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YukBook
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München

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Insgesamt 289 Bewertungen
Bewertung vom 21.05.2019
Drei Tage und ein Leben
Lemaître, Pierre

Drei Tage und ein Leben


ausgezeichnet

Schauplatz dieses Romans ist Beauval, ein Ort in Nordfrankreich, in dem selten etwas Spektakuläres passiert. Im Dezember 1999 kommt es jedoch zur Verkettung gleich mehrerer dramatischer Ereignisse, in dem der 12-jährige Antoine und das Verschwinden seines 6-jährigen Nachbarn Rémi im Mittelpunkt stehen.

Wäre alles anders gekommen, wenn Antoine mit seinen Freunden PlayStation gespielt hätte statt sich in den Wald von Saint-Eustache zurückzuziehen oder sein Nachbarshund nicht überfahren und vom Besitzer erschossen worden wäre? Fakt ist, dass er immer mehr in die Einsamkeit und zu einer äußerst aggressiven Tat getrieben wird.

Lemaitre beschreibt mit viel Sensibilität, was im Kopf des Teenagers vorgeht, auf den eine irrsinnige Bürde lastet. Gezwungen, alle Entscheidungen selbst zu treffen, da er sich keinem anvertrauen kann, malt Antoine sich mit grenzenloser Fantasie die Konsequenzen seiner Tat aus und spielt alle möglichen Szenarien durch, eins qualvoller als das andere.

Während es in Antoines Innerem brodelt, sind auch die Dorfbewohner in heller Aufruhr und starten eine Suchaktion nach dem vermissten Jungen. Mit feiner Beobachtungsgabe und stellensweise einer Portion Sarkasmus beschreibt der Autor, wie angestaute Aggressionen, persönliche Fehden und Rachsucht unter den Bewohnern in dem tragischen Vorfall ein Ventil finden. Schon bald wird das Ereignis jedoch durch eine neue Katastrophe abgelöst, als ein schweres Unwetter über das Dorf hereinbricht.

Gemeinsam mit den Figuren durchleben wir ihre Schicksale, die geprägt sind durch Missgunst, Lügen, Geheimnissen und Schuld. Lemaitres außergewöhnlicher Schreibstil und die raffinierte Dramaturgie mit vielen Wendungen hat mich bis zum Schluss gefesselt.

Bewertung vom 14.05.2019
Willkommen in Lake Success
Shteyngart, Gary

Willkommen in Lake Success


ausgezeichnet

Schon der erste Absatz dieses Romans gibt einen guten Vorgeschmack auf das verrückte Abenteuer der Hauptfigur Barry Cohen, auf das wir uns auf über 400 Seiten einlassen werden. Der schwerreiche New Yorker Hedgefonds-Manager steckt ganz offensichtlich in großen familiären und beruflichen Schwierigkeiten und will so schnell wie möglich der Misere entfliehen. Er kauft sich kurzerhand ein Greyhound-Ticket und macht sich auf den Weg nach Richmond zu seiner Jugendliebe Layla.

Es wird eine Selbstfindungs- und Läuterungsreise quer durch die Staaten bis nach San Diego, die in krassem Gegensatz zu seinem gewohnten Lebensstil steht. Auf der Suche nach dem echten Lebensgefühl macht er Bekanntschaft mit den Fahrgästen, darunter Studentinnen, Abgebrannte und Drogensüchtige, und setzt sich allmöglichen demütigenden Situationen aus. Parallel lässt uns der Autor am Leben der Manhattener Elite im Allgemeinen und der verlassenen Ehefrau und seinem autistischen Sohn im Speziellen teilhaben. Seine genauen Beobachtungen und treffsicheren Beschreibungen geben uns ein authentisches Bild der verschiedenen Schichten und politischen Ansichten kurz vor der Trump-Wahl.

Obwohl Barry jenen Typen verkörpert, der glaubt, mit Geld alles im Leben steuern zu können, konnte ich nicht umhin, Mitgefühl für den tragischen Helden zu entwickeln. Er ist keineswegs ein allein von Profitgier angetriebener gefühlskalter Mensch. Im Gegenteil: Er wünscht sich nichts mehr als wahre Freunde, Zuwendung und Nähe – was sich leider darin äußert, dass er seinen Mitmenschen ständig seine Hilfe als Mentor anbietet.

Das war mein erstes Buch von Gary Shteyngart und ich bin begeistert von seiner fulminanten Erzählkraft, seinem bissigen und zugleich warmherzigen Humor und der lebensprallen Geschichte. Noch immer sehe ich den verzweifelten Barry auf seiner Odyssee vor mir und die vielen schrägen Figuren, die ich nicht so schnell vergessen werde.

Bewertung vom 04.05.2019
Zwei Hälften des Lebens.
Rathgeb, Eberhard

Zwei Hälften des Lebens.


gut

Biografien von bedeutenden Persönlichkeiten zu lesen, kann ungemein bereichern. Einen besonderen Reiz hat das Ganze, wenn sich zwei Lebensläufe verschränken und die Freundschaft und ihr paralleles Schaffen im Mittelpunkt stehen. Um solch eine Beziehung geht es in diesem Buch, und zwar zwischen dem Philosophen Hegel und dem Dichter Hölderlin.

Beide wurden 1770 geboren, studierten Theologie im Evangelischen Stift Tübingen, obwohl sie der Philosophie viel näher standen und waren von den Werken Rousseaus begeistert. Nach dem Studium trennten sich ihre Wege und kreuzten sich später in Frankfurt am Main, wo sie beide als Hauslehrer tätig waren. In ihrer Weltanschauung entwickelten sie sich unterschiedlich: Während Hegel alles der Vernunft unterwarf, ließ Hölderlin sich von seinen Stimmungen, Sehnsüchten und persönlichen Neigungen leiten und brachte seine Empfindungen dichterisch zu Papier.

Zwischendurch reflektiert der Autor darüber, warum er sich gerade mit diesen beiden Gelehrten so intensiv beschäftigt und wie seine Tochter oder seine Nachbarn darauf reagieren. Wiederholt stellt er die enormen Unterschiede zwischen der damaligen und heutigen Zeit heraus und fragt sich, ob wir wohl jemals ihre Werke gänzlich verstehen werden. Womit ich mit schwer tat, waren die häufigen Abschweifungen. Kaum hatte ich mich ein wenig in die Person von Hölderlin oder Hegel vertieft, wurde ich herausgerissen, weil eine Vielzahl von Zeitgenossen die Bühne betraten und die literarischen, politischen und sozialen Hintergründe detailliert erläutert wurden. So blieb bis zum Schluss eine Distanz zu den Hauptakteuren, ähnlich wie in einem Geschichtsbuch.

Nichtsdestotrotz bekam ich einen interessanten Einblick, wie schwer es damals für Intellektuelle war, ohne Amt oder Auftrag finanziell über die Runden zu kommen und wie sie sich mit Gleichgesinnten verbündeten, um nicht in geistige und soziale Isolation zu geraten. Öffentlich traten sie als Bedienstete auf, im Geheimen folgten sie ihren intellektuellen Ambitionen. Erstaunlich fand ich auch, wie wenig die Geschehnisse im revolutionären Frankreich die beiden Herren berührte. Sie zogen es vor, sich in die Ideale der griechischen Antike zu flüchten. Wer sich eher unbedarft wie ich an die Lektüre dieses fakten- und zitatenreichen Buches wagt, sollte Geduld und Konzentration mitbringen; Hegel- und Hölderlin-Kenner werden sicher einen viel leichteren Zugang zu der Thematik finden.

Bewertung vom 23.04.2019
Sonntags in Trondheim / Die Lügenhaus-Serie Bd.4
Ragde, Anne B.

Sonntags in Trondheim / Die Lügenhaus-Serie Bd.4


gut

Dies ist der vierte und letzte Band der Lügenhaus-Serie von Anne B. Ragde. Da ich die ersten Bände nicht kenne, tat ich mich ziemlich schwer, die vielen Figuren auseinanderzuhalten und mich in die Familiengeschichte, die teils in Trondheim, teils in Kopenhagen spielt, hineinzufinden.

Zu Beginn wird man in den turbulenten Alltag des schwulen Paars Krumme und Erlend und dessen siebenköpfige Familie katapultiert und man fragt sich, welche Verbindung zwischen ihnen und dem einsamen alten Mann Neshov besteht, der im Altersheim nur seine Ruhe haben will. Während bei Krumme und Erlend die Freuden und Sorgen rund um die Geburt der drei Kinder mit einem lesbischen Paar detailreich geschildert und die Freuden des Familienglücks zelebriert werden, schlägt die Geschichte über Torunn Neshov, die einen einst florierenden Schweinezüchter-Hof verließ, melancholische Töne an.

Am meisten berührt hat mich die Figur ihres Onkels Margido, dessen Gedanken sehr häufig um den Tod kreisen und das nicht nur, weil er Bestattungsunternehmer ist. Erst als seine Nichte Torunn ganz plötzlich vor seiner Haustür steht und einen Neuanfang wagt, schöpft er wieder Lebensfreude. Die Art und Weise, wie das Wiedersehen in Margidos Alltag einbricht und auf sanfte Weise sein Leben verändert, ist sehr schön erzählt.

Geburt und Tod sind die wiederkehrenden Leitmotive dieses Romans. Ebenso geht es um Erwartungen, Sehnsüchte und Enttäuschungen in komplexen Familienbeziehungen. Teilweise fand ich die Themen gut umgesetzt, und es gab einige ergreifende Szenen, doch im Ganzen konnte mich der Roman nicht ganz überzeugen. Die drei Erzählstränge endeten für mich ein wenig lose, zudem war mir die Geschichte zu handlungsarm und enthielt viele langatmige Passagen.

Bewertung vom 13.04.2019
Projekt Sehnsucht
Bartholomay, Vera

Projekt Sehnsucht


sehr gut

Nicht wenige haben sicher schon einmal darüber nachgedacht, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Seiner Leidenschaft nachgehen und damit Geld verdienen? Eine ganz schön verlockende Vorstellung. Dass dies kein Traum bleiben muss, möchte uns Vera Bartholomay in diesem Buch vermitteln.

Der Titel und vor allem der Untertitel sind sehr treffend gewählt. Es handelt sich hier nämlich nicht um eine praxisorientierte Anleitung, wie man sich selbstständig macht, sondern um ein „Mutmachbuch“. Was wäre der allererste Schritt, um solch ein Vorhaben überhaupt anzugehen? Welche persönliche Einstellung und welche Personen können mir dabei helfen? Was könnte mir im Weg stehen? Im ersten Teil des Buches fordert uns die Autorin auf, diesen und ähnlichen Fragen nachzugehen und unsere Wünsche und Ziele im Leben und Beruf klar zu formulieren.

Auch in den folgenden Kapiteln legt sie ihr Augenmerk darauf, sich Klarheit zu verschaffen, um vage Ideen in konkrete Projekte umwandeln zu können. Der Sprung zwischen den Themen erschien mir manchmal zu groß, zum Beispiel von den vorbereitenden Schritten und der Zeitplanung zur Vermarktung seines Projekts. Vera Bartholomay lässt auch verschiedene Unternehmer/innen zu Wort kommen, die zum Beispiel ein Spielzeuggeschäft betreiben, ein Online-Magazin herausbringen oder eine eigene Pralinenmarke produzieren und so ihr Herzensprojekt verwirklicht haben. Hier hätte ich mir etwas mehr inhaltliche Tiefe gewünscht.

Dafür erläutern sie am Ende des Buches, welche Motivation hinter ihrer Geschäftsidee steckt und was das Besondere in ihrer Tätigkeit ausmacht. Den Part fand ich sehr interessant, ebenso die Anregung der Autorin, darüber nachzudenken, was man im Leben bewirken und den nachfolgenden Generationen hinterlassen möchte.

Bewertung vom 04.04.2019
Eine Odyssee
Mendelsohn, Daniel

Eine Odyssee


sehr gut

Kein Zweifel: "Die Odyssee" von Homer ist Weltliteratur und behandelt die großen Themen der Menschheit wie Familie, Kultur und Heimat. Auch Daniel Mendelsohn, Autor und Ich-Erzähler dieses autobiografischen Romans, ist fasziniert von dem Helden der griechischen Mythologie und bringt dessen Abenteuer in einem Uni-Grundkurs seinen Studenten näher. Womit er nicht gerechnet hat: Dass sein 81-jähriger Vater Jay beschließt, ebenfalls an dem Seminar teilzunehmen und – mehr noch – dass der bisher verschlossene und abweisende Mathematiker sich ihm immer mehr öffnet.

Dabei macht er es seinem Sohn nicht leicht, wirft er doch immer wieder ein, dass Odysseus ganz und gar kein Held gewesen sei. Er habe geweint, seine Frau betrogen und sich von anderen Göttern helfen lassen. So entspinnen sich interessante Diskussionen zwischen Vater und Sohn, die von den übrigen Seminarteilnehmern amüsiert verfolgt und kommentiert werden. Sie regen auch den Leser an, über Themen wie das Unterwegssein, das Lernen, die Erziehung oder die Ehe nachzudenken.

Während der Ich-Erzähler den Inhalt, den Aufbau und die Erzähltechnik des Werkes erläutert, erfahren wir immer mehr über die problematische Beziehung zwischen ihm und seinem Vater. Im Anschluss an das Seminar unternehmen sie sogar gemeinsam eine Mittelmeerkreuzfahrt zu den Schauplätzen der Odyssee.

Ich fand es originell und unterhaltend, auf diese Art und Weise Einblick in das homerische Epos zu bekommen. Im Gegensatz zu einem Sachbuch gewinnt die Geschichte durch die Seminarform nicht nur an Dynamik, sondern durch den Bezug zu der Familiengeschichte des Autors auch eine persönliche Komponente. Die Parallelen wirkten manchmal etwas konstruiert, waren im Ganzen aber überzeugend.

Bewertung vom 25.03.2019
Frankreich, wir kommen!
Guggisberg, Brigitte

Frankreich, wir kommen!


ausgezeichnet

Wie kommt eine bodenständige Köchin im Markgräflerland dazu, an einem Street-Food-Wettbewerb in Monaco teilzunehmen? Genau davon erzählt der Roman „Frankreich, wir kommen!“ von Brigitte Guggisberg.

Den Traum, ein kleines Bistro in Südfrankreich zu eröffnen, hegt die Ich-Erzählerin Betty Bauer schon lange und hat sich immerhin ihre Küche in provençalischem Stil eingerichtet. Als sie nicht nur beruflich, sondern auch privat eine herbe Enttäuschung erlebt, hält sie nichts mehr in dem Dorfgasthaus 'Sonne' in Efringen-Kirchen. Gemeinsam mit der gescheiterten Studentin Iva Leonida macht sie sich in einem klapprigen Food Truck auf den Weg Richtung Süden.

In Baume-les-Dames, der ersten Station, bekommt sie einen Crash-Kurs in jurassischer Küche und lernt allerlei Käsespezialitäten kennen. Weiter geht’s in die Gourmethauptstadt Lyon und in die Provence. Mit jeder Etappe und jeder bewältigten Aufgabe wächst Betty aus sich heraus, gewinnt Selbstbewusstsein und ist entschlossen, sich zu beweisen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, wenn die Köchin die frischen Zutaten von den Märkten oder ihre ausgefallenen Kreationen beschrieb und die quirlige Atmosphäre auf den Street-Food-Märkten einfing.

Für zusätzliche Spannung sorgt ihr Erzrivale Jan, der in einem Airstream Food Truck ebenfalls Richtung Monaco unterwegs und entschlossen ist, Betty und ihr Team zu besiegen. Ganz ohne Klischees kommt der Roman nicht aus, wenn die "Demoiselles en route" an duftenden Lavendelfelder vorbeibrettern, exzentrischen Franzosen begegnen oder sich auf Romanzen einlassen, doch das stört kein bisschen, zumal ich die Begeisterung für die Provence und den französischen Charme mit der Autorin teile. Sie schreibt so mitreißend, sprachgewandt und spritzig, dass ich das Gefühl hatte, die Sinnesfreuden auf dem kulinarischen Road Trip mitzuerleben. Da sich Food Trucks zunehmender Beliebtheit erfreuen und sich zu kleinen Gourmetküchen entwickeln, liegt Brigitte Guggisberg mit ihrem Thema zudem voll im Trend.

Bewertung vom 21.03.2019
Nur über seine Leiche
Strohmaier, Brenda

Nur über seine Leiche


ausgezeichnet

Der Titel lässt einen komödiantischen Krimi vermuten, doch der Untertitel verrät, worum es tatsächlich geht. Brenda Strohmaier schildert, wie sie nach dem Verlust ihres Mannes ihre Trauer verarbeitete und ein neues Leben als Witwe begann.

Auch wenn sich die 44-Jährige während der langwierigen Krebserkrankung ihres Mannes mental auf einen möglichen Tod vorbereiten konnte, fühlt sie sich völlig überfordert. Was ist alles zu organisieren? Wie hat sie sich als Witwe zu verhalten? Wie geht das Leben weiter? Eine ganze Reihe von Fragen drängen sich ihr auf. Wie sie sich einer Aufgabe nach der anderen stellte und dabei ihren Humor nicht verlor, hat sie in 31 Lektionen zusammengefasst.

Sehr schön fand ich, wie in ihrem Erfahrungsbericht das gemeinsame Leben mit ihrem Mann im Rückblick und die gegenwärtige Situation als Witwe miteinander verwoben werden. Manchmal lässt sie Erinnerungen aufleben und nimmt Abschied von gemeinsamen Tätigkeiten wie das feiertägliche Backen von Pfannkuchen. Mit der Trauerarbeit und dem Loslassen geht die Suche nach einer neuen Identität als Witwe und Single einher. Sie verschreibt sich eine Trauer-Reha Deluxe und unternimmt eine knapp sechsmonatige Weltreise von Kalifornien über Japan, Hongkong, Bali, Indonesien bis nach Australien.

Die inhaltliche Vielfalt und gelungene Balance zwischen praktischen Tipps und persönlicher Geschichte machen das Buch zu einer sehr lesenswerten Lektüre. In manchen Passagen konnte ich mich gut mit ihr identifizieren, zum Beispiel wenn sie einen Exkurs zu spirituellen Weisheiten macht oder ihre Erfahrungen mit der Aufräummethode von Marie Kondo wiedergibt. Man merkt sofort, dass Schreiben ihr Metier und Gesellschaftstrends ihr Spezialgebiet ist. Ihr lockerer, schnoddriger Ton ist wunderbar zu lesen. Nie rutscht sie ins Sentimentale oder Sarkastische ab.

Das Buch dürfte nicht nur für Witwen, sondern für alle, die nach einer Lebenskrise einen Neuanfang wagen wollen und bereit sind für „posttraumatisches Wachstum“, interessant sein. Über ihre Weltreise hätte ich gern noch viel mehr gelesen. Liebe Frau Strohmeier, wie wäre es mit einem zweiten Buch?

Bewertung vom 10.03.2019
Warum Jane Austen ohne Flieder nicht leben konnte
Young, Damon

Warum Jane Austen ohne Flieder nicht leben konnte


ausgezeichnet

Dass für so manchen Schriftsteller der Garten als Ruheoase oder Inspirationsquelle diente, ist nicht weiter erstaunlich. Verblüffend ist jedoch, was Damon Young zu diesem Thema zu erzählen hat. Erwartet hatte ich unterhaltsame Anekdoten aus dem Leben von mehreren berühmten Schriftsteller/innen, die eine besondere Beziehung zur Natur haben und darüber philosophieren. Doch es ist weitaus mehr. Anhand dieser Beispiele zeigt der Autor, welche unterschiedlichen Bedeutungen der Garten für einen Menschen haben kann und welche philosophischen Anschauungen sie daraus ableiten. Die Bandbreite reicht vom Sinnieren bei einem gemütlichen Spaziergang durch den Park bis hin zur körperlichen Schwerstarbeit im selbst angelegten Garten.

Für Jane Austen zum Beispiel war der Garten im Chawton Cottage in East Hampshire ein unentbehrlicher Rückzugsort, um ohne Ablenkung ihre zahlreichen Romane zu verfassen. Virginia Woolf fand in der Natur nicht nur das Rohmaterial für ihre Werke, sondern begeisterte sich auch für Blumenbepflanzung im eigenen Garten. Andere erlebten die Natur eher in der Fantasie, so wie Proust, dem drei Bonsai-Bäumchen an seinem Krankenbett dazu verhalfen, sich eine grenzenlose Botanik in seinem Zimmer vorzustellen. Auch Colette erschuf imaginär ihren idealen Garten, der auf ihre Prosa abfärbte.

Dass die Erfahrungen in und mit der Natur keineswegs immer rosig waren, schildert Damon Young am Beispiel von Sartre, Leonard Woolf oder George Orwell. So stellt er bildhaft und facettenreich die gegensätzlichen Emotionen heraus, die die Natur bei den Menschen auslösten – von Entzückung bis zum Ekel.

Obwohl es nur Bruchstücke aus dem Leben von Schriftstellern und Philosophen sind, so schafft es der Autor, ganz prägnante Miniporträts zu erschaffen. Ihre Erfahrungen in der Natur erreichen ganz unterschiedliche Dimensionen: von der Anbetung einer Rose über den Ekel vor einem Kastanienbaum bis hin zur Trauer über den Fall des „edlen Wilden“. Ich habe die Reise zu den verschiedenen botanischen Schauplätzen von England bis Sri Lanka ebenso genossen wie die lehrreichen Exkurse in die Philosophie. Das verständlich vermittelte Wissen, die gut recherchierten Details, die zahlreichen Zitate und Youngs elegante Prosa sorgen für ein wahrhaftes Lesevergnügen.

Bewertung vom 04.03.2019
Eine Schwester in meinem Haus
Olsson, Linda

Eine Schwester in meinem Haus


ausgezeichnet

Treffender könnte der Titel dieses Romans nicht sein. Er beschreibt nicht nur die Situation, in die die Ich-Erzählerin Maria wider Willen hineingerät, sondern auch wie fremd ihr ihre Schwester Emma ist. Hätte sie doch auf der Beerdigung ihrer Mutter bloß nicht Emma spontan nach Cadaqués eingeladen, einem kleinen Ort an der katalanischen Küste, wo sie zurückgezogen lebt.

Entsprechend qualvoll läuft das Wiedersehen ab. Es ist, als ob sich zwei Unbekannte gegenseitig vorsichtig abtasten und ja nicht zu viel von sich preisgeben. Andererseits spürt man durch ihre Andeutungen, dass viel Unausgesprochenes zwischen ihnen vorgefallen sein muss. So entsteht während ganz einfacher gemeinsamer Tätigkeiten wie beim Frühstück auf der Terrasse oder auf Spaziergängen durch den Ort immer wieder ein Spannungsfeld zwischen den beiden.

Warum Maria der Besuch so unangenehm ist, wurde für mich immer nachvollziehbarer. Zum einen beansprucht sie ihr Terrain ganz für sich allein und will sich auch nicht rechtfertigen müssen, warum sie seit einiger Zeit so plan- und ziellos lebt. Zum anderen sträubt sie sich dagegen, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. In den Gesprächen mit ihrer Schwester ist sie jedoch über ihre zunehmende Offenheit selbst überrascht.

So haben die zwei Frauen nicht nur die Gelegenheit, verdrängte Erinnerungen ans Licht zu holen und ihre traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten, sondern auch zu erkennen, dass sie sich teilweise über all die Jahre ein falsches Bild des anderen gemacht hatten. Bald ist das Haus nicht nur von den zwei Schwestern, sondern von vielen verstorbenen Seelen bevölkert, die in den Gesprächen zum Leben erweckt werden.

Eine Familiengeschichte auf dieses Art und Weise zu erzählen und sie in das malerische Setting einzubetten, fand ich sehr originell. Die wirklich spannenden Dinge spielen sich allerdings auf psychologischer Ebene ab und stehen zwischen den Zeilen.