesehen und gekauft habe. Der Klappentext und die freundlichen Kommentare von Melanie Raabe und Sebastian Fitzek auf der Buchrückseite versprachen eine spannende Lektüre - doch ich wurde enttäuscht.

Im Mittelpunkt des Romans steht die Ich-Erzählerin Juno. Sie ist 16 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und ihrem 12jährigen Bruder Boy in einer Blockhütte auf einer Insel. Das Leben der Familie, die in einem Zeugenschutzprogramm und in völliger Isolation lebt, ist auf Versorgung ausgerichtet, es wird gefischt und gebacken, der Sonntag ist Spieletag.
Die Mutter unterrichtet die Kinder täglich, der Vater rudert einmal im Monat bei Vollmond an Land, um Lebensmittel einzukaufen. Einmal in der Woche bringt "Onkel Ole", der von der Existenz der Kinder nichts wissen darf, die Post. In der Welt der Familie gibt es Nordland und Südland, Fremdlinge und Wächter. Die Fremdlinge werden als Feinde angesehen, wenn sie die Familie finden, werden sie sie töten ...

Das Buch liest sich schnell und flüssig, da es in sehr schlichter Sprache geschrieben ist. Dieser einfache Erzählstil ist aber im Hinblick auf Junos recht kindliche Art durchaus passend.
Der Roman hätte spannend werden können, er fing auch durchaus vielversprechend an, aber dann wurde die Handlung zunehmend unrealistischer, die vorhersehbare Auflösung erfolgte viel zu früh, und das Finale fand ich  dann vollkommen überzogen. 
Autor und Verlag wären sicher gut beraten gewesen, das Buch nicht als Thriller, sondern als Jugendroman zu veröffentlichen.
Die Grundidee des Buches hat mir gefallen, die Umsetzung dagegen ist dem Autor leider nicht gelungen.
Die Idee mit dem Zettel und dem Hinweis auf dessen Inhalt fand ich pfiffig.

Das Buch war leider eine Enttäuschung für mich. Ich hatte einen spannenden Thriller erwartet - keinen Jugendroman. Es fehlte mir an Spannung, die ganze Geschichte war nicht authentisch, es gab keine überraschenden Wendungen, und die Figuren blieben blass.

Bewertung vom 03.10.2022
Meine bessere Schwester
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


ausgezeichnet

Fesselnder Familienroman
Bei den Büchern des Kein & Aber Verlags schaue ich immer genauer hin, und so bin ich auch auf das neue Buch "Meine bessere Schwester" der englischen Autorin Rebecca Wait aufmerksam geworden. Die Autorin war mir bislang unbekannt, aber der Klappentext hat mich sofort angesprochen, und ich war sehr neugierig auf den Roman. 

Im Mittelpunkt der auf mehreren Zeitebenen erzählten Geschichte stehen die ungleichen Zwillingsschwestern Alice und Hanna. Der Roman beginnt im Hier und Jetzt mit der recht komödiantisch erzählten Trauerfeier ihrer Tante Katy, auf der Alice ihre Schwester nach 4 Jahren zum ersten Mal wiedersieht. Beim anschließenden Trauerkaffee erzählt Hanna, dass sie nach England zurückgekehrt ist und eine Stelle im Außenministerium in London bekommen hat. 

Auf der zweiten Zeitebene erzählt Rebecca Wait die Geschichte der Mutter der Zwillinge. Die unscheinbare Celia wächst zusammen mit ihrer hübschen und bei allen beliebten Schwester Katy auf. Während die drei Jahre ältere Katy psychisch schwer erkrankt und weiterhin bei den Eltern lebt, studiert Celia Geografie in London. Sie freundet sich mit der Physikstudentin Anne an und lernt durch sie den ehrgeizigen Paul kennen .....

Auf einer weiteren Zeitebene steht das Aufwachsen von Alice und Hanna im Mittelpunkt, ihre Schulzeit, Studium und die Jahre danach. Nach und nach werden behutsam die Geschehnisse und Konflikte der Vergangenheit entfaltet. 

Der Roman hat mir sehr gut gefallen. Ich mochte die Zwillingsschwestern, wobei die zurückhaltende Alice meine größere Sympathie hatte, nicht zuletzt durch ihre Entwicklung im Laufe der Jahre.

Es gibt einige Parallelen in dem Buch: auf zwei Ebenen begegnen wir einer unscheinbaren, zurückhaltenden und einer extrovertierten, sehr attraktiven Schwester. Ebenso spielt auf beiden Ebenen das Thema Psychische Erkrankungen eine wesentliche Rolle. Aber es geht auch um Geschwisterrivalität, Intrigen, Mobbing und Freundschaft. Ein ganz wichtiges Element des Buches bildet die besitzergreifende Dominanz der Muter Celia, unter der Alice, Hanna und Michael seit ihren Kindertagen zu leiden haben. 

Der Roman ist in intelligenter, in Teilen aber auch humorvoller Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die Schilderung der Höhen und Tiefen innerhalb der Familie sowie die Beschreibung der psychischen Erkrankungen sind der Autorin hervorragend gelungen. Nicht nur die familiären Konflikte sind authentisch, auch die unterschiedlichen Charaktere sind ganz wunderbar gezeichnet.

Etwas überzogen fand ich den Abschnitt mit der Trauerfeier zu Beginn des Buches und das Kapitel mit dem Frettchen, dennoch kann ich das Buch, das mich noch eine Weile beschäftigen wird, sehr empfehlen - von mir 5 Sterne!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.10.2022
Euphorie
Cullhed, Elin

Euphorie


ausgezeichnet

Sprachlich faszinierender fiktionaler Roman
Der Insel Verlag hat "Euphorie" veröffentlicht, den neuen Roman der schwedischen Autorin Elin Cullhed, für den sie 2021 mit dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde.
Im Mittelpunkt des Romans steht Sylvia Plath, die mit dem Roman "Die Glasglocke" großen Ruhm erlangt hat.
Die Autorin erzählt die fiktive Geschichte über Sylvia Plaths letztes Lebensjahr.

Die Ich-Erzählerin Sylvia und ihr Ehemann, der Schriftsteller Ted Hughes, leben mit ihrer Tochter Frieda seit 1960 in England in einem alten Pfarrhaus. Das Zusammenleben ist schwierig, insbesondere nach der Geburt des kleinen Nicholas findet Sylvia kaum noch Zeit zum Schreiben, während Ted sich regelmäßig Auszeiten vom Familienleben nimmt und nach London reist. Sylvia fühlt sich einsam und überfordert mit ihrem Haushalt und der Betreuung der Kinder. Ihre Depressionen verstärken sich unaufhaltsam. Der Besuch des Schriftstellerehepaares Assia und David hat schwerwiegende Folgen .....

Der Roman endet etwa zwei Monate vor Sylvias Freitod. Ich frage mich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Handlung bis zu ihrem Selbstmord fortzuführen. Auf der einen Seite bin ich zwar froh, keine Details darüber gelesen haben zu müssen, aber auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass dem Roman etwas fehlt, dass er nicht wirklich zu Ende geschrieben wurde.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen, der anspruchsvolle Schreibstil von Elin Cullhed ist einfach faszinierend, und ich fand es spannend (aber auch anstrengend), Einblicke in Sylvias Gedankenwelt zu bekommen und ihre innere Zerrissenheit, ihre emotionalen Schwankungen mitzuerleben.
Es war für mich ein Wechselbad der Gefühle, ich habe mit Sylvia (und manchmal auch mit Ted) gelitten und gehofft, sie von Herzen bemitleidet und ihre Arroganz verurteilt.

Die fiktionale Darstellung des letzten Lebensjahrs von Sylvia ist Elin Cullhed auf großartige und fesselnde Weise gelungen und hat in mir den Wunsch geweckt, mehr über Sylvia Plaths und Ted Hughes Leben und ihre Werke zu erfahren.

Bewertung vom 28.09.2022
Sturmrot / Eira Sjödin Bd.1
Alsterdal, Tove

Sturmrot / Eira Sjödin Bd.1


ausgezeichnet

Großartiger und tiefgründiger Kriminalroman
Der Rowohlt Verlag hat "Sturmrot", den neuen Kriminalroman der schwedischen Autorin Tove Alsterdal veröffentlicht, die 2020 für das Buch mit dem Schwedischen und dem Skandinavischen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Bei dem Roman handelt es sich um den ersten Teil einer Trilogie um die Ermittlerin Eira Sjödin. Ich hatte hohe Erwartungen an das Buch - und ich wurde nicht enttäuscht.

Die in Nordschweden spielende Geschichte beginnt damit, dass Olof Hagström ganz spontan seinen Vater besuchen möchte. Die beiden haben sich seit 23 Jahren nicht gesehen. Olof war 14 Jahre alt, als er gestand, die junge Lina Stavred getötet zu haben. Da er damals noch minderjährig war, wurde er nie verurteilt und hat seine Jugend in Heimen verbracht. Im Elternhaus findet er seinen Vater Sven erstochen in der Dusche auf und macht sich damit sogleich zum Hauptverdächtigen.

Die Ermittlerin Eira Sjödin ist 32 Jahre alt und hat sich von Stockholm zurück in ihren Heimatort versetzen lassen, um für ihre Mutter da sein zu können. Diese ist an einer fortschreitenden Demenz erkrankt. Eira war erst 9 Jahre alt, als Lina seinerzeit ermordet wurde, und während ihrer Suche nach dem Mörder von Sven Hagström kommt der Fall von Lina, deren Leiche nie gefunden wurde, an die Oberfläche. Sie taucht tief ein in den über zwei Jahrzehnte zurückliegenden Mordfall und beginnt mit neuen Ermittlungen ....

Der erstklassige Krimi hat mich von Anfang an in seinen Bann gezogen. Er ist in einer ruhigen und schönen Sprache erzählt und sehr fesselnd. Die Handlung schreitet anfangs eher ruhig voran, um im Laufe des Buchs mehr und mehr an Fahrt aufzunehmen. Es hat mir viel Freude gemacht, die hart arbeitende Eira auf ihrer akribischen Spurensuche zu begleiten und die Puzzlestücke nach und nach mit ihr zusammenzusetzen. Das für mich stimmige Ende war vollkommen überraschend und hat mir sehr gut gefallen. Die Autorin hat die geschickt konstruierte Geschichte mit viel Tiefe und Emotion erzählt. Eira ist eine sehr sympathische Polizistin mit interessantem Charakter, und auch die übrigen Charaktere sind sehr schön und authentisch gezeichnet. Erwähnen möchte ich auch die lebendigen und schönen Landschaftsbeschreibungen der Autorin, die sie in die Handlung hat einfließen lassen.

Der ruhige und klare Erzählstil der Autorin hat mich an die Bücher von Henning Mankell erinnert. Ich bin absolut begeistert von diesem Roman und freue mich bereits jetzt auf Eiras neue Ermittlungen im Folgeband "Erdschwarz", der im Oktober 2022 erscheinen wird. Auf den letzten Seiten von "Sturmrot" findet man eine 16seitige Leseprobe. 

Wer niveauvolle und ruhige Krimis ohne Hektik und blutiges Gemetzel mag, wird von "Sturmrot" sicherlich begeistert sein.
Unbedingte Leseempfehlung von mir und wohlverdiente 5 Sterne für diesen großartigen Roman!

Bewertung vom 21.09.2022
Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. / Emer Murphy Bd.1
Getz, Kristine

Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. / Emer Murphy Bd.1


weniger gut

Brisantes und aktuelles Thema - leider nicht überzeugend umgesetzt
Der Ullstein Verlag hat den Debütroman "Poppy" der norwegischen Autorin Kristine Getz veröffentlicht.
Das Cover ist hinreißend gestaltet, und der Klappentext weckte meine Neugier auf das Buch.

Im Mittelpunkt der Geschehnisse steht die junge Familie Wiig während einer Zeitspanne von nur 4 Tagen: die Influencerin Lotte, ihr Mann Jens und die zweijährige Tochter Poppy. Die Familie verdient sich ihren Lebensunterhalt mit der Vermarktung des Familienlebens in den sozialen Medien, wobei Poppy als Hauptperson. als unfreiwilliger Star, fungiert. Bereits die Geburt des Kindes war Thema in den Netzwerken, und es vergeht kein Tag, an dem die Familie nicht Berichte postet und kleine Filme veröffentlicht. Die Tätigkeit bringt der Familie mehr als 400.000 Follower, die ihrem scheinbar perfekten Leben folgen, und einen gewissen Wohlstand.
Während eines Aufenthaltes bei den Großeltern verschwindet Poppy spurlos.

Die junge Kommissarin Emer Murphy, nach 6 Wochen Aufenthalt in der Psychiatrie immer noch krankgeschrieben und unter Psychopharmaka stehend, beginnt gegen den Rat ihrer Lebensgefährtin und ihres Arztes mit den Ermittlungen und unterstützt dabei ihren Kollegen Mons Tidemand.

Die Geschichte erinnert mich sehr an "Die Kinder sind Könige" von Delphine de Vigan. Auch in de Vigans Buch geht es um die permanente Internetpräsenz von Eltern, die ihre Kinder in den Medien vermarkten. Auch sie bringen es dank vieler Follower zu einem gewissen Wohlstand. Aber im Gegensatz zu Kristine Getz gelingt es Delphine de Vigan, dem Leser die Ausbeutung, der die Kinder ausgesetzt sind. sehr deutlich und mit viel Intensität vor Augen zu führen.
Bei Kristine Getz vermisse ich die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Internetsucht und Vermarktung von Kindern ohne deren Erlaubnis. Es bleibt vieles sehr an der Oberfläche.

Emer Murphy ist eine interessante Figur, jedoch hätte ich mir ihre Darstellung und die Beschreibung ihrer psychischen Probleme realistischer gewünscht. Die Esotherik-Geschichte rund um Emers Großmutter war meiner Meinung nach überflüssig.

Bei der Ermittlungsarbeit fehlte mir die Fokussierung auf das verschwundene Kind. Stattdessen stehen zunehmend Familienmitglieder und andere Nebenfiguren im Zentrum des Geschehens, so dass die Geschichte für mich zäh wurde, deutlich an Spannung verlor und ich aufpassen musste, vor dem Hintergrund der vielen Personen nicht den Faden zu verlieren.

Der Sprachstil der Autorin ist eher schlicht, keine ihrer Figuren war mir sympathisch, und es mangelte mir an Spannung, die ich in einem Thriller einfach voraussetze. Das Ende war zwar überraschend, hat mich aber nicht überzeugen können. 

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.09.2022
Kochen am offenen Herzen
Strohe, Max

Kochen am offenen Herzen


weniger gut

Buch hält leider nicht, was der Klappentext verspricht
Der Tropen Verlag hat "Kochen am offenen Herzen", die Erinnerungen von Max Strohe, veröffentlicht. Der Name Max Strohe war mir bislang vollkommen unbekannt, aber der Klappentext machte mich neugierig: "Vom Schulabbrecher aus der Provinz zum Sternekoch mit Bundesverdienstkreuz - die Geschichte von Max Strohe ist einzigartig ...". Ich freute mich auf den Bericht über einen interessanten Aufstieg - und wurde enttäuscht.
 
Der Autor schildert seine Geschichte während eines Zeitraums von etwa 10 Jahren. Mit 15 Jahren lernt er seinen Vater, einen erfolgreichen Antiquitätenhändler, kennen, er bricht die Schule ab und tritt eine Ausbildung als Koch an. Sein Arbeitgeber entlässt ihn vorzeitig, Max schafft es dann aber, seine Ausbildung in Bad Neuenahr abzuschließen und arbeitet anschließend in der Küche eines Altersheims, später in einem Hotel auf Kreta.
 
Mit großer Offenheit reflektiert Max Strohe 10 Jahre seines Lebens. Es ist das Leben eines Heranwachsenden, die Schule ist ihm nicht wichtig, wichtig sind Alkohol, Sex und Drogen. Darüber berichtet er in sehr direkter, bisweilen obszöner Sprache. Auf die ausführliche Schilderung seines Liebeslebens sowie Alkohol- und Drogenkonsums hätte ich gut verzichten können, ich hätte lieber mehr über seine Tätigkeit als Koch erfahren. Ich hatte andere Vorstellungen, aufgrund des Klappentextes erhoffte ich mir, mehr darüber zu erfahren, wie er es geschafft hat, die Karriereleiter emporzusteigen.
 
Der Autor hat seine Geschichte in flüssigem und angenehmem Sprachstil verfasst. Die Schilderung seiner Ausbildung fand ich sehr interessant. Bei seiner Abschlussprüfung habe ich richtig mitgefiebert. Max Strohe ist mutig, schreibt auch über Missstände in der Branche, es geht hier um Analogkäse und Formfleisch, Maggi und die Verwendung von Lebensmitteln, deren Mindesthaltbarkeitsdaten längst überschritten sind. Ich bin ihm dankbar für diese Aufklärung und werde daraus meine persönlichen Konsequenzen ziehen. Gut gefallen hat mir auch die Beschreibung seiner Begegnungen mit dem Vater, besonders die gemeinsame Reise nach New York.
 
Das Buch wird zwar als Sachbuch beworben, stellt aber das ausschweifende Privatleben des damals jugendlichen Autors in den Vordergrund. Sein Aufstieg in die erste Liga der Köche und seine Tätigkeit als Fernsehkoch hätten mich mehr interessiert, aber das blieb leider vollkommen außen vor. 
 
Aufgrund des vielversprechenden Klappentextes hatte ich mir mehr versprochen - von mir leider nur 2 Sterne.