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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 29.11.2021
Das Talent
Grisham, John

Das Talent


sehr gut

Wie so viele Amerikaner hat John Grisham eine besondere Beziehung zum Sport. Football, Baseball und Basketball sind die drei Sportarten, denen in den Vereinigten Staaten das Interesse der Öffentlichkeit gilt, und er versucht sich als Heranwachsender in allen dreien, allerdings mit mäßigem Erfolg. Bis zum College spielt er aktiv Baseball, trainiert später seinen Sohn und lässt auf seinem Grundstück sechs Spielfelder errichten, die 26 Teams der Little League als Trainingsgelände dienen.

Für eine Profi-Karriere hat es Grisham glücklicherweise nicht gereicht, denn sonst würde er uns sicher nicht mit seinen regelmäßig erscheinenden Justizthrillern unterhalten. Aber auch ein Autor braucht in der Themenwahl manchmal Abwechslung, und so unternimmt er ab und an einen Ausflug in die Welt des Sports. Bisher gibt es aus seiner Feder den Baseball-Roman „Home Run“ sowie die beiden Football-Romane „Touchdown“ und „Der Coach“, alle drei sehr realitätsnah und empfehlenswert für Leser*innen, die sich für diese Sportarten interessieren.

Nun also „Das Talent“, ein Roman aus dem Basketball-Milieu, der den Werdegang des fiktiven südsudanesischen Basketball-Spielers Samuel „Sooley“ Sooleyman beschreibt, der seinen Traum von der Profi-Laufbahn in die Realität umzusetzen möchte. Und dafür gibt er alles, verlässt seine Familie und seine Heimat. Unterstützt wird er dabei von einem Talentscout, der ihn motiviert, unterstützt, an ihn glaubt, und ihn trotz mäßiger Leistung zu einem Show-Turnier mit in die USA nimmt, bei dem die Talentsucher der Colleges auf der Tribüne sitzen. Während seine Karriere Fahrt aufnimmt, erreichen ihn schlimme Nachrichten aus dem Sudan. Sein Heimatdorf wurde überfallen und niedergebrannt, seine Familie ist auf der Flucht Richtung Uganda. Jetzt kann nur noch ein Wunder helfen, und Sooley hat es in der Hand. Er muss einen ordentlichen Batzen Geld verdienen, damit er sie in die USA holen kann.

Um Freunde an diesem Roman zu haben, sollte man schon ein gewisses Maß an Kenntnis und Interesse für Basketball mitbringen, denn Grisham verwendet zum einen immer wieder Fachbegriffe, zum anderen kommentiert er die Spiele im knappen Stil eines Sportreporters. Ansonsten liefert er genau das, was wir auch von seinen Thrillern gewohnt sind: kurze Kapitel, gute Charakterisierungen, eine ordentliche Portion Drama und ein Ende, das zu Herzen geht. Dazu jede Menge Hintergrundinformationen zur politischen Lage im Sudan.

Ein Roman, der von der Liebe des Autors zu diesem Sport zeugt und das ideale Geschenk für alle ist, die eine Affinität für Basketball haben.

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Bewertung vom 29.11.2021
606
Fox, Candice

606


weniger gut

Ein Hochsicherheitsgefängnis in der Wüste von Nevada, ein gekaperter Besucherbus in Sichtweite, in dem sich die Angehörigen der Wärter befinden, die das alljährliche Softballspiel zwischen Gefangenen und Wärtern anschauen wollen. Die Forderung der Geiselnehmer: Freilassung aller Gefangenen. Vier Minuten Zeit für die Entscheidungsträger. Die Zellentüren öffnen sich, und 606 Schwerverbrecher, inklusive der Insassen des Todestrakts, strömen ins Freie…und die Jagd beginnt.

Könnte spannend werden, tut es aber nicht. Bereits nach relativ kurzer Zeit sind mehr als die Hälfte der Flüchtigen bereits wieder festgesetzt, und was dann folgt, ist ein lustlos runtergeschriebenes Zuständigkeitsgeplänkel zwischen Trinity Parker, US-Marshall vor Ort und Celine Osbourne, der Verantwortlichen für die Hinrichtungskandidaten, wobei letztere einen Narren an dem Häftling John Kradle gefressen hat, dessen Unschuldsbeteuerungen sie zu keinem Zeitpunkt geglaubt hat.

606 Flüchtige: Mörder, Serienkiller, Terroristen, Neonazis, alles vorhanden, was man erwartet. Allianzen, die geschlossen werden. 606 Schicksale, die es wert wären, einen Blick darauf zu werfen, aber es sind noch nicht einmal eine Handvoll, auf die sich die Autorin konzentriert, und das dann auch noch höchst oberflächlich. Das ist weder spannend noch interessant und zieht sich bei knapp 470 Seiten wie Kaugummi, zumal alle Beteiligten dermaßen flach charakterisiert sind, dass man als Leser mit niemandem mitfiebert, niemandem wünscht, seine Flucht möge gelingen.

Die Story ist langatmig, plätschert vor sich hin, voller Seitenfüller, die nichts zur Handlung beitragen, die Dialoge auf Kindergarten-Niveau - vielleicht hätte sich die Autorin vor dem Schreiben „Flucht in Ketten“ mit Sidney Poitier und Tony Curtis anschauen sollen, denn hier hätte sie in Sachen Dramaturgie mit Sicherheit etwas lernen können.

Für mich ein weiterer Flop einer gnadenlos überschätzten Autorin.

Bewertung vom 27.11.2021
Stadt der Mörder / Kommissar Julien Vioric Bd.1
Habekost, Britta

Stadt der Mörder / Kommissar Julien Vioric Bd.1


ausgezeichnet

„Stadt der Mörder“ ist ein außergewöhnlicher historischer Kriminalroman, der sich deutlich von dem unterscheidet, was man üblicherweise in diesem Genre geboten bekommt. Handlungsort ist Paris in den zwanziger Jahren. Der Krieg ist längst zu Ende, die Menschen richten sich wieder in ihrer Normalität ein. Aber nicht alle können das Erlebte vergessen, zu tief sind die Wunden, die der Krieg geschlagen hat. Bilder von zerfetzten Kameraden auf den Schlachtfeldern, das Wissen, gerade noch einmal davongekommen zu sein, all das hat sich tief in die Seelen der Überlebenden eingebrannt. Aber das Leben geht weiter…

Lysanne, eine junge Frau vom Land, sucht nach ihrer Schwester, die vor vier Jahren spurlos verschwunden ist. Naiv und ohne einen Franc in der Tasche, überwältigt von all den Eindrücken, die die glamouröse Metropole an der Seine ihr vermittelt, scheint sie für die Opferrolle geradezu prädestiniert zu sein.

Julien Vioric, Lieutenant der Kriminalpolizei, hat die Schrecken des Krieges zwar überlebt, aber die Verluste in seinem persönlichen Umfeld machen ihm noch immer zu schaffen. Und auch sein aktueller Fall bringt ihn bis an die Grenze des Erträglichen. Am Place du Panthéon wird die brutal verstümmelte Leiche eines jungen Mannes gefunden, das erste Opfer in einer Reihe grausamer Morde, verübt von einem entfesselten und äußerst brutalen Täter.

Im Laufe seiner Ermittlungen verdichten sich für Vioric die Hinweise, dass der Täter aus den Reihen der Surrealisten kommen könnte, einer buntgemischten, anarchistischen Gruppe, in deren Reihen Schriftsteller, Maler und bildende Künstler zu finden sind. Sie lehnen die Werte der Bourgeoisie ab und propagieren eine neue Sicht auf die Welt, damit sich ein Ereignis wie der Erste Weltkrieg nicht wiederholt.

Und ab hier wird es richtig interessant. Zum einen kreuzen sich hier die Wege des Ermittlers und Lysanne, die sich mittlerweile in deren Umfeld bewegt, zum anderen beschreibt die Autorin diesen elitären Zirkel sehr detailliert und macht uns mit den real existierenden Vertretern (Breton, Aragon etc.) und deren Gedankengut bekannt. Und dann taucht auch noch in einem Antiquariat ein Werk auf, das der Handlung eine neue Wendung gibt und alle Konventionen sprengt: „Die Gesänge des Maldoror“.

Eine melancholische Grundstimmung, düstere Bilder, stimmige Atmosphäre, destaillierte Hintergrundinformationen, interessantes Personentableau, all das zu einer vielschichtigen Krimihandlung verwoben. Lebendig und gleichzeitig poetisch erzählt. „A diamond in the rough“ im Meer der historischen Krimis. Lesen!

Bewertung vom 25.11.2021
Hier geht's lang!
Heidenreich, Elke

Hier geht's lang!


sehr gut

Wie bereits in „Männer in Kamelhaarmänteln“ begibt sich Elke Heidenreich in „Hier geht’s lang“ auf eine Reise in ihre persönliche Vergangenheit. Dabei richtet sie den Fokus auf ihre Leseerfahrungen, im Speziellen auf die Bücher von Autorinnen, die sie durch ihr Leben begleitet und Spuren hinterlassen haben, wobei diese Einordnung natürlich aus Sicht der erwachsenen Leserin erfolgt.

In jungen Jahren helfen ihr die typischen Mädchenbücher, das triste Leben ihrer Nachkriegskindheit zu ertragen, die Jugendliche liest die Schmonzetten von Anne Golon, es folgen Sagan und Colette. Aber es gibt auch Lehrerinnen, die sie zur Literatur hinführen. Natürlich sind das meist Autoren, eine Erfahrung, die sie auch während ihres Germanistik-Studiums macht. Deren männliche Sicht auf das Leben, die Gefühle und die Welt bieten allerdings wenig Raum für Frauen, die auf der Suche nach ihrem eigenen Weg sind, haben nichts mit deren Realität zu tun. Aber glücklicherweise gibt es genügend Autorinnen, die diese Leerstellen füllen können. Autorinnen und ihre Bücher, die Denkprozesse anstoßen, zur Reflexion anregen, sie ermuntern, Dinge nicht als gegeben hinzunehmen sondern zu hinterfragen. Die Lust am Lesen hat Heidenreich ihr gesamtes Leben begleitet, wobei ihr auch immer daran gelegen war/ist, diese bei ihren Mitmenschen zu entfachen, eine Vorstellung von den Welten zu vermitteln, die sich zwischen zwei Buchdeckeln verbergen können.

Heidenreich schreibt über ihre Liebe zur Literatur, über Bücher, die den Horizont erweitern, Denkanstöße geben, alternative Lebensentwürfe aufzeigen und die Selbstfindung unterstützen. Ob diese nun von Autorinnen oder Autoren stammen, ist meiner Meinung nach nicht von Bedeutung, denn schlussendlich kommt es immer darauf an, was man selbst aus der Lektüre mitnimmt.

Bewertung vom 24.11.2021
Goldenes Gift / Xavier Kieffer Bd.7
Hillenbrand, Tom

Goldenes Gift / Xavier Kieffer Bd.7


sehr gut

Wenn man einem Autor bescheinigt, dass seine Kriminalromane informativ sind, ist das wahrscheinlich nicht das Erste, was er hören möchte. Im Fall von Tom Hillenbrand gehe ich aber davon aus, dass diese Einschätzung nicht unbedingt zutrifft, beschäftigt sich der gelernte Journalist doch in seiner Xavier Kieffer-Reihe ausnahmslos in jedem Band mit den dunklen Seiten der Lebensmittelerzeugung. Den stärksten Eindruck hat bisher „Tödliche Oliven“ bei mir hinterlassen, mit der Konsequenz, dass wir seither unser Olivenöl ausschließlich direkt von einem spanischen Bauern beziehen.

In „Goldenes Gift“ rückt Honig in den Mittelpunkt, ein Lebensmittel, das ich bereits seit einigen Jahren mit Argwohn betrachte. Man schaue sich nur einmal die Herkunftsbezeichnungen der üblichen Supermarktprodukte an. Üblicherweise bestehen diese Honige aus Mischungen. Südamerika, China, EU- und Nicht-EU, eine dubiose Melange, die weder die Qualität noch die Herkunft im Detail für den Endverbraucher nachvollziehbar macht. Anders bei unserem westlichen Nachbarn Frankreich. Dort findet man kaum diese dubiosen Produkte, die unsere Regale beherrschten, dafür aber eine große Auswahl von Miel de Apiculture (Imkerei-Honig), auf den Etiketten versehen mit Namen der französischen Imkerei, konkreter Herkunft sowie Sortenbezeichnung.

Die Krimistory war für mich eher nebensächlich, ist zwar unterhaltsam, aber nur mäßig spannend: Dass Bienenstöcke nicht nur auf dem Land sondern mittlerweile auch in den Städten verteilt sind, ist bekannt. So lässt auch Xavier Kieffer, der luxemburgische Sternekoch, seinen eigenen Honig produzieren. Als der Imker, der die Beuten betreut, tot aufgefunden wird, gehen bei ihm die Alarmlichter an. Zumal auch seine Freundin Valérie, momentan unterwegs in Kalifornien, ihm von seltsamen Vorkommnissen auf einer Mandelplantage berichtet. Als dann auch noch im gesamten Stadtgebiet nach und nach Bienenstöcke verschwinden, erwacht Kieffers kriminalistisches Interesse. Und nachdem seine Freundin zurück ist, gehen die beiden der Sache auf den Grund. Nicht ahnend, dass sie damit in das sprichwörtliche Wespennest stechen.

Die Defizite des Plots werden allerdings durch die akribisch eingearbeiteten Informationen rund um das „Goldene Gift“ wettgemacht. Nachdem man das Buch zuklappt, ist man bestens informiert über die kriminellen Machenschaften der Honigindustrie: Colony Collapse Disorder, heißt das Verschwinden ganzer Bienenvölker nach dem Einsatz von Pestiziden. CRISPR; der Einsatz von Gentechnik, um Resistenzen zu erzeugen. IER, Ion Exchange Resin, ein Verfahren, das den Nachweis von Fremdzucker im Honig schier unmöglich macht. Hintergrundinformationen zur Zucht von Killerbienen. Und nicht zuletzt das Transshipping zur Verschleierung der Herkunft.

Was lernen wir daraus? Am besten kauft man seinen Honig direkt bei einem vertrauenswürdigen Imker.

Bewertung vom 22.11.2021
Luftbrücke / Kommissar Oppenheimer Bd.6
Gilbers, Harald

Luftbrücke / Kommissar Oppenheimer Bd.6


ausgezeichnet

Sommer 1948. Deutschland ist in Zonen aufgeteilt, die Währungsreform ist nicht überall Grund zur Freude. Ost- und Westmark sind Geschichte, die Deutsche Mark ist nun das gültige Zahlungsmittel. Die Westmächte sind sich weitgehend einig, wenn es darum geht, Beschlüsse zu fassen und die Sowjets außen vor zu halten. Berlin bekommt das mit aller Härte zu spüren, da die Stadt nach Kriegsende unter den Siegern in vier Sektoren aufgeteilt wurde. Es drohen Konflikte, die einmal mehr auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen werden. Der Ärger über die neue Währung ist bei den sowjetischen Machthabern groß, und so machen sie kurzen Prozess. Berlin wird blockiert, die Verbindungen zur Trizone geschlossen, was die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern massiv gefährdet. Doch die Westalliierten halten dagegen und richten eine Luftbrücke ein, in der die benötigten Güter (Lebensmitteln, Steinkohle, Benzin und Diesel, Medikamente und weitere Bedarfsgüter) mit Flugzeugen in die Stadt transportiert werden.

Soweit der historische Hintergrund von „Luftbrücke“, Band 6 der Kommissar Oppenheimer-Reihe. Und wenn das nicht schon genug wäre, herrscht durch die Sektoreneinteilung und den aufziehenden „Kalten Krieg“ auch noch ein Zuständigkeitschaos innerhalb der Polizeibehörde, ein Umstand, den sich ein Mörder zunutze macht, der die Körperteile seiner Opfer in der gesamten Stadt verteilt. Die Ermittlungen für die Mordkommission gestalten sich schwierig, da die Zusammenarbeit zwischen den Polizeizentralen im Osten und Westen von oberster Stelle nicht gewünscht wird, obwohl genau das in diesem Fall sehr hilfreich wäre. Aber glücklicherweise hat Oppenheimer noch gute Kontakte zu früheren Kollegen, die er nutzen kann und die sich als äußerst hilfreich erweisen.

Wie bereits in den Vorgängern gelingt dem Autor auch hier der Spagat zwischen spannender Tätersuche, authentischem Lokalkolorit, historischer Genauigkeit und wohldosiertem Privatleben des Protagonisten. Ein rundum gelungener historischer Kriminalroman und eine Reihe, die ich gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 20.11.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


ausgezeichnet

In Deutschland sind Stand 2019 ca. 300.000 osteuropäische Pflegekräfte in Privathaushalten im Einsatz und betreuen dort, oft rund um die Uhr, pflegebedürftige Senioren. Eine Zahl, die wahrscheinlich in den kommenden Jahren weiter ansteigen wird, da sich viele Familien die kostspielige Unterbringung von Oma oder Opa in einem Pflegeheim nicht leisten können. Ein Problem, das sich quer durch Europa zieht.

Während es in Deutschland meist polnische Frauen sind, die diese Arbeit erledigen, kommt in Italien die Mehrzahl der Pflegerinnen aus Rumänien, ein Fakt, den der Mailänder Autor Marco Balzano seinem neuen Roman „Wenn ich wiederkomme“ zugrunde gelegt hat.

Was macht es mit einem Menschen, wenn er die Heimat verlassen muss? Und was macht es mit denen, die zurückbleiben? Das sind offenbar die elementaren Fragen, die Balzano umtreiben. War es in „Ich bleibe hier“ noch die Zwangsevakuierung, der sich die Protagonistin widersetzt, so steht nun Daniela, eine rumänische Ehefrau und Mutter vor dieser Entscheidung. Soll sie bleiben und ihre Familie weiter von der Hand in den Mund leben, oder wird sie in die Fremde gehen, um ihren Kindern eine finanziell gesicherte Zukunft und somit auch eine ordentliche Ausbildung bieten zu können? Sie entscheidet sich für letzteres, nicht ahnend, welche Konsequenzen es für sie und ihre Familie nach sich ziehen wird.

Von dem Vater ist keine Hilfe zu erwarten er ist kaum präsent, unzuverlässig. Fels in der Brandung ist Großvater Mihal, der sich rührend um Enkel und Enkelin kümmert. Er ist nach dem Weggang der Mutter die einzige Konstante, versucht den Kindern Stabilität zu geben, sorgt sich um sie. Doch dann stirbt er, und sein Verlust hat weitreichende Konsequenzen für die Zurückgebliebenen.

Es ist eine eindrücklich geschilderte Familiengeschichte, an der uns der Autor aus den verschiedenen Perspektiven (Mutter, Tochter, Sohn) teilhaben lässt. Eine Geschichte, die mit Sicherheit so immer wieder in den Familien der Arbeitsmigranten vorkommt und auch zukünftig vorkommen wird, vor allem dann, wenn man sich die Zahl vergegenwärtigt, die 2020 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde. Man geht von knapp 500.000 Pflegebedürftigen aus, die in Privathaushalten leben. Und mit zunehmender Überalterung der Gesellschaft wird diese Zahl weiter ansteigen. Eine Tatsache, die keine Pflegeversicherung auffangen kann, aber offenbar der Politik kein Kopfzerbrechen verursacht.

Bewertung vom 18.11.2021
Ein Cottage in Cornwall
Kabatek, Elisabeth

Ein Cottage in Cornwall


sehr gut

Das „Chaos in Cornwall“ hat sich mittlerweile gelichtet, Margarete “Maggie“ und Roland sind Geschichte. Die gestandene Ex-Pressefrau bei DEM schwäbischen Autobauer hat Reset gedrückt, ihre Zelte in der Landeshauptstadt abgebrochen und ist mit Sack und Pack nach Port Piran gezogen, sehnlichst erwartet von ihrer neuen Liebe Chris und hat „Ein Cottage in Cornwall“ bezogen, wobei dieses allerdings ein weitläufiger Bio-Bauernhof ist.

Schon klar, dass es Cornwall sein muss, denn die malerische Halbinsel im Südwesten Englands, die seit den Verfilmungen der Rosamunde Pilcher-Romane die Sehnsuchtsregion vieler England-Urlauber*innen ist, eignet sich bei weitem um ein Vielfaches besser für einen Unterhaltungsroman als das Industrierevier rund um Manchester. Und der Bio-Bauer ist natürlich nicht nur für Margarete sondern auch für die Story wesentlich attraktiver als ein langweiliger Lehrer oder Fabrikarbeiter.

So weit, so genretypisch, aber glücklicherweise beherrscht die Autorin ihr Metier und tappt nicht in die Schnulzenfalle. Ihre Charaktere sind weder oberflächlich noch eindimensional, zweifeln, haben Ecken und Kanten und müssen sich ihrer Verunsicherung stellen. Natürlich gibt es Zugeständnisse - man will die Leserschaft ja nicht verprellen - sodass das erwartete Happy End nicht ausbleibt. Aber nicht für alle.

Kabatek spielt mit Verschiedenheit der Mentalität, wobei sie hier - natürlich – nicht umhin kommt, in die Klischeekiste zu greifen. Die Engländer sind höflich, zurückhaltend, misstrauisch, unverbindlich und trinken ständig Tee, die Schwäbin hingegen schätzt Planung, Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit. Man erwartet förmlich, dass sie die Kehrwoch‘ in Port Piran einführt. Das große Plus sind die Dialoge, die zumindest in Maggies Fall wie aus dem Leben gegriffen daherkommen, wobei ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie sie die typisch schwäbischen Redewendungen ins Englische übersetzen konnte.

Ein unterhaltsamer Roman für zwischendurch, voller Situationskomik und mit Verständnis für kulturelle Unterschiede, der meine Erwartungen erfüllt hat.

Bewertung vom 17.11.2021
Diebe des Lichts
Blom, Philipp

Diebe des Lichts


ausgezeichnet

Lust auf einen Ausflug in die italienische Renaissance? Dann solltet ihr zu „Diebe des Lichts“ greifen, dem Roman des Historikers und Journalisten Philipp Blum, der es hier wie kein anderer versteht, diese Epoche zum Leben zu erwecken.

Begleiten wir Sander und Hugo, die beiden Brüder aus Flandern, die bei einer Vergeltungsaktion der spanischen Besatzer miterleben, wie ihr Vater abgeschlachtet und ihr Gehöft niedergebrannt wird. Ein Wendepunkt in ihrem Leben, denn nun müssen sie für sich selber sorgen. Sie verlassen ihre Heimat auf der Suche nach einem Neuanfang. Ein Maler hat Mitleid, bildet Sander in der Kunst des Blumenmalens aus und lehrt dessen Bruder das Farbenmischen. Hugo verschließt sich, spricht nicht mehr, vergräbt die Wut über das Erlebte tief in seinem Inneren, doch sein Jähzorn bricht sich immer wieder Bahn und ist schließlich auch dafür verantwortlich, dass die Brüder einmal mehr gewohntes Terrain verlassen müssen. Ihr Weg führt sie nach Italien. Rom, Neapel und Palermo sind die Stationen ihrer nicht immer freiwilligen Reise, auf der Sander seine Fähigkeiten komplettiert und als Maler zu Ansehen gelangt. Hugo hingegen mischt tagsüber weiter die Farben und kämpft in der Nacht mit seinen Dämonen. Aber es kommt der Tag, an dem auch Sander zwischen die Fronten gerät und sich entscheiden muss…

Philipp Blom zeichnet in üppigen Farben zum einen das Gemälde einer Zeit, die von politischen und religiösen Konflikten geprägt ist, zum anderen aber auch das Bild einer zerissenen Gesellschaft. Hier Adel, Kirche und deren Günstlinge, dort das einfache Volk, das von der Hand in den Mund lebt. Intrigen und Verschwörungen prägen diese Zeit, die Verfolgung Andersdenkender ist eher die Regel als die Ausnahme. Die kirchliche Obrigkeit bestraft erbarmungslos jeden, der aus der Reihe tanzt. Man nennt sie Ketzer, die klugen Köpfe aus Dichtung, Kunst, Wissenschaft. Giordano Bruno, Caravaggio, Galileo Galilei, man kennt die Namen, weiß um deren Schicksal. Die Inquisition macht vor niemandem Halt. Kerker und/oder Verbannung sind noch die harmlosesten Strafen, der Tod auf dem Scheiterhaufen erfreut nicht nur die Kirchenoberen sondern bietet auch dem Pöbel Abwechslung aus dem freudlosen Alltag.

Ein gut recherchierter historischer Roman, dessen sprachliche Qualität weit über dem Durchschnitt dessen liegt, was man üblicherweise in diesem Genre erwarten darf. Sehr empfehlenswert!

Bewertung vom 16.11.2021
Das Haus in der Half Moon Street / Leo Stanhope Bd.1
Reeve, Alex

Das Haus in der Half Moon Street / Leo Stanhope Bd.1


gut

Historische Kriminalromane gibt es wie Sand am Meer. Und auch die Verortung von Zeit und Raum, heißt das Viktorianische Zeitalter und London, ist kein Alleinstellungsmerkmal. Sie sind mal mehr, mal weniger gelungen, was meist darin begründet ist, ob es dem/der Autor*in gelingt, die gesellschaftliche Realität sowie den etablierten strengen Moralkodex dieser Zeit zu transportieren. Oft beschränkt sich dies auf wabernde Nebel, die sich im Schein der Gaslaternen vom Themse-Ufer aus ausbreiten und über das Kopfsteinpflaster der Elendsviertel legen.

Glücklicherweise verzichtet Alex Reeve in seinem Erstling „Das Haus in der Half Moon Street“ auf die Nebelschleier, verharrt aber dennoch weitestgehend in den gängigen Narrativen dieses Genres. Die Quartiere sind trostlos, die Lebensbedingungen im Bauch der Metropole von ständigen Existenznöten geprägt, speziell für die Frauen, die oft keinen anderen Ausweg als die Prostitution sehen, um zu überleben. Oder auch nicht, denn viele verrecken elendig auf dem Küchentisch einer Engelmacherin.

Doch es gibt etwas Neues, nämlich die Hauptfigur, Leo Stanhope. Geboren als Charlotte, Tochter eines Landpfarrers, früh wissend, dass sein Geschlecht nicht seiner Identität entspricht, hat er sich auf den Weg in die Metropole gemacht und arbeitet nun als Assistent in der Londoner Gerichtsmedizin, immer bemüht, sein Geheimnis zu bewahren. Einzige Vertraute ist Maria, eine junge Frau, die als Prostituierte arbeitet und in die er verliebt ist. Als sie tot aufgefunden wird, scheint er zunächst der einzige Verdächtige zu sein, was schließlich mit seiner Verhaftung endet. Doch hinter den Kulissen werden die Fäden gezogen, Leo kommt frei und setzt alles daran, den wahren Mörder seiner großen Liebe in einer Welt voller Lügen zu finden, ohne das Geheimnis seiner Identität zu verraten.

Aus diesen Gegebenheiten hätte man einen interessanten Kriminalroman entwickeln können. Hätte…hat man aber nicht. Die Story bleibt über weite Strecken diffus, angefüllt mich Nebensächlichkeiten, die Charakterzeichnungen überzeugen allesamt nicht. Der Zwiespalt, in dem sich Leo befindet, wird lediglich an körperlichen Merkmalen festgemacht, und zwar so, als ob dies alles wäre, was Transgender-Personen beschäftigt. Das hätte man durchaus differenzierter darstellen können und sollen. Man spürt zwar die Unsicherheit des Protagonisten, aber dessen ständiges Zaudern, sein Klagen zieht die Handlung über Gebühr in die Länge, ohne für einen Fortschritt zu sorgen, und zwar in jeder Hinsicht, insbesondere was die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur angeht. Aber vielleicht tut sich in dieser Richtung ja etwas in dem Nachfolgeband „Der Mord in der Rose Street“, der im Mai 2022 erscheinen wird.