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cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 07.04.2019
Die Angehörigen
Dion, Katharine

Die Angehörigen


gut

Gene findet seinen Lebenssinn
Ed und Gayle Donnelly sowie Gene und Maida Ashe kennen sich seit dem College. Beide Paare haben früh geheiratet, ihre Kinder gemeinsam aufgezogen und viele Urlaube im Strandhaus der Donnellys verbracht. Dann stirbt Maida plötzlich nach 49 Ehejahren, und Gene fühlt sich völlig schutzlos, fast desorientiert. Er soll für die Trauerfeier einen Nachruf auf seine Frau verfassen und weiß zunächst nichts über sie zu sagen. Die Aufgabe stürzt ihn in tiefe Zweifel. War seine Frau glücklich im Leben, in ihrer Ehe? Von seiner Tochter Dary, zu der er immer ein schwieriges, distanziertes Verhältnis hatte, entfernt er sich immer mehr. Immerhin sorgt sie dafür, dass sich eine Zeit lang die Haushaltshilfe Adele um ihn kümmert. Als sich Gene und Adele näher kommen, wird es für eine Weile leichter für ihn. Ihn plagen allerdings immer noch Zweifel auch angesichts der Erkenntnis, dass es Dinge gibt, von denen alle wussten, nur er nicht. Zwischen Ed und Maida gab es eine tiefe Verbundenheit, genauso wie Ed sich zu Gayle hingezogen fühlte. Haben sie ihn verraten und betrogen? Allmählich werden auch die Selbstzweifel immer stärker. Hat er selbst das Leben gelebt, das er für sich wollte, oder hat er sich immer viel zu sehr den Erwartungen anderer angepasst? Er erkennt, dass auch die Antworten auf all seine quälenden Fragen nichts ändern würden, dass man weder plötzlich ein ganz anderes Leben führen kann als das, das man nun mal hat noch rückwirkend irgendetwas an dem gelebten Leben verändern kann. Irgendwann will er manche Antworten nicht mehr hören. Er kann es sich auch aus gesundheitlichen Gründen gar nicht leisten, seinen Seelenfrieden in dieser letzten Phase seines Lebens zu zerstören, indem er immer weiter nach einer möglicherweise unangenehmen Wahrheit sucht.
Katherine Dion ist ein teilweise berührendes Buch gelungen, das auch den Leser über die angeschnittenen Themen nachdenken lässt, vor allem über die Frage, wie gut wir die Menschen wirklich kennen, die uns eigentlich nahestehen sollten. Dions Debütroman ist interessant, aber nicht besonders spannend, zumal der Leser, der aufgrund des Klappentextes spektakuläre Enthüllungen erwartet, enttäuscht wird. Am Ende der überwiegend ziemlich traurigen Geschichte über Verlust und Trauer wird der Leser durch Genes späte Erkenntnis versöhnt, dass sich sein Leben “nicht als das erträumte erwies, sondern schlicht als jenes, das er geführt hatte.“ ( S. 278). Könnte sein Lebenssinn nichts weiter gewesen sein, als der Wunsch, niemals allein zu sein?

Bewertung vom 07.04.2019
Die große Heuchelei
Todenhöfer, Jürgen

Die große Heuchelei


sehr gut

Die Wahrheit über das Lügen
Der Titel von Benedict Wells´ letztem Buch würde auch zu Jürgen Todenhöfers beeindruckendem Sachbuch “Die große Heuchelei“ gut passen. Der Autor ist dafür bekannt, dass er gut recherchierte Reportagen aus den Krisen- und Kriegsgebieten der Welt veröffentlicht und dabei selbst häufiger in Lebensgefahr gerät. Er hat die ganze Welt bereist und berichtet über Syrien, den Irak, Libyen, Afghanistan, Palästina, den Jemen und Myanmar. Auf die für das vorliegende Buch unternommene Reise hat er sich mit seinem Sohn und Ko-Autor Frederic begeben, der fotografiert und gefilmt hat. Die zahlreichen Fotos belegen die Darstellung des Autors im Textteil.
Es ging Todenhöfer darum zu zeigen, dass wir nicht die Guten sind, dass der Westen von jeher die Welt mit militärischen Aktionen und Kriegen überzogen hat, nicht um anderen Ländern die eigenen Werte zu vermitteln, sondern stets im eigenen Interesse und aus Machtstreben. Auch die Interventionen der letzten Jahrzehnte haben den betroffenen Ländern nie Freiheit und Demokratie, sondern stattdessenn unendliches Leid gebracht, was auch die Bilder belegen: in Grund und Boden bombardierte Städte und verletzte und tote Menschen. Todenhöfer greift in seiner Darstellung nicht nur die Politiker an, die die Menschen in ihren Ländern belügen, sondern auch die Medien, die diese Heuchelei durch ihre Berichterstattung häufig unterstützen.
Der Autor mahnt eine gewaltfreie humanistische Revolution an, um endlich dem Frieden eine Chance zu geben. Nur wenn der Westen nicht länger seine eigenen Werte verrät, kann er selbst überleben, und die Menschen werden nicht in immer neue militärische Auseinandersetzungen verwickelt. Nach der Lektüre dieses Buches kann niemand sagen, er hätte nichts gewusst und sich bequem zurücklehnen. Todenhöfers Abrechnung mit der Heuchelei der Mächtigen ist keine leichte Kost, aber sie kann niemand kalt lassen. Am Ende berührt die Flucht eines 12jährigen jesidischen Jungen, der unter schwersten Bedingungen halb Europa durchquert, den Leser und macht deutlich, dass mitmenschliches Verhalten gegenüber den Flüchtlingen geboten ist. Ein überaus wichtiges Buch.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.04.2019
ALLES WAS ICH DIR GEBEN WILL
Redondo, Dolores

ALLES WAS ICH DIR GEBEN WILL


ausgezeichnet

Unter Monstern
Der Schriftsteller Manuel Ortigosa erfährt von der Polizei in Madrid, dass sein Mann Alvaro in Galicien tödlich mit dem Auto verunglückt ist, wo er doch angeblich in Barcelona einen Geschäftstermin wahrnahm. Manuel fährt sofort nach Galicien und lernt den Kommissar Nogueira kennen, dem genauso wie der Gerichtsmedizinerin sofort Zweifel an der offiziellen Version vom Unfalltod kommen. Alvaro hat ihn als Alleinerben eingesetzt, aber Manuel verzichtet spontan auf das Erbe und will nur noch weg. Dann möchte er aber doch herausfinden, wie Alvaro ums Leben gekommen ist und bleibt. In der Folge ermittelt er zusammen mit dem inzwischen pensionierten Kommissar und der Gerichtsmedizinerin, später unterstützt von dem Geistlichen Lucas, der seit der Kindheit ein enger Freund der Brüder Alvaro und Santiago und Santiagos Beichtvater ist. Es kommen immer mehr Geheimnisse aus der Vergangenheit von Alvaro und seiner Familie ans Licht. Aus Schock und Trauer werden bei Manuel zunächst Wut und Verbitterung, weil er sich hintergangen fühlt und angesichts von Alvaros Doppelleben auch ihre Liebe in Zweifel zieht. Allmählich erkennt er jedoch, dass sein Partner ihn nicht täuschen, sondern schützen wollte, dass er sich nicht für ihn geschämt hat, sondern für seine monströse Familie. Ohnehin hat Alvaro ihm in all den Jahren alle Alltagsdinge abgenommen, damit sich Manuel ungestört der Schriftstellerei widmen konnte.
Mit diesem Roman ist Redondo ein ungeheuer spannendes Porträt einer Gesellschaftsschicht gelungen, die in ihrer Arroganz meint, sich alles erlauben zu können, um ihren Anspruch auf Macht, Reichtum und Ansehen zu bewahren. Dafür sind alle Mittel recht und jede Grausamkeit auch gegenüber Mitgliedern der eigenen Familie erlaubt. Im Laufe der Recherchen tun sich wahre Abgründe an menschlicher Verderbtheit auf, und es gibt weitere Tote. Manuel wird zwar von den meisten Mitgliedern der Familie Muniz de Dávila verachtet , kann aber Freundschaften knüpfen und seinerseits anderen helfen. So ist der sehr lesenswerte Roman nicht nur düster, sondern vermittelt auch eine tröstliche Botschaft.
Eine Anmerkung noch zum deutschen Titel, der keine Übersetzung des Originaltitels ist (Todo esto te daré / Dies alles werde ich dir geben). “Alles, was ich dir geben will“ halte ich für einen Fehlgriff, nicht nur, weil man damit eine Schmonzette assoziiert, sondern auch weil der biblische Bezug (Evangelium des Matthäus, 4. Kapitel) verloren geht, der an zwei Stellen des Romans eine zentrale Rolle spielt (S. 324-5 und 524). Es geht um die dritte Versuchung Jesu durch den Teufel: “Dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.“ (S. 325). Wenn sich Jesus von Gott lossagt, verspricht ihm der Teufel die Herrschaft über die Welt. Alvaros Vater will seinem Sohn zu Lebzeiten das gesamte Erbe bis auf den Adelstitel übertragen - unter der Bedingung, dass Alvaro auf den Familiensitz zurückkehrt, ein Mädchen aus gutem Hause heiratet, um den Schein zu wahren und seine Neigungen nur heimlich in Madrid auslebt. Wie Jesus widersteht auch Alvaro der Versuchung. Er bekennt sich zu seiner Liebe.

Bewertung vom 07.04.2019
Bella Ciao
Romagnolo, Raffaella

Bella Ciao


sehr gut

Das Schicksal ist ein Rätsel
In ihrem Roman “Bella Ciao“ (Originaltitel: "Destino") zeichnet Raffaella Romagnolo das Schicksal einiger ausgewählter Familien im fiktiven Borgo di Dentro vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1946 nach und liefert dabei ein gut recherchiertes Porträt italienischer Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das zwei Weltkriege und den Faschismus ebenso umfasst wie die Situation italienischer Einwanderer in den USA.
Im Mittelpunkt steht Giulia Masca, Mitte 60, die 1946 in Begleitung ihres Sohnes Michael zum ersten Mal in den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, den sie 45 Jahre zuvor fluchtartig verlassen hatte, nachdem sie kurz vor der Hochzeit den Verrat ihres Verlobten Pietro und ihrer besten Freundin Anita bemerkt hatte. Die schwangere 20jährige lernt in New York den Geschäftsmann Libero Manfredi kennen, der ihr fortan ein zuverlässiger Ehemann und Vater für ihren Sohn ist. Der Roman berichtet über ihr Leben in der neuen Welt ebenso wie über ihre harte Kindheit und Jugend mit einem Alkoholiker als Vater und einer verbitterten Mutter, die sie nicht liebt. Die Autorin benutzt die Technik des umgestellten Erzählens, um sowohl die private als auch die große Geschichte mit vielen Rückblenden, Wechseln der Erzählperspektive und Zeitsprüngen zu erzählen, wobei sie immer wieder zur Gegenwart zurückkehrt, wo sich Giulia auf die Begegnung mit ihrer Vergangenheit vorbereitet. Eine Vielzahl von Personen, die mehreren Generationen angehören, macht die Lektüre nicht einfacher. Dennoch bleibt ein sehr positiver Eindruck zurück, denn der Leser geht mit einem enormen Zuwachs an Wissen aus der Lektüre des Romans hervor - sowohl, was die Situation ausgebeuteter Arbeiter in den Fabriken und von Halbpächtern im Weinanbau und in der Landwirtschaft als auch den Faschismus unter Mussolini betrifft. Viele Orte und Personen sind echt, und die beschriebenen Ereignisse, z.B. den Überfall auf die Druckerei und das Massaker an den Partisanen hat es wirklich gegeben. Besonders beeindruckt hat mich der letzte Teil des Romans, der den verlustreichen Kampf der Partisanen in der Resistenza zeigt. Der deutsche Titel macht insofern Sinn, als “Bella Ciao“ das berühmte italienische Partisanenlied aus dem Zweiten Weltkrieg war, das als Kampflied von Revolutionären aller Art überlebt hat. Es gibt viele Tote im Roman, aber dennoch auch tröstliche Botschaften: Familie ist wichtig, denn gerade in schwierigen Zeiten muss man füreinander da sein. Die Vergangenheit gibt es nicht, denn man muss nach vorn schauen. Leben heißt gehen. Eventuell darf man allerdings zurückkehren so wie Giulia, die sich auch zukünftige Begegnungen ihres Sohnes und seiner Familie mit den Menschen in Borgo di Dentro vorstellen kann.
Der Roman ist keine einfache Lektüre, aber absolut lohnend, wenn man sich erst einmal darauf einlässt.

Bewertung vom 10.03.2019
Rückwärtswalzer
Kaiser, Vea

Rückwärtswalzer


sehr gut

Rituale für die Manen
In “Rückwärtswalzer“, Vea Kaisers dritten Roman, steht die Familie Prischinger im Mittelpunkt. In dem kunstvoll komponierten Roman wird kapitelweise wechselnd die Geschichte der Familie erzählt, beginnend im Jahr 1953, als die Russen die Gastwirtschaft im Waldviertel besetzt hatten und die Mutter mit den fünf Kindern auf engstem Raum lebte und sie alle Hunger litten. Der Roman setzt mit der zweiten Erzählebene in der Gegenwart ein, wo der erfolglose Schauspieler Lorenz Prischinger wieder einmal seine drei Tanten und seinen Onkel Willi anbettelt, weil er finanziell am Ende ist. Alle leben inzwischen in Wien: die Schwestern Mirl, Wetti und Hedi mit ihrem Partner Willi, der eigentlich Koviljo Markovic heißt und aus Montenegro stammt. Dann stirbt Onkel Willi plötzlich. Es war sein Wunsch, in Montenegro begraben zu werden. Da kein Geld mehr vorhanden ist, beschließen die drei Tanten eine illegale Überführung im Panda mit Lorenz als Fahrer über eine Distanz von 1029 km. Dabei kommt es zu allerhand Komplikationen.
Die Geschichte ist eine sehr gut lesbarere Road Novel, wobei in den Rückblenden die Vergangenheit nachgeholt wird, Geheimnisse ans Licht kommen und auch die Schwestern Dinge erfahren, von denen sie nichts wussten. Auch der Leser muss fast bis zum Ende des Romans warten, bis er erfährt, wie der kleine Bruder Nenerl, Zwillingsbruder von Hedi, ums Leben kam, an dessen Tod sich die drei Schwestern die Schuld geben, ohne diese Tragödie jemals durch Gespräche aufzuarbeiten.
Man könnte meinen, dass die Überführung einer Leiche eine sehr traurige Geschichte ist, aber der Autorin gelingt es, sie mit viel Humor zu erzählen. Die drei Tanten sitzen zum Beispiel dick vermummt und zusammengedrängt auf dem Rücksitz, während die Klimaanlage auf Hochtouren läuft und der zunächst tiefgefrorene Willi geschminkt mit Sonnenbrille und Kappe auf dem Beifahrersitz thront und immer stärker riecht. Am Ende ist es eine berührende Geschichte, wie die Schwestern trotz aller Differenzen zusammenhalten, wenn es darauf ankommt und ihnen die Wünsche des Verstorbenen wichtiger sind als das Gesetz. Der Geist des Toten beeinflusst die Hinterbliebenen, indem er ihnen neue Wege aufzeigt. Das Leben geht weiter, auch für Lorenz, der die Ratschläge des geliebten Onkels beherzigt, denn “… auch diejenigen, die nicht mehr waren, blieben dabei. Solange man auf sie hörte.“ (S. 419). Ein sehr empfehlenswerter Roman.

Bewertung vom 08.03.2019
Das Echo der Wahrheit
Chirovici, Eugene

Das Echo der Wahrheit


gut

Facetten der Wahrheit
Mit “Das Echo der Wahrheit“ legt Eugene Chirovici seinen zweiten Roman nach dem auch von mir sehr geschätzten Welterfolg “Das Buch der Spiegel“ vor.
Ein todkranker alter Mann nimmt Kontakt zu dem bekannten Psychiater Dr. James Cobb auf, der auf Therapien unter dem Einsatz von Hypnose spezialisiert ist. Der reiche Philanthrop bittet ihn, ihm dabei zu helfen, endlich herauszufinden, was etwa 40 Jahre zuvor in einem Hotel in Paris geschah, wo sich der junge Mann mit seinem Freund Abraham Hale aufgehalten hatte. Beide waren damals in die schöne Französin Simone Duchamp verliebt. Nach reichlichem Alkoholkonsum sieht Joshua am nächsten Morgen die Leiche der jungen Frau, die – noch ehe er sie verstecken kann – spurlos verschwindet. Der alte Mann hat sich sein Leben lang mit der Frage gequält, ob er die junge Frau getötet haben könnte oder in irgendeiner Weise an ihrem Tod beteiligt war. Zwei Therapiesitzungen unter Hypnose bringen keine wesentlichen Erkenntnisse, und wenig später ist der Patient tot. Der Psychiater kämpft selbst mit einer unverarbeiteten Geschichte: Er hatte eine verbotene Affaire mit seiner Patientin Julie, die später Selbstmord beging, was ihm eine Menge Ärger einbrachte. James Cobb möchte unbedingt herausfinden, was damals in Paris geschah, engagiert von seinem üppigen Honorar den Privatdetektiv Mallory und geht später selbst den Hinweisen in Frankreich nach, indem er Zeugen und Freundinnen von Simone und ihrer Schwester befragt.
Was dabei herauskommt, ist eine immer verworrener werdende Geschichte mit einer stetig wachsenden Zahl von Beteiligten und einer unerwarteten Auflösung. Nicht alle Wendungen im komplizierten Plot wirken dabei plausibel, vor allem nicht der Schluss. Thematisch erinnert der Roman in mancher Hinsicht an “Das Buch der Spiegel“. Es geht wieder um die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, um Wahrheit und Fiktion und die Frage, ob es nicht für jeden eine eigene Wahrheit und Realität gibt – auch ohne dass jemand bewusst lügt. Der Roman liest sich anfangs nicht schlecht, wirkt aber vor allem im letzten Drittel zunehmend konstruiert und wirr. Nur der Psychiater setzt am Ende die Erkenntnis um, dass jeder Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss. Für mich war das Buch insgesamt etwas enttäuschend nach den hohen Erwartungen, die “Das Buch der Spiegel“ geweckt hat.

Bewertung vom 08.03.2019
Die Liebe im Ernstfall
Krien, Daniela

Die Liebe im Ernstfall


sehr gut

Liebe währt nicht ewig
"Die Liebe im Ernstfall“ ist Daniela Kriens zweiter Roman nach ihrem viel beachteten Debüt “Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ und einem Band mit 10 Erzählungen aus dem Jahr 2014. In ihrem neuen Roman erzählen fünf Frauen aus wechselnder Perspektive aus ihrem Leben. Es sind Paula, die Buchhändlerin, Judith, die Ärztin, die Schriftstellerin Brida, die Musiklehrerin Malika und ihre Schwester Jorinde, die Schauspielerin. Die fünf Abschnitte werden nicht unverbunden aneinander gereiht, sondern es gibt vielfältige Verknüpfungen. Sie sind ein Leben lang Freundinnen wie Paula und Judith oder Rivalinnen um die Liebe eines Mannes wie Malika und Brida oder konkurrieren um die Liebe der Eltern. Es ist ein realistisches Bild der Beziehungen zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern und von Geschwistern unter einander. Wie im wirklichen Leben gibt es kein Happy End. Liebesbeziehungen dauern unterschiedlich lang. Sie werden beendet, wenn sich einer der Partner neu orientiert oder gar nur mit Hilfe des Internets flüchtige Kontakte sucht, die zu nichts verpflichten. Wenn eine Beziehung hält wie die Ehe von Malikas und Jorindes Eltern Vicky und Helmut, dann nicht, weil sie besonders glücklich ist, sondern weil einer der Partner resigniert und wegschaut. Die Autorin zeichnet kein übertrieben pessimistisches Bild, sie beschreibt einfach nur, wie es ist, ohne Sentimentalität.
Sprachlich ist der Roman sehr gelungen. Er ist anders als ihr erster. Wiedervereinigung und Westorientierung der Bewohner der neuen Bundesländer kommen zur Sprache, spielen aber nicht dieselbe tragende Rolle. Alles in allem ein empfehlenswertes Buch.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.02.2019
Worauf wir hoffen
Mirza, Fatima Farheen

Worauf wir hoffen


sehr gut

Wo ist zu Hause?
Fatima Farheen Mirzas Debütroman “Worauf wir hoffen“ erzählt von einer muslimischen Familie in Kalifornien. Die Eltern Rafiq und Laila stammen aus Indien und stellen die erste Einwanderergeneration dar. Sie haben drei Kinder: die Töchter Hadia und Huda und den Sohn Amar. Die Eltern sind sehr religiös und setzen in ihrem Leben in der muslimischen Gemeinde die Überzeugungen und Glaubensvorschriften gewissenhaft um. Bei den Töchtern funktioniert das lange Zeit gut. Nur der Sohn ist von Anfang an schwierig und rebellisch, gerät immer wieder in Konflikte in der Schule und mit dem strengen Vater. Später wird Amar sagen, dass er sich in dieser Familie nie zu Hause gefühlt hat. Die Mutter liebt ihren Jüngsten über alles und versucht auszugleichen.
Der Roman beginnt mit der Hochzeit der Ältesten, die entgegen der Tradition keine arrangierte Ehe eingeht, sondern ihren Partner selbst ausgesucht hat. Sie hat ihren Bruder Amar eingeladen, der drei Jahre zuvor die Familie nach einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Vater verlassen hat. Am Hochzeitstag sieht er Amira Ali, die Liebe seines Lebens wieder, und es kommt erneut zum Bruch, weil er vom Verrat seiner Mutter erfährt.
Die Autorin wählt eine sehr komplexe Romanstruktur, die für den Leser manchmal verwirrend ist. Sie erzählt die Familiengeschichte nicht linear, sondern mit ständigen Perspektivwechseln und Zeitsprüngen, wobei sie mal weit zu den Anfängen in Indien zurückgeht, dann wieder eine zukünftige Entwicklung beschreibt, wo Hadia und ihre Kollegen den an einem Hirntumor leidenden Vater behandeln. Es gibt kein Happy End in dieser Geschichte, aber sie endet dennoch versöhnlich, weil der Vater am Ende begreift, dass er den Vorschriften des Glaubens nicht immer oberste Priorität hätte einräumen dürfen, sondern dem Sohn auch mit Liebe und Mitmenschlichkeit hätte begegnen müssen.
Die Autorin spricht viele Themen an, die ihre eigenen Erfahrungen spiegeln: Inwieweit müssen sich Einwanderer assimilieren? Können sie nach 9/11 in einer westlichen Zivilisation noch demonstrativ ihren muslimischen Glauben leben? Wie löst die nächste Generation den Konflikt zwischen den überkommenen Traditionen, dem gebotenen Respekt gegenüber den Eltern und der Rücksicht auf das Ansehen in der Gemeinschaft einerseits und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben andererseits? Mirza zeigt, wie schwer es vor allem Mädchen haben, weil sie durch Glaubens- und Verhaltensvorschriften noch viel stärker eingeschränkt sind als Jungen.
Mir hat der Roman gefallen, obwohl er sich wegen der beschriebenen Struktur, vor allem aber durch das Porträt einer von tiefer Frömmigkeit geprägten Lebensart nicht gerade mühelos liest. Die unzähligen nicht übersetzten religiösen Begriffe machen es nicht einfacher, diese fremde Welt zu verstehen, aber die Anstrengung lohnt sich.

Bewertung vom 10.02.2019
Die zehn Lieben des Nishino
Kawakami, Hiromi

Die zehn Lieben des Nishino


gut

Warum gibt es so unendlich viele Frauen in einer unendlichen Welt?
In Hiromi Kawakamis neuem Roman “Die zehn Lieben des Nishino“ erzählen zehn Frauen jeweils aus ihrer Perspektive von ihrer Beziehung zu Yukihiko Nishino. Von frühester Jugend an hat der charmante Nishino großen Erfolg bei Frauen. Keine kann ihm widerstehen, egal ob jünger oder älter, verheiratet oder in einer Beziehung zu einer Frau. Die meisten dieser Affairen halten nicht lang, und oft sind es die Frauen, die sich zurückziehen. Sie spüren, dass der Frauenheld Nishino unfähig ist wahrhaft zu lieben und gehen auf Distanz, bevor sie sich zu sehr verlieben und riskieren, verletzt zu werden. Nishino ist zwar überaus höflich und korrekt, aber nicht warmherzig oder zu Empathie fähig. Von ihm geht eine spürbare Kälte aus, manchmal auch Grausamkeit und Härte. Er ist nie treu und bemüht sich nicht einmal, seine zahllosen Affairen geheim zu halten. Einzig sein fast inzestuöses Verhältnis zu seiner 12 Jahre älteren Schwester, die Selbstmord beging, war inniger und hat ihn sein Leben lang geprägt.
Mir hat der neue Roman von Kawakami nicht so gut gefallen wie frühere, z.B. “Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“. Die Sammlung von zehn nicht chronologisch erzählten Episoden berührt nicht – zu flüchtig und teilweise zu oberflächlich sind die dargestellten Liebesgeschichten. Liebe ist ein äußerst vergängliches Phänomen, zum Teil auch für die Frauen, die nicht Opfer sind, sondern häufig selbst sehr direkt die Initiative für sexuelle Kontakte ergreifen. Will die Autorin ein Porträt der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft zeichnen? Manchmal kommt es mir so vor. Jedenfalls ist der kurze, schnell zu lesende Romane in jeder anderen Hinsicht charakterisiert von japanischem Ambiente, was Lebensweise, Mentalität, Speisen und Getränke und die Wohnsituation betrifft. Ein interessanter, aber nicht mitreißender Roman.

Bewertung vom 20.01.2019
Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2
Lemaître, Pierre

Die Farben des Feuers / Die Kinder der Katastrophe Bd.2


ausgezeichnet

Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird
Pierre Lemaitres Roman “Die Farben des Feuers“ stellt die Fortsetzung des hochgelobten und 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten ersten Teils “Wir sehen uns dort oben“ dar und behandelt die ausgehenden 20er und beginnenden 30er Jahre. Auch im zweiten Band der geplanten Trilogie geht es um die Geschicke des Bankhauses Péricourt.
Die Handlung setzt im Jahr 1927 mit der Beisetzung des mächtigen Bankchefs Marcel Péricourt ein, an der alles teilnimmt, was in Politik und Wirtschaft Rang und Namen hat. Noch bevor sich der Leichenzug in Bewegung setzt, kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall. Péricourts Enkel, der 7jährige Paul, stürzt sich aus dem zweiten Stock seines Elternhauses und fällt auf den Sarg des Großvaters. Seine Mutter Madeleine wird sich lange Zeit darauf konzentrieren, ihr fortan gelähmtes Kind mit Hilfe eines polnischen Kindermädchens und ihrer Haushälterin Léonce zu umsorgen. Sie ist in keiner Weise qualifiziert, ein Bankimperium zu führen und vertraut blind den Menschen, die ihr nahestehen. Wie sie später feststellen muss, haben alle sie manipuliert und betrogen: der Prokurist Gustave Joubert, der nicht mehr als Heiratskandidat in Frage kommt, die schöne Léonce, die ihre eigenen Ziele verfolgt, Madeleines Geliebter André Delcourt, der Hauslehrer des kleinen Paul, der Karriere als Journalist und Schriftsteller machen will und nicht zuletzt ihr rachsüchtiger Onkel Charles, der ohne die massive finanzielle Unterstützung seines Bruders Marcel nie etwas zustande gebracht hat. Der Verrat dieser Menschen, führt sehr schnell zu Madeleines finanziellem Ruin und ihrem sozialen Abstieg. Doch ihrem Sohn zuliebe fängt sie sich und plant einen raffinierten Rachefeldzug, um ihre Gegner zu bestrafen und auszuschalten und selbst wieder auf eigenen Füßen zu stehen.
Lemaitre bietet dem Leser nicht nur eine spannende Familiengeschichte, sondern auch das gut recherchierte Porträt der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen. Er zeigt ein Land in der Krise, das sich noch nicht von den Folgen des Krieges erholt hat, in den Fängen von allgegenwärtiger Korruption und einer Steuerflucht von immensem Ausmaß, während es angesichts der Steuerforderungen des Staates gegenüber den weniger begüterten Schichten fast zu einem Volksaufstand kommt. Sehr gelungen ist auch das satirische Porträt einer käuflichen Presse, die nicht informiert, sondern bezahlte Meinungen druckt. Der Autor verdeutlicht den heraufziehenden Faschismus in den Nachbarländern ebenso wie die Gefahr des nächsten drohenden Krieges. Lemaitre schreibt jedoch kein trockenes Geschichtsbuch, sondern eine überaus lebendige Geschichte mit Ironie und Humor, in der er den Leser häufiger direkt anspricht und so zum Komplizen macht. Sehr witzig ist zum Beispiel die Beschreibung von Charles Zwillingstöchtern Rose und Jacinthe, die so entsetzliche Zähne haben und auch sonst dermaßen unansehnlich sind, dass sie ohne eine riesige Mitgift keine Ehepartner finden werden (S. 25). Lemaitres Roman ist raffiniert konstruiert, aber wegen der Personenvielfalt und des komplizierten, sich über lange Zeiträume erstreckenden Rachefeldzugs nicht ganz mühelos zu lesen. Mich hat der interessante, mit Gusto geschriebene Roman sehr gut unterhalten.