Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Mikka Liest
Wohnort: 
Zwischen den Seiten
Über mich: 
⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 06.11.2016
Zeig dein wahres Gesicht / Ugly - Pretty - Special Bd.3
Westerfeld, Scott

Zeig dein wahres Gesicht / Ugly - Pretty - Special Bd.3


sehr gut

Hinweis: Mit "Special" findet die Originaltrilogie ihren Abschluss. Zwar gibt es inzwischen noch einen vierten Band (passenderweise mit dem Titel "Extra"), aber der folgt einer neuen Protagonistin.

Auch in diesem Band war ich wieder sehr beeindruckt davon, wie komplex, gut durchdacht und originell diese utopisch-dystopische Welt ist, die sich Scott Westerfeld ausgedacht hat. Immer wenn man denkt, jetzt hätte man aber mit Sicherheit jede ihrer Facetten gesehen und verstanden, kommt wieder eine unerwartete Wendung, eine neue Idee oder die drastische Weiterentwicklung eines schon bekannten Themas.

Dabei ist die Welt in diesem Band eine dunklere, mit einer düster-bedrohlichen Atmosphäre - das politische System funktioniert mit gnadenloser Präzision, ohne die geringste Achtung vor Persönlichkeitsrechten und Individualität. Mir kam das vor wie das albtraumhafte Zerrbild der quietschbunten Barbie-Welt, die man im ersten Band kennengelernt hat!

Das liest sich durchaus sehr spannend, gerade weil die Geschichte auch jede Menge Action zu bieten hat. Allerdings kam sie mir manchmal zu konstruiert vor und beruht für meinen Geschmack auch zu oft auf Zufällen...

Tally ist in diesem Band oft sehr unsympathisch, denn sie handelt für einen Großteil der Handlung durch und durch wie eine arrogante Special, die auf die dummen Prettys und die hässlichen Uglys herabschaut. In einer Szene verursacht es ihr Ekel und Übelkeit, Zane auch nur anzuschauen, weil der nach den Ereignissen des letzten Bandes einen Gehirnschaden hat, der unter anderem dazu führt, dass ihm ständig die Hände zittern. Das weckt in ihr das Gefühl, dass er jetzt minderwertig und abstoßend ist und sie erst wieder mit ihm zusammen sein kann, wenn er geheilt wurde - und am Besten auch direkt zum Special umoperiert.

Dennoch habe ich gehofft, dass sie es schafft, selber zu erkennen, wie falsch ihre Denkweise ist, aber sie trifft im Laufe der Geschichte nur wenige Entscheidungen selber (also nicht gesteuert von ihrer Special-"Programmierung") und die, die sie trifft, sind oft dennoch geprägt von ihrer überheblichen, extremen Denkweise.

Natürlich trägt Tally daran eigentlich nur wenig Schuld. Im Laufe der drei Bände wurde sie mehrfach gegen ihren Willen verändert und fand jedes Mal mühsam zurück zu sich selbst - aber in diesem Band hatte ich das Gefühl, dass sie einfach zu oft zerbrochen und wieder zusammengesetzt wurde. Gibt es die echte Tally überhaupt noch? Ob Tally es am Ende dann doch noch schafft, das verrate ich hier natürlich nicht, nur soviel: ich fand ihre Entwicklung konsequent, aber sie machte es mir oft schwer, wirklich mit ihr mitzufühlen.

Das Ende ließ mich mit gemischten Gefühlen zurück. Einerseits fand ich es gut und konsequent, andererseits hätte ich auf dem Weg dorthin mit mehr Revolution gerechnet und die Botschaft wird für meinen Geschmack dann doch etwas zu simpel rübergebracht.

Da ich beim Lesen der Bücher hin- und hergewechselt habe zwischen den englischen Originalausgaben und den deutschen Übersetzungen, muss ich sagen: obwohl die deutsche Übersetzung sicher nicht schlecht ist, geht doch Einiges von der Einzigartigkeit der Sprache verloren, mit der Scott Westerfeld diese Geschichte erzählt. Denn man hat wirklich den Eindruck, dass die Sprache sich im Laufe der Zeit, von unserer Gegenwart bis zur Gegenwart des Buches, grundlegend verändert hat, und das macht für mich einen Großteil des Reizes aus.

Fazit:
Der dritte Band einer Trilogie, die inzwischen vier Bände hat. Das Ende, oder doch nicht das Ende?

Tallys Geschichte kommt zu einem Abschluss, der konsequent und dennoch überraschend ist, und ihre Reise dorthin wird rasant und actiongeladen erzählt. Daher liest sich das Buch unterhaltsam und spannend, allerdings gibt es für meinen Geschmack zu viele Zufälle und Tally machte es mir sehr schwer, mit ihr mitzufühlen, da ihre Operation zur Special sie auch arrogant und skrupellos gemacht hat...

Bewertung vom 28.10.2016
Ein Wispern unter Baker Street / Peter Grant Bd.3
Aaronovitch, Ben

Ein Wispern unter Baker Street / Peter Grant Bd.3


ausgezeichnet

Auch im dritten Band der Reihe um den jungen Constable / Magierlehrling Peter Grant verbindet Ben Aaronovitch zahllose bunte, manchmal schräge Ideen zu einer originellen Mischung aus Fantasy, Krimi und Humor. Dabei zieht er durchaus auch mal die Klischees der Genres durch den Kakao - das aber mit liebevollem Augenzwinkern und ohne der Geschichte dadurch Abbruch zu tun.

Dieser Band verläuft meinem Empfinden nach deutlich langsamer als die ersten beiden Bände, mit mehr Polizeiarbeit und weniger Magie. aber ich fand die Handlung dennoch spannend und clever kontruiert. Mir gefällt sehr, wie der Autor magische und klassische Krimi-Elemente miteinander verwebt, den Leser mit ein paar unerwarteten Wendungen und falschen Fährten in die Irre führt, und dann am Schluss doch zu einer schlüssigen Auflösung kommt. Und das alles mit einem Humor, der mich alle paar Seiten laut zum Lachen brachte.

Die Welt von Peter Grant mag zwar eine magische sein, aber sie ist trotzdem eine Welt, die ihren eigenen Gesetzen folgt und eine ganz eigene Logik entwickelt. Peter geht das Ganze oft sehr wissenschaftlich an und experimentiert mit den wenigen Zaubersprüchen, die er schon beherrscht - sehr zum Leidwesen seines Meisters Nightinggale, der es lieber sehen würde, Peter würde die Sprüche einfach so benutzen, wie er sie beigebracht bekommt... Für mich war gerade diese Idee, dass Magie, wenn sie etwas Reales ist, auch etwas wissenschaftlich Erforschbares sein muss, wirklich interessant und unverbraucht.

Peter ist in meinen Augen ein phänomenaler Charakter: intelligent, mutig, einfallsreich und kreativ, und vor allem mit einem wunderbaren selbstironischen, trockenen Humor. Auch die anderen Charaktere sind komplex, glaubhaft und lebensecht - sogar die unheimliche Molly vermittelt durch ihr beredtes Schweigen ganz viel Persönlichkeit.

Um es kurz zu fassen: Ich liebe den Schreibstil. Um es dann doch ein bisschen ausführlicher zu begründen: er beschreibt die Geschehnisse lebendig und ausdrucksstark, mit vielen ungewöhnlichen Formulierungen und einzigartigen Metaphern. Er vermittelt Kopfkino vom Feinsten und bringt besonders den Humor hervorragend rüber, kann aber auch Szenen mit dunkler Atmosphäre zum Leben erwecken.

Fazit:
Ben Aaronovitch ist für mich genauso ein Meister der humorvollen Fantasy wie Terry Pratchett - seine Bücher sind oft zum Totlachen, haben dabei aber dennoch komplexe, glaubwürdige Charaktere zu bieten, und auch die Handlung ist bei allem Humor fundiert und gut durchdacht. Peter Grants Abenteuer bewegen sich irgendwo in der Schnittmenge von Krimi und Fantasy und sind dabei etwas gänzlich Einiges, Unverbrauchtes.

Bewertung vom 22.10.2016
NaNoWriMo: A Cheater's Guide (Write Better Books, #1) (eBook, ePUB)
Roberts, Laura

NaNoWriMo: A Cheater's Guide (Write Better Books, #1) (eBook, ePUB)


weniger gut

Hinweis: Bei NaNoWriMo handelt es sich um das internationale Schreibprojekt "National Novel Writing Month", bei dem jeder Teilnehmer versucht, im Monat November ein Buch (bzw, einen ersten Entwurf für ein Buch) mit mindestens 50.000 Wörtern zu schreiben. Was 1999 als Scherz in einer kleinen Gruppe von Freuden begann, hat 2016 schon weit über 400.000 Teilnehmer. Ich persönlich werde dieses Jahr zum fünften Mal teilnehmen.

Wie ich auf dieses eBook gestoßen bin, weiß ich gar nicht mehr. Möglicherweise hat es mir jemand im NaNoWriMo-Forum empfohlen, als ich auf der Suche nach Schreibratgebern speziell für das besonders rasche "Plotten" (Entwerfen der Handlung) von Manuskripten war? Jedenfalls hat mich der Titel ein bisschen stutzig gemacht, denn ein "Cheater" ist ja jemand, der mogelt - und das ist bei NaNoWriMo eigentlich gar nicht möglich, denn da es nichts zu gewinnen gibt, betrügt man sich höchstens selbst.

Aber der Klappentext klang vielversprechend. Daraus übersetzt: "Der Cheater's Guide to NaNoWriMo wird deine Hand halten, mit all den Tipps, Tricks, Schwindeleien und Kniffen, die du brauchen wirst, um dein Buch fertigzustellen, es von deiner Festplatte runter zu kriegen und es zu veröffentlichen, so dass Leute es tatsächlich lesen können."

Oh ja, bitte! Man kann wirklich jede Hilfe gebrauchen, wenn man jeden Tag mindestens 1.667 Wörter schreiben muss/will - und dabei möglichst noch etwas produzieren, das mit etwas Überarbeitung der Veröffentlichung würdig ist. Denn das ist das Schwierigste an der Sache; viele Teilnehmer schaffen die 50.000 Wörter, aber nur wenige veröffentlichen das geschriebene Manuskript dann auch.

Leider liefert dieser Ratgeber wenig mehr als Allgemeinplätze, Dinge, die einem der gesunde Menschenverstand schon sagt ("Überleg dir vorher, was du schreiben willst!"), oder Ratschläge, die man auf der Webseite von NaNoWriMo kostenlos bekommt. Dabei bleibt die Autorin oft sehr vage oder widerspricht sich selbst: Schreib nicht jeden Tag, das ist kontraproduktiv - doch, du musst dich unbedingt daran gewöhnen, jeden Tag zu schreiben - außer, du hast keine Lust dazu.

Eigentlich hatte ich ja gedacht, das mit dem "Mogeln" sei als kleiner Scherz gedacht - oder mehr als Hyperbel für: "praktischer Tipp, an den man selbst nie gedacht hätte" -, aber die wenigen Tricks, die die Autorin mit dem Leser teilt, sind tatsächlich oft Anleitungen zum Selbstbetrug und nicht mehr. So empfiehlt sie zum Beispiel, man solle für das Projekt nicht nur Wörter zählen, die man tatsächlich für sein Manuskript geschrieben hat, sondern auch alle Emails, SMS, Einkaufszettel und überhaupt alles, was man mit gutem Willen als "geschrieben" zählen kann, ganz egal, ob es irgendwas damit zu tun hat oder nicht. Am besten soll man sogar Unterhaltungen, die man mit Freunden geführt hat, als Dialoge in die Geschichte übernehmen!

Das Büchlein liest sich durchaus unterhaltsam, denn die Autorin erzählt locker und witzig von ihren eigenen Erfahrungen mit NaNoWriMo und dem Schreiben allgemein. Aber auch da geht sie nie wirklich in die Tiefe oder erklärt, wie genau sie dieses oder jenes geschafft oder nicht geschafft hat.

Leider muss ich zusammenfassend sagen, dass es deutlich bessere Ratgeber gibt, die einem tatsächlich Werkzeuge fürs Schreiben in die Hand geben. Darunter sind auch mehr als genug , die sich locker und unterhaltsam lesen und den ungeübten Schreiber nicht überfordern.

Fazit: für Neulinge zu wenig praktische Grundlagen, für erfahrene Teilnehmer zu wenig brauchbare Tricks.

Bewertung vom 18.10.2016
Widerfahrnis
Kirchhoff, Bodo

Widerfahrnis


ausgezeichnet

Da treffen sich zwei Menschen, die widerwillig im Alter angekommen scheinen: er, Reither, der seinen Verlag aufgeben musste, weil es immer mehr Schreibende und immer weniger Lesende gibt, und sie, Leonie Palm, die ihr Leben lang Hüte verkauft hat, bis auch das am Mangel an Hutgesichtern scheiterte. Sie haben diesen Wendepunkt im Leben erreicht, wo aus all den vagen Wunschträumen für eine endlos erscheinende Zukunft auf einmal verpasste Chancen werden. Vergangene Enttäuschungen und Verluste, die man längst vergessen glaubt, schmerzen wie alte Narben.

Gemeinsam fliehen diese beiden Menschen, die keinen Halt mehr finden in ihrem Leben, Richtung Sonne und ihrer Verheißung von Glück. In Sizilien begegnen sie einem Kind, das nicht spricht und gerade dadurch zur Projektionsfläche für etwas wird, das beide Protagonisten vermissen - er, weil er es nie hatte, sie, weil sie es verlor.

Aber zunächst beginnt ihre Reise im späten Winter einer deutschen Großstadt, und auch das Buch erschien mir erst seltsam unterkühlt. Es wird aus Reithers Sicht erzählt, der nicht umhin kann, seine Erlebnisse aus einer gewissen Distanz zu sehen. So wie er als Lektor früher aus den Büchern alles Weiche und Sentimentale strich, lässt er es auch in seiner persönlichen Geschichte nur ungern zu. Gefiltertes Leben: Erleben und Erzählen gehen immer Hand in Hand - spröde, kalkuliert, und dennoch oder gerade deswegen mit glasklaren Momenten sprachlicher Schönheit.

Umso erstaunlicher ist, wie plötzlich und ungebremst die Ereignisse auf einmal über ihn hereinbrechen. Leben, Lieben, Hoffen und Scheitern im Zeitraffer. Wider Willen lässt Reither seine Emotionen immer mehr zu, bis aus einem Gedankenspiel mit interessanten Motiven am Schluss doch noch ein Buch wird, das ins Herz trifft.

In seiner Dankesrede sprach Bodo Kirchhoff unter anderem von der "Gratwanderung zwischen einem Erzählen, das wehtut und einem Erzählen, das guttut". Genau das ist es, was "Widerfahrnis" für mich ausmacht: Hoffnung, die dem Leser erst die Schwermut bewusst macht, und doch unausweichlich wieder in dieser mündet. Hilfsbereitschaft, die sich als egoistischer Selbstbetrug herausstellt. Aber umgekehrt auch Schmerz und Verlust, die einen Weg zu etwas Neuem bahnen.

Kirchhoff bricht elementare Themen wie Schuld, Verlust oder Liebe herunter auf das Grundlegendste und setzt sie wieder zusammen zu einer Geschichte der leisen Töne, die dennoch eine starke Sogwirkung entfaltet und es dem Leser dadurch schwer macht, das Buch wegzulegen. Auch wenn diese Themen archaisch sind, vielfach in der Literatur aufgegriffen, ist "Widerfahrnis" doch alles andere als abgedroschen.

Der Autor verzichtet gänzlich auf Pathos oder Kitsch. Sein Schreibstil hat etwas Klares, Schwereloses, und zeichnet sich dennoch durch messerscharfe Prägnanz aus. Das Wort, das mir spontan einfällt, ist "meisterhaft", und dennoch hat das Geschriebene etwas Zurückhaltendes.

Die Geschichte ist fast schon ein Kammerspiel, denn Reither und Leonie verbringen den größten Teil des Buches in ihrem Auto. Dabei kommt man ihm als Leser schnell näher, während man sie zunächst nur dadurch kennenlernt, wie sie auf Reither reagiert - ein Schattenspiel, sozusagen. Aber gerade das ist spannend zu verfolgen, und am Ende versteckt sich im Ungesagten ihr Motiv für die Reise.

Die Liebesgeschichte hat etwas bittersüß Anrührendes, gerade weil sie zu gleichen Teilen unmöglich und unaufhaltsam erscheint.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.10.2016
Tante Poldi und die sizilianischen Löwen / Tante Poldi Bd.1
Giordano, Mario

Tante Poldi und die sizilianischen Löwen / Tante Poldi Bd.1


ausgezeichnet

Bisher gibt es zwei Bücher, in denen Tante Poldi in Sizilien ihr Unwesen treibt. Ich habe beide erst gelesen und danach auch nochmal als Hörbuch gehört, und ich kann nur sagen: Tante Poldi ist einfach Kult! Hätte ich ja vorher nie gedacht, dass so eine schräge Mischung aus Krimi, Humor, sizilianischem Sommerflair und verschrobener Lebensweisheit funktionieren kann - aber das tut sie, und wie.

Gerade diese Mischung macht das Buch so erfrischend originell, und das Lesen bzw Hören war für mich eine reine Freude. Ich bin normalerweise immer skeptisch, wenn ein Buch als humorvoll angepriesen wird, aber hier ist der Humor tatsächlich wundervoll ungezwungen und dabei doch total durchgeknallt. Ich habe selten so oft beim Lesen gelacht!

Tante Poldi denkt im Laufe des Buches öfter darüber nach, dass Sizilien alles auf einmal ist: salzig, bitter, süß und scharf, und gerade deshalb so bombastisch und phänomenal. Und irgendwie gilt das auch für Tante Poldi, denn die vereint viele Gegensätze in sich. Eigentlich ist sie ja nach Sizilien gezogen, um sich mit Meerblick gepflegt zu Tode zu saufen, aber da kommen ihr direkt mehrere Dinge dazwischen: zum einen ist sie trotz Phasen der Schwermut eigentlich ein lebenslustiger Mensch, dann hat sie als Tochter eines Kriminalkommissars quasi den kriminalistischen Jagdinstinkt im Blut - und dann verguckt sie sich auch noch in den Commissario Montana. Poldi zeigt, dass man auch im Alter von 60 Jahren noch tüchtig Pfiff haben kann, und dass man nie zu alt ist für Herzklopfen und Liebeskummer, und das fand ich richtig süß und rührend.

Tante Poldi ist lauter, bunter, schriller als das Leben. Und dann haut sie manchmal so ganz nebenher eine Lebensweisheit raus, wo man stutzt, darüber nachdenkt und sich dann denkt: Stimmt. Ich fand sie rundum liebenswert, diese bayrisch-sizilianische Kollegin von Miss Marple, und bei allem Humor doch glaubhaft und authentisch. Auch die anderen Charaktere sind großartig geschrieben. Ich hatte immer direkt das Gefühl, denjenigen schon sehr lange zu kennen, denn sie kamen mir alle vor wie direkt aus dem Leben gegriffen!

Der Kriminalfall ist vielleicht nichts für Hardcore-Krimi-Puristen, aber durchaus gut konstruiert, logisch und auf eher gemächliche Weise spannend. Zwar steht Poldi den Ermittlungen manchmal eher im Weg, indem sie sich resolut weigert, Informationen weiterzugeben, weil sie den Fall selber aufklären will - dafür hat sie aber auch Einfälle und kommt auf Lösungsansätze, auf die die Polizei niemals gekommen wäre.

Der Schreibstil ist schlicht und einfach eine Wucht. Der Autor kommt auf die schrägsten Vergleiche, Bilder und Metaphern und kann aus den alltäglichsten Situationen etwas machen, über das man sich totlachen könnte. Aber er kann nicht nur lustig schreiben - seine Worte lassen auch das Leben in Sizilien vor dem inneren Auge des Lesers auferstehen, mit ganz viel Atmosphäre und Dolce Vita. Und dann gibt es auch noch Szenen, in denen er geradezu nachdenklich und philosophisch wird, und auch das überzeugt und kann einen schon mal mitten ins Leserherz treffen.

Das Hörbuch ist eine wunderbare Umsetzung, der Sprecher Philipp Moog bringt die verschiedenen Charaktere mit ihren Eigenheiten perfekt rüber, besonders Poldi und ihren Neffen, der ihre Geschichte aufschreibt und erzählt.

Fazit:
Tante Poldi ist eine bayrische Naturgewalt. Energisch und entschlossen reißt sie in ihrer Wahlheimat Sizilien einen Kriminalfall an sich, was dem Commissario schon mal graue Haare beschert. Das ist zum Schreien komisch, dabei aber nicht platt, voller Sommerflair, aber nicht kitschig... Und spannend ist es auch.

Ganz ehrlich, so eine Mischung aus Dolce Vita, Humor und Mord habe ich noch nie gelesen, und ich hätte auch nicht erwartet, dass es mir so gut gefällt - aber tatsächlich macht Tante Poldi richtig süchtig.

Bewertung vom 05.10.2016
Night Falls. Du kannst dich nicht verstecken
Milchman, Jenny

Night Falls. Du kannst dich nicht verstecken


gut

Die beschriebene Situation verspricht gemütliche Leseabende voller Thrillerspannung:

1.) Ein einsam gelegenes Haus. durch einen Schneesturm noch unerbittlicher von der Außenwelt abgeschnitten. 2.) Zwei entflohene Strafgefangene, der eine ein tumber Riese, der andere ein eiskalter Psychopath. 3.) Vater, Mutter und Teenagertochter, die den beiden wehrlos ausgeliefert sind. Und die Lage spitzt sich von Minute zu Minute mehr zu....

Das klingt vielleicht nicht nach etwas weltbewegend Neuem, aber dennoch nach den perfekten Zutaten für einen soliden psychologischen Thriller. Tatsächlich bringt die Autorin auch durchaus spannende Ideen ein und legt von Anfang an ein gutes Tempo vor! Leider ging die Rechnung für mich trotzdem nicht vollständig auf, sondern hinterließ bei mir einen zarten Beigeschmack der Enttäuschung.

Die Geschichte spielt sich auf zwei Zeitebenen ab: einerseits die albtraumhaften Geschehnisse in der Gegenwart, andererseits die Kindheit des Psychopathen Nick in den 70er Jahren. Gerade diese Rückblicke fand ich anfangs sehr interessant, denn ich war sehr gespannt darauf, wie die Autorin das zunehmend absurde Verhalten von Mutter und Sohn begründen würde - leider konnte mich die Erklärung dann jedoch nicht komplett überzeugen.

Was mich schon nach wenigen Kapiteln immer mehr störte (auf beiden Zeitebenen), waren vor allem die in meinen Augen maßlosen Übertreibungen. Zum Beispiel wird Harlan, der dumme, aber gutmütige Sträfling, als geradezu grotesk riesig beschrieben: so wird an einer Stelle gesagt, dass die 15-jährige Ivy ihm nur bis zum Bauchnabel reicht! Die kann sich später im Buch übrigens an einer Hauswand festhalten, in dem sie ihre Fingernägel in die Holzfassade krallt. Es gibt außerdem Charaktere, die anscheinend literweise Blut verlieren können, ohne zu sterben - und vieles mehr.

Auch das Verhalten der Hauptfiguren erschien mir oft unglaubwürdig. Ja, es ist eine Extremsituation, und in Extremsituationen tun Menschen unlogische Dinge, aber dennoch war es mir oft einfach zu weit hergeholt. (Leider kann ich hier kein Beispiel bringen, ohne schon zu viel zu verraten.) Dadurch fiel es mir auch immer schwerer, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern, und das nahm mir wiederum viel der Spannung, obwohl das Buch wirklich sehr temporeich erzählt wird und auch viel Action zu bieten hat.

Ja, ich habe mich von dem Buch durchaus irgendwie unterhalten gefühlt, und ich hatte es trotz aller Vorbehalte auch schnell durch. Man kann es meines Erachtens ganz gut lesen, aber es ist einfach kein Muss und ich vermute, dass es mir auch nicht lange im Gedächtnis bleiben wird. Das ist natürlich alles Geschmacksache, aber auf mich wirkte die Geschichte wie ein Actionfilm, bei dem man besser nicht zu genau darauf achten sollte, ob auch alles realistisch ist - und darauf lege ich bei einem Thriller einfach Wert.

Die Charaktere fand ich von ihren Anlagen her an sich alle interessant. Sie haben viel Potential, bleiben aber meiner Meinung nach in ihrem Verhalten doch oft zu flach, um wirklich authentisch, lebendig und glaubhaft zu wirken. Das ist aber wirklich nur eine Gratwanderung: ich hatte oft das Gefühl, dass nur ein winzig kleiner Schritt fehlte, um aus einem interessanten Klischee einen echten Menschen zu machen.

Auch der Schreibstil war für mich so eine Gratwanderung: er liest sich flüssig, er vermittelt gekonnt Atmosphäre und ein Gefühl der Dringlichkeit und Gefahr, aber die Metaphern und Bilder sind oft sehr weit hergeholt und rissen mich eher aus dem Lesefluss heraus. Ich habe nichts gegen detailverliebte Schreibstile, aber wenn die Details zu zahlreich werden und sich immer wieder überbieten, dann stumpft die Wirkung meines Empfindens irgendwann ab.

Bewertung vom 02.10.2016
Das Gleichgewicht der Welt
Mistry, Rohinton

Das Gleichgewicht der Welt


ausgezeichnet

Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich in meiner Rezension zu diesem Buch schreiben könnte - diesem monumentalen Epos, das seine enorme emotionale Wucht gerade dadurch entfaltet, dass es den Blick nicht nur auf die dramatischen Ereignisse, sondern auch auf die kleinsten Dinge richtet. Die feinen Nuancen. Das Nichtgesagte. Die Zwischentöne. Mal ist das Buch ein farbenfrohes Spektakel, dann wieder eine zarte Szenerie leiser Philosophie. Manchmal war ich schockiert von der gnadenlos geschilderten Gewalt und dem Elend, dann wieder musste ich lachen, und mehr als einmal standen mir die Tränen in den Augen. Sei gewarnt, Leser: dies ist kein Buch, das beschönigt, und es ist auch kein Buch für erzwungene Happy Ends. Und dennoch ist es ein Buch, das verzaubert und bereichert.

Das Indien, dass Rohinton Mistry hier zum Leben erweckt, wirkte auch mich oft wie eine gänzlich fremde Welt, manchmal fast schon bizarr in ihrer Andersartigkeit. Aber dann stutzt man und erkennt sich auf einmal wieder in den Menschen, die diese Welt bevölkern. Denn deren Wünsche, Träume und Hoffnungen mögen zwar herzzerreißend bescheiden sein, aber dennoch vertraut.

In meinen Augen ist dem Autor nichts Geringeres gelungen, als das ureigenste Wesen des Menschen auf Papier zu bannen. Was ist Schmerz? Was ist Trauer? Was ist Ungerechtigkeit? Gerade wenn man als Leser glaubt, man könnte nicht mehr ertragen, stellen sich neue Fragen. Was ist Glück? Was ist Freundschaft? Was ist Hilfsbereitschaft? Das Gleichgewicht der Welt. Der Autor belehrt den Leser nicht, sondern lässt ihn die Antworten selber entdecken.

Im Mittelpunkt der Geschichten stehen vier Charaktere an der unsicheren Grenze zwischen Armut und vollkommener Verelendung.

Die Augen der Witwe Dina Dalal werden langsam zu schwach zum Nähen, aber ihr Stolz erlaubt es ihr nicht, ihren wohlhabenden Bruder um Hilfe zu bitten. Daher bringt sie in ihrer winzigen Wohnung nicht nur den jungen Studenten Maneck als zahlenden Gast unter, sondern richtet auch eine Werkstatt für zwei Schneider ein, die in ihrem Auftrag nähen - den optimistischen Ishvar und seinen wütenden Neffen Om. Herrscht am Anfang noch gegenseitiges Misstrauen, wächst die ungleiche Zweckgemeinschaft doch schnell zusammen zu einer Art Familie, die gemeinsam den turbulenten Zeiten trotzt.

Der Autor beschreibt seine Charaktere so lebendig und glaubhaft, dass man einfach mit ihnen mithoffen und mitleiden muss. Er zeigt an ihnen das ganze Elend der niederen Kasten, aber sie verkommen dabei nicht zu Stereotypen. Kein Charakter ist nur böse oder nur gut, egal wie extrem manche auf den ersten Blick erscheinen. Mitgefühl und Hilfe kommen oft aus der unerwartetsten Ecke, und manchmal stellt man fest, dass schreckliche Dinge nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Hilflosigkeit oder Angst geschehen.

Ich war sehr beeindruckt davon, was für ein lebendiges Bild vom Indien dieser Zeit das Buch zeichnet, von seiner Politik und seinen gesellschaftlichen Umstürzen. Man kann viel daraus lernen, und dennoch ist es kein trockenes Geschichtsbuch, sondern eine originelle, mitreißende Geschichte, deren Sog ich mich nicht entziehen konnte. Für mich ist es allerdings kein Buch, das man schnell nebenher lesen kann! Man muss jedem Kapitel genug Zeit geben, man muss mitdenken und mitfühlen, sonst betrügt man sich selbst um ein Leseerlebnis, das lange nachhallt.

Außerdem braucht man ab und zu einfach eine Verschnaufpause, denn immer wenn man denkt, jetzt kann es für unsere Helden doch unmöglich noch schlimmer kommen, kommt es schlimmer. Und dennoch will man weiterlesen, weiterlesen, weiterlesen... Zumindest ging es mir so.

Der Schreibstil strotzt nur so vor Atmosphäre und ist mal wortgewaltig, mal leise. Er beherrscht die volle Bandbreite der Emotionen, von schwärzester Verzweiflung bis hin zu augenzwinkerndem Humor. Einfach wunderbar, und auch die Übersetzung erschien mir sehr gelungen.

Bewertung vom 29.09.2016
Abrechnung / Hannah Jakob Bd.4
Peters, Katharina

Abrechnung / Hannah Jakob Bd.4


ausgezeichnet

Katja Mohr und Michelle Heckler verschwinden am gleichen Abend scheinbar spurlos. Beide Frauen engagierten sich mit viel Einsatz und Herzblut in einem Flüchtlingsheim für minderjährige Flüchtlinge, auf das erst vor kurzem ein Brandanschlag verübt wurde, und Michelle nahm öfter an Protestaktionen gegen Rechts teil. Da liegt der Verdacht natürlich nahe, dass die Entführungen etwas mit dem rechten Milieu zu tun haben, und dieser Verdacht scheint zur traurigen Gewissheit zu werden, als die Leiche von Michelle gefunden wird, übersät mit in die Haut geschnittenen Nazi-Parolen.

Kriminalpsychologin Hannah Jakob ist jedoch nicht bereit, den Fall so schnell in eine Schublade zu stecken, und tatsächlich entpuppt er sich im Laufe des Buches als unglaublich vielschichtig.

Ich fand den Aufbau dieser Geschichte sehr geglückt: einfallsreich, irrsinnig komplex und dabei einfach gut geschrieben. Es gelingt der Autorin hervorragend, mit den vielen (!!) Handlungssträngen und den dazugehörigen Charakteren, Motiven, Ermittlungsansätzen und falschen Fährten zu jonglieren, ohne dass es krampfhaft konstruiert, unrealistisch oder konfus wirkt. Ja, man muss als Leser auf jeden Fall am Ball bleiben und mitdenken, um den Überblick nicht zu verlieren, aber das lohnt sich! In meinen Augen bleibt es trotzdem immer spannend und unterhaltsam, und die Auflösung konnte mich komplett überraschen, war aber dennoch glaubhaft.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Hannah Jakob, die ihren Hund Kotti über alles liebt und seit einem Unfall vor ein paar Jahren eine sogenannte Savant-Begabung hat: sie hat ein perfektes Gedächtnis für das gesprochene Wort und kann Unterhaltungen daher lückenlos reproduzieren. Sehr praktisch für eine Polizeipsychologin! Ich mochte sie sehr gerne und fand sie auch glaubhaft geschrieben: keine perfekte Super-Ermittlerin, sondern eine engagierte Frau, die auch mal Fehler macht oder der falschen Spur folgt.

Ihr Kollege Mark Springer scheint ein ziemlicher Hitzkopf zu sein, der Verdächtige schon mal aggressiv anpflaumt oder provokativ duzt, auch wenn Hannah ihn vorher darum gebeten hat, ruhig zu bleiben und sich nicht in das Verhör einzumischen. Aber im Grunde sind sie trotz gewisser Spannungen gerade durch ihre Gegensätze ein gutes Team.

Dann gibt es zum Beispiel noch Daniel Hihmler, einen Experten für das rechte Milieu, der auf mich wirkte wie ein Mann ganz kurz vor dem großen Zusammenbruch. Denn seine Frau leidet an schweren Depressionen, die sich weder durch Psychotherapie, noch durch Medikamente und sogar extreme Maßnahmen wie Elektroschockbehandlung lindern lassen. Auch wenn diese Nebenhandlung für den eigentlichen Fall kaum eine Rolle spielt, ist sie dennoch sehr interessant. Die Erkrankung der Frau wird so tragisch wie realistisch geschildert.

Generell fand ich die Darstellung der Charaktere und ihrer Motive gut gelungen, Die Autorin beschreibt sie mit viel Liebe zum Detail, was sie für mein Empfinden authentisch und glaubhaft macht - besonders die moralisch nicht so einwandfreien!

Da wäre zum Beispiel der "Ritzer", der schon als Jugendlicher begeistert war vom Schnitzen - nur war ihm schon damals Haut als Medium lieber als Holz... Er ist ein faszinierender Charakter, denn seine Taten sind zweifelsohne grausam, abstoßend und falsch, und dennoch kann man auf verquere Art nachvollziehen, wie er so geworden ist.

Vielleicht noch interessanter fand ich Sven Möller: seines Zeichens Beschützer, verdeckter Ermittler, Stalker... Und Mörder. So eine Mischung habe ich noch in keinem Krimi gelesen - was für eine großartige Idee!

Der Schreibstil konnte mich mit wunderbaren Bildern, ganz viel Atmosphäre und einem guten Lesefluss mühelos überzeugen. Die Autorin erzählt die Geschichte mit einer sehr prägnanten Stimme, ohne dass es gekünstelt oder gar pseudo-literarisch wirkt.